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15. Liv

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Nichts an dem Hotel erinnerte Liv an den leer stehenden Fünfzigerjahre-Klotz, den sie aus ihrer Zeit in Hannover kannte, und sie war froh, dass sie den Bericht über die Neueröffnung gelesen hatte und eine Suite frei war.

Liv mied den Fahrstuhl, lief die Treppe hinunter und trat vor das Hotel. Die bodentiefen Glasscheiben zeigten, dass der Italiener links im Erdgeschoss trotz der nachmittäglichen Uhrzeit bis auf den letzten Platz gefüllt war. Liv kam der Name des Restaurants sehr bekannt vor, bis ihr einfiel, dass es sich um eine Kette handelte, die vor allem in der Frankfurter Bankenszene sehr beliebt war. Da hatte jemand das Fastfood-Filialsystem auf ein höheres Niveau gehoben, und schon brummte der Laden. Wenn dieser Mist hier vorbei war, musste sie dieser unternehmerischen Story mal auf den Grund gehen. Sie schrieb gerne über gute Gründergeschichten und machte sich in Gedanken eine Notiz.

Liv wandte sich nach rechts und trat von außen in die „Minibar“, die direkt an die winzige Rezeption anschloss. Was für ein passender Name für eine kleine Hotelbar! Sie setzte sich auf einen Platz am Fenster, von dem sie den Hoteleingang gut sehen konnte, und bestellte sich einen Cappuccino. Nachdem sie zwei Löffel Zucker eingerührt hatte, lehnte sie sich zurück und musterte die Menschen auf der Straße. Die Vorübergehenden steuerten eilig ihre Ziele an. Eine elegante, platinblonde Frau hielt direkt auf das Hotel zu. Beatrice Hemme! Unverkennbar. Während die anderen Menschen mit dem trüben Wetter verschmolzen, sah es so aus, als würde Beatrice Hemme von einem unsichtbaren Spot angestrahlt werden. Die Haare leuchteten wie ein Kornfeld, ihr roter Ledermantel nahm den Ton des Lippenstiftes auf und endete über den Knien einer engen schwarzen Jeans. Suchend schaute Beatrice durch die Glasscheiben der Minibar. Liv hob die Hand und lächelte, was Beatrice nicht erwiderte. Sie nickte kurz und bog zum Eingang ab. Mit klappernden Absätzen näherte sie sich Livs Tisch. Beatrice war augenscheinlich nicht nach Lachen zumute. Sie musterte Liv mit einem kühlen Blick.

„Frau Mika, nehme ich an.“ Sie streckte Liv eine schwarz behandschuhte Hand entgegen, als würde sie einen Knicks oder Handkuss erwarten.

„Guten Tag, Frau Hemme.“ Liv erhob sich, schüttelte den Lederhandschuh samt Inhalt und fühlte sich neben dieser hochgewachsenen Blondine wie ein Dackel. „Danke, dass Sie gekommen sind.“

Sie hatten kaum Platz genommen, als sich die Kellnerin näherte und bei der Bestellung immer auf die Schuhe der Ärztin schielte. Wollten die Füße auch was bestellen? Oder durfte man von der Straße nur barfuß in die Bar? Liv folgte dem Blick der jungen Frau und sah schwarze Lackpumps, die ihre Trägerin mindestens zehn Zentimeter nach oben pimpten, mit einer roten Sohle, die Liv völlig sinnlos vorkam. Außer man lag mit ausgestreckten Beinen auf der Straße, sah doch niemand, was unter den Schuhen war. Was das wohl sollte? Sah auf jeden Fall teuer aus, und die Kellnerin wusste das augenscheinlich.

„Wie kann ich Ihnen behilflich sein, und was hat das alles mit Günther Bögershausen zu tun?“ Beatrice stieg direkt ins Gespräch ein, nachdem sie beim Servieren des Cappuccinos den neidischen Blick der Hotelmitarbeiterin ignoriert hatte.

„Ich habe vor Kurzem ein paar sehr unschöne Bilder zugespielt bekommen, auf denen ich den Staatssekretär erkannt habe. Als ich ein bisschen weiterrecherchierte, bin ich im Zusammenhang mit einem HIV-Projekt in der Ukraine auf Ihren Namen gestoßen und habe Sie angerufen.“ Liv stoppte und musterte Beatrice, die sie mit gerunzelter Stirn ansah.

