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17. Liv

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In der Schlange am Gate zum Flug nach Kiew dankte Liv einem imaginären Gott dafür, dass sie niemals ohne ihren Reisepass zu Recherchen fuhr. Als sie vor Jahren einer Spur ins Ausland folgen wollte, hatte sie nicht ins nächste Flugzeug springen können, weil sie zuerst ihren Pass vergessen hatte und dann feststellen musste, dass er abgelaufen war. Mittlerweile konnte sie die Nummer ihres Reisepasses auswendig runterbeten und steckte ihn immer ein. Zum Glück gab es trotz der politisch heiklen Lage für die Ukraine keine Visumspflicht. In der einen Tasche den Personalausweis sowie Scheckkarte und eine Kreditkarte, in einer anderen Tasche den Reisepass mit einer weiteren Kreditkarte und etwas Bargeld. Wenn man in einem Heim nicht ständig beklaut werden wollte, musste man einen Teil der wichtigen Dinge stets mit sich herumtragen und die anderen Sachen gut verstecken.

Sie hatte lange mit der Erinnerung an diese Zeit keinen Frieden schließen können, aber das Verstecken von Geld und persönlichen Gegenständen an fantasievollen Orten war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und jetzt zahlte sich das aus. Ihren Reisepass und das Bargeld, mit dem sie eigentlich Edgar bezahlen sollte, trug sie in einem ausgehöhlten, schmalen Buch mit sich herum.

Meine einzige gute Erinnerung an Venedig, dachte Liv fröstelnd. Vor einigen Jahren war sie mit dem falschen Mann zur falschen Jahreszeit spontan nach Venedig geflogen. Eisschollen trieben im Wasser, ihr schlechtes Reise-Karma sorgte dafür, dass die Hotelheizung komplett ausgefallen war, und der Typ entpuppte sich als weinerlicher Idiot. Er ließ beim Sex doch tatsächlich seine Socken an – orange karierte Socken! –, obwohl sie über den Deckenberg sogar den Duschvorhang als isolierende Schicht gegen die Kälte legten. Das erwärmte aber nicht das Gefühl in Livs Innerem. Es lag zu großen Teilen an ihr, dass dieser Trip zu einem Fiasko ausgeartet war.

Sie hatte ihn bei einem Interview über seine Firma kennengelernt. Er hatte eine Sportseite programmiert, bei der man seine Aktivitäten und Essgewohnheiten hochladen konnte. Verbunden mit einem Schrittzähler fiepte dann das iPhone freudig, wenn man zehntausend Schritte geschafft hatte, oder es erklang ein Gong, wenn es Zeit war, eine Banane zu essen. Mittlerweile wurde die App so oft kopiert, dass niemand mehr wusste, dass er der eigentliche Pionier war. Er trieb damals Sport wie ein Besessener, war hochgewachsen und braun gebrannt, was Liv sehr gut gefiel. Er blickte sie bei dem Gespräch an, als hätte er eben erst Augen bekommen und sie wäre das Erste, was er damit sehen konnte.

„Wo warst du nur mein ganzes bisheriges Leben?“, fragte er, während sich Liv ein paar Zahlen zu seinem Start-up notierte.

Liv blickte hoch und starrte ihn mit offenem Mund an. Was hatte der gerade gesagt?

Nach zwei Wochen Sex, Kino und romantischen Abendessen schenkte er ihr die Reise nach Venedig. Ab da ging es Schritt für Schritt bergab. Sie war interessiert, aber nicht verliebt und wollte nur noch etwas Zeit mit diesem Körper verbringen. Beim Einchecken in den Flieger murmelte er: „Du fühlst das Gleiche wie ich. Ich kann dein Herz in mir spüren.“

In Liv legte sich ein Schalter um, und sie ging auf Distanz. Je mehr er versuchte, den Status quo wiederherzustellen oder sogar aus seiner Sicht zu verbessern, desto mehr sträubte sich Liv. Er war eine Mogelpackung. Die Sportsucht verdeckte seinen Hang zum Klammern und zur Schwermut. Um tagsüber seinem Gejammer über die Stadt und ihre Kälte, sowohl ihrer eigenen als auch der der Stadt, zu entgehen, hielt sie sich stundenlang in kleinen Papeterien auf, während er alleine irgendwo in einem Café über sein schlechtes Schicksal brütete oder manisch Liegestützrekorde aufstellte. Dabei griff sie in einem herrlich nach Papier und Leim duftenden Geschäft nach einer Ausgabe von Tolstois Kreutzersonate und stellte fest, dass das Buch bearbeitet war. Innen war fein säuberlich ein großes Viereck herausgeschnitten und die Außenseiten der Blätter waren miteinander verleimt worden, sodass innen ein Hohlraum entstanden war. Ein Geheimversteck in einem weltberühmten Buch! Dort lebte nun schon seit Jahren ihr Pass, war immer mit dabei und wartete auf solche Tage.

