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Samstag, 23. Juni 4. Liv, nachmittags
ОглавлениеNach endlosen, nervtötenden Stunden im Stau traf Liv in Hamburg ein. Zum Glück waren im Hotel Gastwerk Hunde erlaubt. So konnte sie direkt da einchecken, wo sich die alte Clique treffen wollte.
Liv parkte ihren Kombi auf dem Parkplatz neben dem Haupteingang und streckte sich. Im Kofferraum bellte Frieda auffordernd. Auch sie schien genug vom Autofahren zu haben. Liv ließ den Hund raus, schnappte sich ihre grellorange Reisetasche, und gemeinsam gingen sie zur Rezeption. Das Hotel befand sich in einem ehemaligen Gaswerk und war aufwändig mit Stahl und Glas in das alte Gemäuer integriert worden. Die historischen Backsteine ließen den kühlen Industriebau dennoch warm und gemütlich wirken. Teppiche dämpften den Hall der loftartigen Raumgestaltung.
»Guten Tag, Liv Mika mit Hund. Ich hatte eine Juniorsuite reserviert«, begrüßte Liv die Rezeptionistin und hoffte, dass es keine Probleme wegen Frieda geben würde. Manchmal verweigerten Hotels ihr ein Zimmer, wenn sie sahen, dass der mitgeführte Hund weder ein Chihuahua noch ein Mops war.
»Herzlich willkommen im Gastwerk«, begrüßte sie die junge Frau, deren Namensschild sie als »Hanni« auswies und ihr mit Hilfe kleiner aufgedruckter Flaggen vier Fremdsprachen bescheinigte.
Liv widerstand dem Impuls, nach »Nanni« zu fragen, aber auch nur, weil weder Größe noch Rasse von Frieda die Mitarbeiterin beeindruckten.
Ausnahmsweise nahm Liv den Fahrstuhl. Wenn sie schon beschloss, sich von ein paar Ängsten zu befreien, war es ebenso erstrebenswert, das Unwohlsein in engen Räumen loszuwerden. Als sich die Türen schlossen, wurden Livs Handflächen feucht.
»Es ist nur ein Fahrstuhl, es ist nur ein Fahrstuhl«, murmelte sie vor sich hin.
Gesichter blitzten vor Livs geistigem Auge auf. Hämisch grinsende Gesichter, Hände, die sie in den engen, nach Urin stinkenden Schrank schubsten. Dunkelheit, nur unterbrochen von dem schmalen Streifen Licht, der zwischen Tür und Boden kaum die Tageszeit erkennen ließ.
Frieda fühlte Livs Unbehagen und stupste sie mit der Schnauze an. Liv blinzelte einige Male und atmete tief durch. Ein leises Pling verkündete die Ankunft in ihrer Etage.
»Nicht perfekt, aber ein Anfang. Nicht wahr?«, fragte Liv die Hündin, die wedelnd die Entspannung ihres Frauchens registrierte.
Als sie in der Suite eingecheckt hatten, blieb noch genug Zeit für eine große Runde Freerunning. Liv wühlte nach ihren Laufschuhen. Als der erste aus der Tasche auf dem Fußboden landete, kläffte Frieda. Sie wusste genau, was jetzt kam. Beim Anziehen suchte sich Liv eine Strecke im Internet raus und hoffte auf viele Hindernisse. Sie verließen das Hotel über die Treppe. Kreuz und quer durch Hamburg-Bahrenfeld näherten sich Liv und Frieda dem Altonaer Volkspark. Sie rannten und sprangen über Mülltonnen, Parkbänke, eine Minigolfanlage und sprinteten rund um eine Trabrennbahn.
Ein Brummen an ihrem Rücken erinnerte sie erstmals wieder an den Rest der Welt. Die Sprints mit Frieda waren für sie die vollkommene Ablenkung von allen Problemen und Sorgen. Anfangs hatte ihr das gemeinsame Freerunning die Sicherheit gegeben, immer und überall fliehen zu können. Der Privatlehrer, den sie aus ihrem unerwarteten Erbe bezahlen konnte, hatte mit dem Hundeausbilder kooperiert, und so hatten sie hervorragende Tricks und Kniffe gelernt, mit deren Hilfe sie Frieda seitdem auslastete. An die Waffe im Safe dachte sie nur noch selten. Auch das waren Schritte in Richtung Normalität.
Liv griff nach dem Smartphone in ihrem Lauftrikot.
»Liv Mika.«
»Mike Dietzmann, dein Boss.«
»Ich habe Urlaub, schon vergessen?«
»Wo steckst du denn jetzt?«
»Hamburg.«
»Oh! Was treibt dich da hin?«
»Ein Klassentreffen. Die Einladung hatte ich in der Sekunde im Postfach, als ich damals in Hannover den Artikel geschrieben habe. Beinahe hätte ich das übersehen.«
»Hamburg trifft sich gut.«
»Warum?«
»Wenn du auf dem Rückweg bist, halte doch mal für ein paar nachträgliche Interviews in Hannover an.«
»Wieso das so plötzlich?«
»Der Herausgeber bat darum, dass wir kleinen Nachschlag schreiben. Was ist aus dem Pharmaunternehmen geworden? Wie geht es Oxana? Das Übliche halt.«
An das Mädchen hatte sie länger nicht gedacht. Alles war mit Oliver verknüpft, und diese Gedanken verdrängte sie besser. In der gleichen Sekunde schämte sie sich für ihren Egoismus. Sie hatte zwar Oxana gerettet und wusste, dass sie nun eine Zukunft hatte, aber dann hatte sie sich von ihr abgewandt.
