Читать книгу Weggeworfen - Tina Voß - Страница 10
2. Edgar
ОглавлениеNoch lange, nachdem er aufgelegt hatte, fand er keine Ruhe und konnte sich nicht ablenken. Er stopfte das Telefon in seine Jacke und wanderte rastlos durchs Zimmer. Immer wieder schaute er auf das Display. Würde sie kommen? Warum brauchte sie so viel Zeit? Hielt sie ihn etwa hin? Er seufzte. Das war ein Tag für die stärkeren Getränke. Wenn er wollte, und das wollte er oft, fand er allerdings an jedem beliebigen Tag einen Grund zum Trinken. Edgar goss sein Glas randvoll. Mit geschlossenen Augen kippte er die goldgelbe Flüssigkeit runter. Der Kognak brannte sich den Weg durch die Speiseröhre. Im Magen angekommen, verwandelte sich das Brennen in eine behagliche Wärme, die sich überall im Körper ausbreitete und jedes ungute Gefühl wie mit Watte ummantelte.
Alkoholiker waren in seinen Augen immer schon die klügeren Menschen. Die wussten, wie man in jeder Situation die Nerven beruhigen und die Außenwelt weichzeichnen konnte.
Noch immer schüttelte er ungläubig den Kopf über seinen guten Fang. Wie doof konnte man bloß sein, wenn man an einem Zahlenschloss den Werkscode eingestellt ließ oder den einfachsten Code der Welt benutzte, den jeder als Erstes ausprobieren würde? Nur aus Spaß hat er eins, zwei, drei, vier getippt und sich danach vor Lachen den Bauch gehalten. Er, der sich als Dieb der guten alten Zeit ansah, in der man Tresore einfach aufschweißen konnte und Banken überfiel, die nicht bis aufs Klo mit Kameras gesichert waren, hatte einen iPad-Code geknackt. Einfach so. Darauf einen Kognak.
Der Lederkoffer hatte schon von Weitem teuer ausgesehen, und dann war der Besitzer ein solcher Idiot. Und das bei dessen Hobby. Edgar kicherte. Er würde das iPad und das Notebook teuer verkaufen können und sogar noch Teile der Daten. Er selbst stand auf Vollweiber mit schweren Brüsten und schwingenden Hinterteilen, wo man beim Vögeln reingreifen und sich festkrallen konnte. Er wollte Weiber, die beim Sex Spaß hatten und ihn anfeuerten. Sein Ding waren diese schreienden Mädchen, fast noch Kinder, nicht. Durch seine Kontakte konnte er aber zumindest Profit aus den Vorlieben dieser Typen schlagen. Wenn der geile Bock erst mal einsaß, würde der danach nie wieder Lust haben, schreiende Mädchen zu vögeln. Da verstanden die Jungs im Knast keinen Spaß. Das wusste jeder. Er kicherte vor sich hin, wenn er daran dachte, was die mit diesem Kerl anstellen würden.
Nach dem vierten Kognak wurde Edgar ruhiger. Es war alles erledigt. Nun musste er nur noch abwarten. Leicht schwankend schaute er auf sein Spiegelbild über der kleinen Hausbar, auf deren Kunstlederhockern er gerne mit seinen Kumpels trank. Sah er dem jungen Helmut Schmidt mit seiner vollen Haarpracht nicht immer ähnlicher? Ihm gefiel, was er sah. Seine geschwungenen Lippen wurden sogar von den Nutten bewundert. Das mussten die nicht sagen, schließlich bezahlte er nur für die Nummer, nicht für die Komplimente. Seine Tätowierungen verbarg er außerhalb seiner Wohnung unter langen Ärmeln. Jede einzelne erzählte von einem Knastaufenthalt. Der ehemalige Kofferbesitzer würde wohl kaum Zeit haben, sich schmückende Körperbilder stechen zu lassen. Der sollte besser zusehen, dass beim Duschen die Aufseher in der Nähe waren. Das und die Aussicht auf den Batzen Geld, den er in den nächsten Tagen erhalten würde, ließen ihn wohlig grinsen.
Er stolperte ins Bad. Hoppla! Das waren doch nur ein paar Kognaks gewesen. Das schrille Klingeln der Türglocke ließ ihn zusammenfahren. Was sollte das denn? Er erwartete keinen Besuch, und die Zeugen Jehovas sollten ihren bescheuerten Wachturm der fetten Planschkuh über ihm andrehen. Seine Blase duldete auch keinen Aufschub mehr. Grummelnd fingerte er in seinem Hosenschlitz herum und stellte sich breitbeinig vor die hochgeklappte Klobrille.
Es hämmerte gegen seine Wohnungstür. Edgar erschreckte sich so sehr, dass er auf seine Hand urinierte.
„Verfluchte Scheiße. Ich kaufe nichts!“
„Paketdienst! Ich habe eine Lieferung für Sie.“
„Ich erwarte nichts. Verpiss dich!“ Fluchend wischte er sich die Hand an der Hose ab und drückte auf die Spülung.
„Das Paket ist aber an Sie adressiert, und ich brauche eine Unterschrift.“ Die Stimme klang gelangweilt.
„Hat man denn nie seine Ruhe …“, murmelte Edgar und zog die Tür auf.
