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6. Isolde Züchner

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Isolde Züchner strich ihren Kostümrock glatt und setzte sich in die erste der langen Stuhlreihen, in der noch ein einziger Platz unbesetzt war. Dass der Stuhl frei war, lag an dem mit Klebeband befestigten DIN-A4-Blatt, auf dem der Hinweis „RESERVIERT FÜR REDNERIN“ vor Benutzung warnte.

Während vorne ein sehr junges, aber schon vielfach ausgezeichnetes Streichquartett die betuchten Gäste auf den Abend einstimmte, überflog Isolde ihre Notizen. Die Lesebrille, die ihr immer wieder auf die Nasenspitze rutschte, trug sie erst seit Kurzem, und sie hatte die Kette, die die gepiercte Verkäuferin ihr dazu geschenkt hatte, sofort entsorgt. Eine Oma, der die Lesebrille stets parat vorm Busen baumelte, war sie dann doch noch nicht. Mit großer Disziplin hielt sie ihren Körper in Form, und ihr Unternehmerdasein sorgte dafür, dass ihr Geist genauso fit blieb. Obwohl, was hatte es ihrem Vater genützt? Geistige oder körperliche Trägheit konnte man ihm nun wirklich nicht vorwerfen. Vielleicht war die Erkrankung eine späte Rache für seine Taten? Quasi eine göttliche Gerechtigkeit, dass er, der die Nazis so glühend verehrt und begleitet hatte, nun statt Teil einer Herrenrasse zu sein, immer weiter ins Vergessen rutschte.

Isolde drehte sich zur Seite und ließ ihren Blick über die Stuhlreihen wandern. Wenn die Frauen gezwungen würden, ihre mitgeführten Pelze und den Schmuck zu spenden, hätte man sofort eine ansehnlich ausgestattete Stiftung, die umgehend mit der Arbeit beginnen könnte. Sie sah auf ihre Hände. Gut, diese beiden Ringe, deren fein gearbeitete Diamanten bei jedem Lichteinfall anders funkelten, müsste sie dann auch abgeben. Seit wann sahen ihre Hände aus wie Klauen? Schlank waren sie immer noch, aber Adern durchzogen dicht unter der Haut ihre Handrücken wie Lianen. Sie riss sich vom Anblick ihrer Finger los und schaute zur Bühne, wo der Ministerpräsident sein Grußwort begann.

Ein zweiter Politiker wartete mit seinem Redemanuskript neben der Bühne. Er blickte von seinen Notizen hoch, als sein Vorredner mit Applaus entlassen wurde. Sein Blick blieb kurz bei Isolde hängen, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er seine Lippen zusammenpresste. Es wirkte, als müsse er seinen Körper mit Gewalt daran hindern, etwas Unflätiges zu sagen. Isolde erwiderte lächelnd den Blick. Er schaute weg und ging mit großen Schritten zur Bühne. Isolde wusste, dass seine Weste nicht mal im Ansatz weiß war, und er wusste, dass sie es wusste. Sie zuckte mit den Schultern. Irgendwann würde er mit all seinen Täuschungen auffliegen, und dann nutzte ihm auch seine brillante Rhetorik nichts mehr.

Endlich war sie an der Reihe. Ihr Magen zog sich zusammen, ihre Finger zitterten. Es war genau diese Mischung aus Konzentration und Lampenfieber, die sie inspirierte. Der Veranstalter kündigte sie an.

„Begrüßen Sie nun gemeinsam mit mir unsere Festrednerin. Lassen Sie mich sagen, dass ich ein stolzer Mann bin, dass die von uns allen so geschätzte Unternehmerin und vielfältig sozial engagierte Bürgerin unserer Stadt, Isolde Züchner, für diesen Abend zugesagt hat. Sie wird zu uns über ehrenamtliches Engagement in der Forschung und dem Gemeinwesen sprechen.“

Applaus brandete auf.

„Viele unserer sozialen Aktivitäten wären ohne die großzügigen Spenden von Frau Züchner nicht möglich. Lassen Sie mich nur beispielhaft das Arztmobil für Obdachlose, welches kostenlose Impfungen und Untersuchungen anbietet, oder die Einrichtung des dringend benötigten Kinderhospizes, wo Eltern ihre sterbenden Kinder bei deren letzter Reise begleiten können, erwähnen.“ Seine Stimme stockte.

Isolde wusste, dass er in jungen Jahren sein Baby durch einen plötzlichen Kindstod verloren hatte und deswegen sehr für dieses Projekt gekämpft hatte.

Er räusperte sich und fuhr fort: „Was treibt diese großartige Frau an? Warum ist es ihr wichtig, sich für andere zu engagieren? Davon wird sie uns nun berichten. Meine Damen und Herren, Isolde Züchner!“

Mit den Worten verließ er das Mikrofon und stieg von der Bühne herunter, um sie zum Rednerpult zu begleiten. Isolde nahm seine Hand und fühlte sich wie eine Debütantin beim Wiener Opernball. Nur, dass die noch keine Lesebrille benötigten. Sie lächelte, als sie ihre Notizen auf das Pult legte und in die klatschende Menge schaute. Immer noch lächelnd zog sie das Mikrofon heran und blickte hoch. Der Applaus verebbte und machte einer freudigen Erwartung Platz, die sie durch ihre Ansprache tragen würde.

Weggeworfen

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