„Und?“

„Wenn Sie gegen Zwangsprostitution eintreten, glaube ich, dass Sie diese Bilder interessieren, und hoffe, dass Sie mir helfen können, Licht in die Sache zu bringen.“

„Worum geht es hier überhaupt? Und warum sprechen Sie nicht selber mit Bögershausen?“

Liv scannte die vereinzelten Gäste der Bar, die alle mit sich beschäftigt waren, und legte ihren Blackberry mit einem der Bilder aus Bögershausens Datei direkt vor Beatrice. „Darum nicht.“

„Himmel! Was soll das?“

„Das wollte ich Sie fragen.“

Beatrice nahm das Smartphone vom Tisch und hielt es in den manikürten Händen, als würde es Gift absondern. Sie ließ den Blick darüber schweifen und verkniff den Mund, als sie Bögershausen erkannte. Sie legte das Telefon mit dem Display nach unten auf den Tisch.

„Bei unserem Projekt geht es um viel Geld, und nicht alle in der Ukraine finden gut, was wir machen. Das Land steht politisch permanent am Abgrund. Niemand weiß, was in den nächsten Monaten und Jahren dort passieren wird. Haben Sie je in Erwägung gezogen, dass das auch Fälschungen sein könnten? Dass jemand Günther erpresst?“

„Warum könnte er erpressbar sein, wenn Sie in einem Hilfsprojekt arbeiten? Das klingt nicht nach Waffenschmuggel, Rohdiamanten oder anderem lohnenswerten Kleinkram.“

Beatrice schüttelte den Kopf. „AIDS ist nach wie vor nicht heilbar, wie Sie sicher wissen. In den postsowjetischen Staaten ist das Problem ungleich größer als hier bei uns. Bis zu sechzig Prozent der Neuinfektionen finden auf sexuellem Weg statt. Die Ukraine hat dadurch die mit Abstand höchste HIV-Neuinfektionsrate aller europäischen Staaten, und die Regierung leugnet, dass es da ein Problem geben könnte.“

„Aber warum? Mit vernünftiger Behandlung können HIV-Patienten meines Wissens mittlerweile ein fast normales Leben führen.“

„Das mag sein, aber nicht in diesen Ländern. Dort herrscht viel Unwissen. Vor allem in der Ukraine ist die Meinung weit verbreitet, es sei eine Krankheit, die nur Drogensüchtige und Prostituierte bekommen. Da diese Gruppen unbehandelt bleiben, stecken sie ihre Freier an, die danach ihre Frauen, und immer so weiter. Ende 2006 waren nach Angaben der WHO 0,2% der Gesamtbevölkerung mit dem HI-Virus infiziert. Anfang 2008 schätzte man, dass bereits 1,7% der erwachsenen Bevölkerung infiziert waren.“

„Das ist doch Wahnsinn.“

„In Russland steht Homosexualität unter Strafe, und in Ungarn denken die Menschen, dass ein Schwuler immer und ohne Ausnahme automatisch auch pädophil ist. Würden Sie sich in Behandlung begeben, wenn Sie dabei verhaftet und zusammengeschlagen werden könnten? Die Angst sitzt bei den Erkrankten viel zu tief! Wo wollen Sie mit der Aufklärung anfangen? Dazu brauchen Sie eine Lobby. Als HIV-Infizierter in der Ukraine sind Sie schwach, werden verleugnet und an den sozialen Rand gedrängt.“

„Mitten in Europa, und niemand unternimmt etwas dagegen?“ Liv schüttelte den Kopf.

„Doch, ein wenig wird getan. Es gibt auch in der Ukraine eine AIDS-Hilfe-Bewegung. Die wollten Know-how aus Deutschland importieren. Sie haben sich an die Organisation, für die ich ehrenamtlich arbeite, gewandt und um Unterstützung gebeten. Aber das reicht natürlich nicht! Wir brauchen ein Zusammenwirken aller europäischen Länder, um diesen Menschen zu helfen. Durch Ignoranz und Unwissenheit sterben Menschen, deren Leben durch geeignete Medikamente gerettet werden könnten. Alles, was wir tun, ist immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Beatrice nahm einen großen Schluck von ihrem Cappuccino und knallte die Tasse auf die Untertasse. Sie ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief ein.

Die Kellnerin steuerte wieder ihren Tisch an. Liv schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall wollte sie gestört werden. Wenn Liv Beatrice erst eröffnet hatte, dass Bögershausen tot war, würde sie ganz sicher nicht mehr so auskunftsfreudig sein.