Vor seinen Augen explodierte alles. Seine Nase brach mit einem knirschenden Geräusch. Er taumelte und hielt sich die Hände vors Gesicht. Tränen schossen ihm in die Augen. Verschwommen erkannte er, wie ein Mann die Tür von innen abschloss und ein Schatten an ihm vorbeihuschte.
„Was zur Hölle ... “ Weiter kam er nicht. Krachend landete eine Faust auf seiner Kinnspitze. Sein Kopf flog nach hinten. Er fiel um wie ein gefällter Baum und lag benommen am Boden. Als er sich stöhnend auf die Seite rollte, traf ihn ein Stiefel in den Bauch. Er japste nach Luft. Was war hier los? Er versuchte, einen Blick auf den unbekannten Hünen zu werfen.
„Wo ist der Computer und das andere Zeug?“ Der Mann sprach völlig emotionslos mit einem harten Akzent und setzte sich breitbeinig in Edgars Lieblingssessel. Panik überfiel ihn. Er blinzelte und versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Mühsam rappelte er sich hoch. Ein tiefes Knurren ließ ihn erstarren. Direkt neben dem Sessel zog ein riesiger schwarzer Köter die Lefzen hoch und zeigte geifernd seine Fangzähne. Niemals zuvor war Edgar ein solcher Koloss untergekommen. War das wirklich ein Hund?
Edgars Gefängnis-Reflex, alles abzustreiten, bis jemand das Gegenteil beweisen konnte, schaltete sich ein, noch ehe er über eine klügere Antwort nachdenken konnte.
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, keuchte er. Das Atmen fiel ihm schwer. Er versuchte, sich langsam in eine aufrechtere Position zu ziehen. Wie ein Hammer streckte ihn der nächste gezielte Tritt an den Kopf erneut nieder. Er spuckte Blut und einen Zahn aus, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er musste kurz weggedämmert sein. Als er mühsam versuchte, die zugeschwollenen Augen aufzuschlagen, sah er, wie durch eine Milchglasscheibe, den schwarz gekleideten Mann systematisch die Wohnung durchsuchen und Kissen aufschlitzen. Er blinzelte wie verrückt, um seinen Blick scharf zu stellen.
Edgar wollte sich auf einen Ellbogen stützen, doch der Hund fing sofort wieder an zu knurren.
„Verkauft, alles verkauft …“ Im gleichen Moment zog der Hüne aus Edgars Jacke am Garderobenhaken erst sein billiges Mobiltelefon, das er an die Wand schmiss, und fand dann einen schwarzen Montblanc-Füller. Der hatte ihm so gut gefallen! Edgar erstarrte, als er den Blick des Mannes sah. Fehler! Verdammter Mist, der Stift war aus dem Koffer!
Mit zwei schnellen Schritten näherte sich der Muskelberg. Er holte aus. Der Füller bohrte sich in Edgars Auge. Bevor sein Gehirn begriff, was geschah, legte sich die Pranke des Mannes auf Edgars Mund. Er schrie, aber es drang nur ein gedämpftes Gurgeln nach draußen. Edgar fühlte, dass er gleich ohnmächtig werden würde.
Der Hund bellte zwar nicht ein einziges Mal, gebärdete sich aber wie ein Verrückter und zog die Lefzen noch höher. Er strahlte Mordlust aus.
„Wo sind die anderen Sachen?“ Mit einem Ruck wurde Edgar an den Haaren hochgezogen. Er war dem Gesicht des Mannes nun ganz nah und konnte mit dem unverletzten Auge jede Pore wie unter einer Lupe erkennen.
Edgar wimmerte. Speichel und Blut tropften ihm aus dem Mund. Reflexartig wollte er blinzeln und fühlte, wie das Lid sich nur auf einer Seite schloss. Aus dem verletzten Auge lief eine warme Flüssigkeit über seine Wange. Der Schmerz explodierte in seinem Kopf wie eine Urgewalt. Er schrie. Die Faust knallte wieder auf die gebrochene Nase. Der Hüne ließ seine Haare nicht los und wartete. Gleich würde der Wahnsinnige ihn skalpieren!
„Nein“, stöhnte er. „Warte, der Koffer ist … er ist …“
Edgars Zeigefinger zeigte auf die Bar.
Der Blick des Angreifers folgte Edgars Finger. Er fasste an seine Wade, und plötzlich fühlte Edgar einen scharfen Schmerz in der Brust. Bevor er realisieren konnte, was das war, sackte er mit erstauntem Blick nach vorne. Alles wurde schwarz.
Ohne jegliche Emotion zog der Mann das zwei Zentimeter breite Stück Metall zwischen den Rippen hervor und trug es mit seinen durchsichtigen Handschuhen in Richtung Bad. Er schaltete die Stereoanlage an, drehte die Musik lauter und gab dem Hund einen Befehl.
Das schwarze Tier hechtete in Richtung Edgar und fing an, Stücke aus dessen leblosem Körper herauszureißen. Der Mann beobachtete den Hund, bevor er sich zum Waschbecken umdrehte und heißes Wasser über das Stilett laufen ließ. Dann ging er hinter die Bar und fand den gesuchten Koffer samt iPad, Notebook und einem Stapel Unterlagen. Er lächelte. Unter der Heizung blinkte lautlos das Prepaid-Handy.