Hinter Liv räusperte sich jemand. Hoppla! Die Schlange bewegte sich weiter nach vorn. Beatrice blickte Liv an und hob die Augenbrauen.

„Geträumt, sorry.“ Liv zog ihren Gürtel aus der Jeans, packte ihre Tasche aus und legte Notebook und iPad in die Plastikschalen auf das Transportband zur Durchleuchtung.

„Kommen Sie bitte durch“, rief ihr eine Flughafenmitarbeiterin zu und winkte mit ihrem Metalldetektor wie ein Verkehrspolizist.

Liv war immer noch perplex, was für eine resolute Person sich hinter Beatrice’ gebotoxter Fassade verbarg. Menschen konnte Liv gut einschätzen, und die geschockte Reaktion von Beatrice auf den Verrat und den Tod von Bögershausen war authentisch. Wie konnte sie jetzt am sinnvollsten weitermachen? In Hannover gab es keine weiteren Hinweise. Das Mädchen, das Hotel – alles spielte sich in der Ukraine ab. Würde sie das Mädchen überhaupt alleine finden können? Während Liv überlegte, wie sie am besten weiter vorgehen sollte, erklärte Beatrice ihr zum einen, dass sie sofort nach Kiew fliegen müssten, und zum anderen, dass sie sich mit Vornamen ansprechen sollten.

Misstrauisch stimmte Liv dem Vorschlag zu. Ihr war eine solche Welle weiblicher Solidarität unheimlich. Oder gab es ganz andere Gründe, warum Beatrice an ihrer Seite sein wollte? Vielleicht wollte sie Spuren verwischen, um das Andenken an Bögershausen zu wahren? Sollte sie Beatrice direkt ansprechen? Warum tat sie das? Was war in Kiew alles passiert, dass Beatrice diese Reise vorschlug? War Beatrice überhaupt zu trauen? Eigentlich hatte sie keine Wahl. Eben noch wollte Liv eine Enthüllungsstory über den sexuellen Machtmissbrauch eines Politikers schreiben, und nun saß sie quasi mit gleich zwei Leichen, Edgar und Bögershausen, im Gepäck im Flieger nach Kiew.

Liv blickte aus dem Fenster direkt auf die Tragflächen, und ihr Magen zog sich zusammen. Die Oberfläche sah aus wie die Patchworkarbeit eines zugekifften Metallbauers. Hoffentlich war diese Boeing ansatzweise jünger als sie selbst. Sie verstand nichts von den Durchsagen in der fremden Sprache. Sollte das überhaupt Englisch sein? Eine Stewardess durchschritt die Reihen, zählte lautlos die Passagiere und drückte dabei ein Gerät, das Liv an eine Stoppuhr erinnerte. Livs Vertrauen sank in Richtung Erdmittelpunkt.

Als der Flieger endlich abhob, wischte sie sich immer wieder die feuchten Handflächen unauffällig an der Jeans ab. Himmel! Hoffentlich war die Landung sanft. Starten war ja grundsätzlich okay, aber wenn der Flieger nach dem Abheben irgendwo weit oben abbog und auf der einen Seite der Fenster nur noch Himmel zu sehen war und auf der anderen Seite ein Ausblick auf den möglichen Ort des Aufschlages, beobachtete Liv das Servicepersonal jedes Mal ganz genau. Guckten die panisch?

Sie machte eine Atemübung und rief sich ins Gedächtnis, dass alle Flieger nach dem Start in die Himmelsrichtung ihres Ziels abbiegen mussten, dass sie nahezu niemals einfach runterfielen, und wenn das doch so wäre, hätte sie es sicher irgendwann mal in den Nachrichten gehört. Oh nein! Jetzt wackelte diese Röhre mit Flügeln auch noch, als würde ein Riese an der Tür rütteln. Liv! Das sind verschiedene Luftschichten, das passiert immer, wenn Flugzeuge da durchfliegen, ermahnte sie sich. Ist das Rauch? Nein, das sind Wolken. Die gehören zum Himmel. Es ist nichts passiert. Liv setzte ihren immer gleichen inneren Monolog fort.