„Und dann sind Sie hingeflogen?“

Beatrice nickte. „Ja, nach Kiew. Wir nahmen Kontakt zu der privaten Organisation auf und sprachen über Prävention mit Kondomen, Seminare für Ärzte und Schwestern und andere Dinge. Die ersten Probleme tauchten schon bei der Kommunikation auf. Kaum ein Mediziner sprach etwas anderes als Russisch und Ukrainisch, aber die medizinische Literatur über HIV ist meistens auf Englisch.“

„Wieso Russisch oder Ukrainisch? Sind die Sprachen nicht sehr ähnlich? Ich hielt Ukrainisch immer eher für einen russischen Dialekt.“

„Ja, das würden die Russen auch gerne so sehen. Die Ukraine war lange Zeit ein unterdrücktes Land, welches einer massiven Russifizierungspolitik ausgesetzt war. Daher sprechen die meisten Ukrainer beide Sprachen, und je nach Nähe zu Russland oder zur EU bevorzugen die Gebiete eine der beiden Sprachen.“

„Wie kam das niedersächsische Gesundheitsministerium ins Spiel? Hat das auch etwas mit der EU zu tun? Hatten die dortigen Behörden darum gebeten?“

„Die? Nein, freiwillig hätten die nie mit uns kooperiert. Es gab aber erheblichen Druck aus dem Westen. Die Behörden wollten zwar das Geld für den Aufbau einer Demokratie, aber beileibe keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Nur leider ließen sich die Menschenrechtsverletzungen nun nicht mehr totschweigen wie zur Zeit der Sowjetunion. Also begann man halbherzig mit ein paar Projekten. Es gab für die Drogensüchtigen Spritzentauschprogramme, um die Ansteckung über diesen Weg zu vermindern, und kostenlose Kondome für Prostituierte.“

„Und dabei hat das Ministerium geholfen?“

„Ja, es gab ein Partnerprogramm mit Niedersachsen, und eine private Organisation in Kiew, die sich hauptsächlich um junge Straßenmädchen kümmert, vermittelte einen Kontakt. So lernte ich Günther kennen. Er wurde vom Ministerium für ein EU-gefördertes Projekt nach Kiew entsandt und hat dort bisher hervorragende Arbeit geleistet.“

Beatrice Hemme blickte auf, als hätte sie schon zu viel gesagt. „Von daher ist es umso unverständlicher, dass es solche Bilder gibt.“

Liv ärgerte sich, dass sie gedacht hatte, das eine Bild wäre überzeugend genug. Bögershausens Telefon wurde oben von Frieda bewacht.

„Okay, gehen wir nach oben in mein Zimmer. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Liv stand auf und ließ einen Zehneuroschein auf dem Tisch liegen.

Beatrice zögerte. Aber dann siegte vermutlich ihr Wille, den Dingen auf den Grund zu gehen, und sie stellte sich vor den Fahrstuhl. Liv stellte sich daneben und stockte, als die Tür aufging. Würde sie das schaffen? Die Kabine war viel zu eng. Ihre Handflächen wurden feucht. Beatrice trat in den Fahrstuhl, Liv machte einen Schritt nach vorne und blieb dann aber wie erstarrt stehen.

„Was ist?“, fragte Beatrice.

Liv zeigte auf die Treppe. „Wir sehen uns oben. Die engen Kabinen machen mich nervös. Siebte Etage!“ Sie drückte die Tür auf und nahm immer zwei Stufen auf einmal.

In Gedanken sah sie das liebevolle Kopfschütteln ihrer damaligen Psychologin. Liv wusste, dass sie auswich, anstatt sich der objektiv gefahrlosen Situation einer Fahrt im Lift zu stellen. Eine beliebte Strafe damals im Heim war das Einsperren in einen Schrank gewesen. Die älteren Jungen und auch einige Erzieher hatten Liv immer wieder gepackt und das vor Angst schreiende und um sich schlagende Bündel in den Flurschrank gesperrt. Noch heute mied Liv fensterlose Räume und Lifte, die nur für wenige Personen geeignet waren. Lieber lief sie die Treppen, was nebenbei auch ein gutes Training fürs Freerunning war. Zeitgleich mit dem Fahrstuhl erreichte sie die siebte Etage.

Vor ihrem Zimmer hielt sie kurz inne und lächelte. „Sie heißt Frieda, ist ein Dobermann und wird Ihnen nichts tun.“

Beatrice runzelte die Stirn und nickte. Freude sah anders aus, aber Hundephobie auch. Liv schloss die Tür auf und stand direkt vor Frieda, die in dem kleinen Flur saß, mit dem Schwanz wedelte und den Kopf schief legte. Sie fühlte, dass von der fremden Frau keine Gefahr ausging, und sah sie interessiert an. Die Frauen traten ein, und Beatrice hielt der Hündin eine Hand hin, damit diese ihren Geruch aufnehmen konnte.

