Читать книгу Weggeworfen - Tina Voß - Страница 8
Prolog
ОглавлениеIn den Fünfzigerjahren
Er schrie seine Wut durch das Haus. Mariana und ihre Schwester erstarrten in ihrem Zimmer. Sie wappneten sich gegen das Unvermeidliche. Mariana wimmerte und ließ ihre Puppe fallen, die auf dem Rücken landete und mit starren Augen zur Decke blickte. Urin tropfte von Marianas Beinen, sodass sich eine gelbe Pfütze auf den Dielen bildete.
„Bist du wahnsinnig?“, zischte ihre Schwester. „Du wirst es auflecken müssen!“
Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Wegzulaufen und sich zu verstecken wagten die Mädchen schon lange nicht mehr. Wenn er sie dann im Wandschrank oder im Kohlenkeller fand, tat er ihnen Dinge an, die sie mit aller Kraft zu vergessen suchten.
Nachts, wenn sie sich in ihrem ungeheizten Zimmer aneinanderdrückten und die Bilder sich nicht mehr verscheuchen ließen, schlief meist nur Mariana kurz ein, um gleich darauf schreiend wieder hochzuschrecken. Ihre Schwester hörte es oft schon am hechelnden Atmen, dass eine Attacke bevorstand, und legte ihr eine tränenüberströmte Hand auf den Mund.
„Nicht schreien, bitte nicht schreien“, flüsterte sie ihr jedes Mal ins Ohr, während ihr Gesicht und das Kopfkissen nass vom Weinen waren.
Morgens warteten die Schwestern, bis er krachend die Haustür zuschmiss, und zitterten, bis das Knattern des Autos nicht mehr zu hören war. Das große Haus schien aufzuatmen. In den wenigen Stunden der Freiheit hatten sie früher Fangen gespielt. Das taten sie nicht mehr, seit er eines Tages früher als sonst nach Hause gekommen war. Sie hatten den Wagen nicht gehört, den knirschenden Kies in der Einfahrt nicht wahrgenommen.
Während Mariana in den Tagen danach immer apathischer und blasser wurde, hatte ihre Schwester der Hass gepackt. Sie hatte sich gewünscht, dass der Vater nach dem Zuschlagen der Tür niemals zurückkehren würde. Ihre Angst, dass Mariana sich eines Tages einfach auflösen würde, wuchs mit jedem Tag. Ihre Haut war so durchscheinend geworden, dass sich die Adern wie ein blaues Netz über den Körper und die hervorstehenden Knochen zogen.
Mariana blieb stumm, während es von ihren Beinen unaufhörlich tropfte. Die blauen Flecken von den Stiefelspitzen grenzten sich scharf gegen die weiße Haut ab und wirkten wie dunkle Seen. Sie ließ sich auf den Fleck sinken. Ihr Blick wurde leer und sie schaukelte vor und zurück. Immer im gleichen Rhythmus. Vor und zurück. Da, wo Mariana jetzt war, würde sie für Stunden unerreichbar bleiben. Vielleicht kehrte sie nie mehr zurück, und die Angst ihrer Schwester wurde Realität.
Schritte knallten auf dem Flur. Die Tür flog auf. Die Schwester fuhr zusammen. Mariana schaukelte schneller. Er kam ins Zimmer und trat ihr mit seinen auf Hochglanz polierten Stiefeln in den Brustkorb. Es knackte. Mariana fiel ohne einen Laut zur Seite und blieb mit offenen Augen neben ihrer Puppe liegen.
„Du kommst mit. Sofort!“ Ein Zeigefinger streckte sich drohend dem anderen Mädchen entgegen. Der Kiefer ihres Vaters mahlte, und jeder Muskel im Körper schien angespannt.
„Ja, Vater.“ Sie erhob sich und ging mit gesenktem Kopf auf ihn zu.
Ungeduldig packte er sie am weißen Kragen ihres Kleides und zog sie mit sich. Ihre Füße berührten kaum den Boden. Sie bekam keine Luft. Mit seinen Stiefeln stieß er die Badezimmertür auf, die gegen die Badewanne krachte. Etwas splitterte. Er beachtete die Tür nicht, umklammerte den Nacken seiner Tochter und zwang sie so, hochzuschauen.
Sie schrie auf. Überall war Blut. Es tropfte vom wunderschönen, zarten Arm ihrer Mutter auf den Boden. Der andere Arm lag in der Wanne und färbte das Wasser rot.
„Alfred, du Schwein ... Bring ... bring sie hier raus“, wimmerte ihre Mutter. Ihr Kopf pendelte, und ihre Augen fielen immer wieder zu.
„Nein! Sie bleibt. Sie wird zusehen, wie das hysterische Weib, das sich ihre Mutter nennt, sie im Stich lässt. Sie soll sehen, wie es ist, wenn man zu schwach ist, um ein Recht auf Leben zu haben.“
Das Mädchen sah seine Mutter nur selten. Meist lag sie im Bett und weinte. Bis er sie schlug und sie zwang, aufzustehen. Danach verschwand sie für Tage im Keller. Dann ging alles von vorne los.
Ein Zittern kroch in ihr hoch, als würde jemand sie schütteln. Ihre Zähne schlugen wieder unkontrolliert aufeinander. Sie konnte nichts sagen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf all das Blut und auf die Wanne. Sie wollte zu ihrer Mutter laufen und sie in den Arm nehmen, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie zitterte und würgte. Dann verlor sich der Blick ihrer Mutter, und ihre Augen schauten ins Leere.