»Ich weiß nicht ...«, setzte sie an.
»Es eilt ja nicht. Noch hast du Urlaub. Verbring eine schöne Zeit mit deinen Klassenkameraden, und falls du Lust hast, mach einen Zwischenstopp in Hannover und sammele ein paar O-Töne ein. Okay?«
»Nicht okay. Im Moment nicht.«
»Melde dich einfach, wenn du eine Meinung hast.«
»Verlass dich nicht drauf.«
Sie verabschiedeten sich. Liv war der Spaß am Rennen vergangen. Auf dem Rückweg zwang sie sich mit aller Gewalt weg von den Gedanken an Hannover. Sie brauchte ein eigenes Leben, eines, das nichts mit dieser Reportage und den Folgen zu tun hatte. Lange genug war sie in ihren Ängsten gefangen gewesen. Es war Zeit, nach vorne zu schauen und die letzten Erlebnisse und Enttäuschungen abzuschütteln.
Sie dachte lieber über Esther und die anderen nach. Wer wohl alles kommen würde? Und wie war es den anderen ergangen? Esther, die so zart und fast durchscheinend gewirkt hatte, war immer die Schüchternste der Klasse gewesen. Sprach sie jemand an, wurde sie rot und senkte den Blick. Ihre hellblonden Haare und die helle Haut, unter der man das Aderngeflecht durchschimmern sah, ließen sie wie eine Fee aus einer anderen Zeit wirken, die mit den Anforderungen der realen Welt nicht zurechtkam. Und ausgerechnet Esther hatte sich damals in den Draufgänger der Klasse verliebt. In Jörn.
Wenn es um Spaß und Abenteuer ging, war Jörn immer als Erster dabei gewesen. Er hatte auch mal die halbe Clique am Ende einer Sauftour in eine Tabledancebar geschleppt und Fotos gemacht, die später im Jahrbuch der Weiterbildung auftauchten und großes Gelächter ausgelöst hatten. Oder Bestürzung und Ärger. Je nach Familienstand der Beteiligten. Damals hatten Mobiltelefone noch keine Kamera, aber Jörn hatte zufällig seinen Fotoapparat dabei gehabt. Liv hatte ihn im Verdacht gehabt, das alles vorher geplant zu haben. Er war den ganzen Abend strahlender Laune gewesen und hatte diesen Schalk im Blick. Schade, dass Jörn heute Abend nicht dabei war. Vielleicht war Esther nie drüber weggekommen und vermied deswegen jede Begegnung?
Klaus Hühne würde auch kommen, der kleingewachsene, bullige Hobbyfußballer. Auf dem Platz und im wahren Leben war er keiner Blutgrätsche abgeneigt, und danach hob er stets unschuldig und theatralisch die Hände. Selbst wenn der Gegner blutend am Boden lag und niemand anders in der Nähe war. Den konnte sie sich gut in der Logistik oder auf dem Bau vorstellen. Bisschen rumkrakeelen, mit der Faust auf den Tisch hauen, und danach tranken dann alle ein Bier. Er hatte auch schon vorher in dem Bereich gearbeitet und passte da besser hin als in eine Consultingfirma oder in eine Versicherung.
Liv freute sich auch sehr über die Zusage von Gabriele Stange, genannt Stängel. Gabriele war eine hochaufgeschossene, flachbusige Rothaarige, die vor der Weiterbildung lange Jahre als Gerichtsgutachterin für Sexualstraftäter gearbeitet hatte und damals davon eine Auszeit brauchte. Sie hatte aus nur Liv bekannten Gründen längere Zeit im Krankenhaus gelegen. Liv hatte damals einen Verdacht gehabt und Gabriele drauf angesprochen. Ihre Ahnung wurde nicht ganz bestätigt. Es war Gabriele deutlich schlimmer ergangen, als Liv es sich hätte ausmalen können. Am Ende hatte Gabriele ihre Praxis aufgegeben und sich in Betriebswirtschaft weitergebildet. Eine kluge, ruhige Frau, die im Leben schon eine Menge erlebt hatte. Sie musste jetzt bereits Ende fünfzig sein. Womit sie wohl ihr Geld verdiente?
Blieb noch Tim. Ihre kurze, aber heftige Affäre hatte sie zeitweise aus der Bahn geworfen. Anfangs war sie sicher gewesen, dass er der Mann war, mit dem sie alt werden wollte. Aber bereits nach wenigen Wochen waren der Zauber und die Anziehung verflogen. Attraktives Gesicht, trainiert, schlau und auch noch beziehungstauglich wären zu viel des Guten gewesen. Tim blieb ein liebenswürdiger Filou, der keinem Flirt abgeneigt war und sich nie wirklich festlegen wollte.
Trabend erreichten sie das Gastwerk. Liv sah auf die Uhr. Jetzt aber los. Duschen, umziehen, und dann würde sie schon bald der Truppe gegenübersitzen.