Nachdem alle Begrüßungsrituale erledigt waren, trollte sich Frieda in eine Ecke und widmete sich der Pfotenpflege. Liv entsperrte das Telefon von Bögershausen, rief den Bilder-Ordner auf und gab es wortlos an Beatrice weiter.

Beatrice ließ sich aufs Bett sinken. Lange blieb es still im Zimmer. Liv beobachtete Beatrice beim Durchblättern der Bilder. Sie schaut sie an wie Röntgenaufnahmen, dachte Liv. Ernst, konzentriert und irgendwie bedauernd, genau so, wie sie vermutlich Bilder eines todkranken Patienten bei der ersten Diagnose betrachten würde.

„Keine Fälschung möglich?“ Beatrice wirkte müde. Liv schüttelte den Kopf.

„Eigentlich war es mir schon beim ersten Bild klar. Ich kenne das Hotel. Es ist erst vor Kurzem renoviert worden. Bei unseren ersten Aufenthalten sah es anders aus.“

„Was? Kennen Sie etwa auch das Mädchen?“

„Ich bin nicht sicher. Wir haben im Laufe der Zeit viele dieser Mädchen kennengelernt. Beim Hotel hingegen bin ich ganz sicher. Das ist nämlich ein Schiff. Bei unserem ersten Besuch hatte ich mir da ein Zimmer gebucht, weil es sehr zentral liegen sollte. Bei der Ankunft haben wir aber festgestellt, dass das Schiff woanders hingeschleppt worden war. Es lag jetzt am Rande einer Vergnügungsinsel mitten im Dnjepr, dem großen Fluss, der Kiew in die gute und die schlechte Seite teilt. Ich habe vorher noch nie erlebt, dass ein gesamtes Hotel nach meiner Buchung komplett seinen Standort wechselt.“

„Wie heißt das Hotel?“, fragte Liv

„Es ist das Hotel Odessa. Buchbar über jeden normalen Reiseveranstalter. Aber augenscheinlich wird es auch für andere Gelegenheiten gerne vermietet. Ich hatte Gerüchte gehört, dass das Hotel zwischenzeitlich von der Mafia übernommen wurde. Vielleicht hatte man es daher an einen entlegeneren Standort geschleppt. Weil man für die Sachen, die man dort mit jungen Mädchen macht, mehr Ruhe braucht.“

Beatrice fuhr sich durch die Haare und schloss die Augen. Ihre Kieferknochen mahlten. Sie sprang auf.

„Günther, wie konntest du nur? Du Schwein!“, brach es aus Beatrice heraus.

Sie ließ das iPhone auf das Bett fallen und massierte sich die Schläfen.

Sollte sie ihr jetzt die ganze Wahrheit sagen? Liv zögerte. Sie fand nicht den richtigen Einstieg. Dass Bögershausen tot war, hätte sie sofort sagen müssen. Plötzlich sprang Beatrice auf, griff in ihre Tasche, holte ein Smartphone in einer goldenen Hülle heraus und tippte darauf herum. Sekunden später sang Hans Albers wieder sein Lied. Oh nein, nicht schon wieder! Das Telefon war nicht im Flugmodus.

„Was zur Hölle …?“ Beatrice schaute fassungslos zwischen ihrem Telefon und dem blinkenden iPhone auf dem Bett hin und her, während der Reeperbahn-Song deutlich hörbar weiterdudelte. Mist! Mist! Mist! Wie sollte sie das erklären?

Beatrice unterbrach die Verbindung, Hans Albers verstummte. Sie wählte erneut, und das Lied begann von vorne. Wortlos starrte sie Liv an.

„Ich kann das erklären.“

„Das hoffe ich“, antwortete Beatrice kalt.

„Ich hatte gestern eine Verabredung mit Bögershausen wegen dieser Bilder. Ich wollte ihn zur Rede stellen. Als ich in sein Haus kam, hing er tot an einem Balken in seinem Arbeitszimmer“, leitete Liv den Bericht über ihren grauenvollen Nachmittag ein und erläuterte das vorangegangene Telefonat und die sofortige Bereitschaft Bögershausens, sich mit ihr zu treffen, als sie die Bilder erwähnte und Mutmaßungen über ukrainische Mädchen anstellte.

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