Der Flieger erreichte seine Reiseflughöhe, und die Boeing glitt nun dahin wie auf Schienen. Mit einem Pling erlosch das Anschnallzeichen, und die ersten Passagiere schälten sich aus ihren Sitzen, um die winzigen Bordtoiletten aufzusuchen. So mutig war Liv nur im äußersten Notfall. Die Stewardessen begannen mit dem Servieren. Statt des handelsüblichen Servierwagens wurde ein zweistöckiger Resopaltisch scheppernd durch den Gang geschoben. Liv starrte das Tischchen an, als würde darauf eine Atombombe spazieren gefahren.

„Fliegen ist nicht so deins?“ Beatrice lachte ihr über den leeren Mittelplatz hinweg ins Gesicht. Liv hatte ihre Anwesenheit zwischenzeitlich vergessen. Sie war mit Überleben beschäftigt.

„Geht so. Ich verstehe einfach nicht, wieso Tonnen von Stahl ohne Federn abheben können. In einem Interview hat mir der Flughafenchef alles über Luftströmungen und warum diese Biester am Ende doch abheben ganz genau erklärt und mich sogar zu einem Rundflug mit seiner kleinen Maschine eingeladen.“

„Und war es danach besser?“

„Ich habe die Zeitansage angerufen, ein erschrockenes Gesicht gemacht und ihm erklärt, dass ich sofort zum nächsten Termin müsse.“

Beatrice lachte erneut und gewährte Liv so einen Ausblick auf ihr Hollywood-Gebiss. „Was hat er zu den fehlenden Federn gesagt?“

„Sieht mit einfach scheiße aus“, antwortete Liv und musste bei dem Gedanken an seine trockene Antwort selbst grinsen. Erstaunt stellte sie fest, dass Beatrice’ Ablenkungsmanöver geklappt hatte. Sie entspannte sich merklich. Okay, das Flugzeug bockte auch schon seit einer Viertelstunde nicht mehr. Es verhielt sich eher wie ein Bus mit Servicepersonal und Bullaugen.

„Woher kommt dein ungewöhnlicher Vorname? Waren deine Eltern Fans von Aerosmith und wollten dich nach der Tochter des Sängers Liv nennen?“

„Das spricht man ja eher wie Liff aus. Ich bin aber eher eine Liev mit langem I. Meine Eltern hatten ihr erstes Rendezvous bei einem Film mit der schwedischen Schauspielerin Liv Ullmann. Da hatte mein Vater ganz romantisch gesagt, dass sie ihr erstes Kind nach ihr benennen könnten, um immer an diesen wunderschönen Abend erinnert zu werden. Da meine Eltern früh gestorben sind, kenne ich die Geschichte von meiner Tante und hab sie immer gemocht.“ Liv fühlte sich bei dem Gedanken an ihre Eltern unbehaglich und wechselte schnell das Thema. „Wie gut kanntest du Bögershausen eigentlich?“, nahm Liv den Grund ihrer Reise wieder auf.

„Tja, was heißt gut? Als die geförderten Projekte an den Start gingen, hatte uns die Ministerin Günther als Kontaktmann geschickt. Anfangs wirkte er distanziert und lustlos.“

„Wann änderte sich das?“

„Ich bin nicht sicher. Hab ihn ja immer nur sporadisch gesehen. Zumal ich ihm irgendwann auch aus dem Weg gegangen bin.“

„Aus dem Weg gegangen?“, hakte Liv nach.

Beatrice wand sich. „Nach einem Abend mit allen Projektbeteiligten, an dem deutlich zu viel Wodka ausgeschenkt wurde, hatte er mich noch zu meinem Zimmer begleitet. Da versuchte ich dann, ihn zu küssen. Gott, war das eine unangenehme Situation.“

„Weil er nicht drauf einging?“

„Er starrte mich an, als wollte ich ihm sein Ding abschneiden, sagte kein Wort und verließ das Zimmer. Ich war auf einen Schlag nüchtern und hab das Loch im Boden gesucht, in das ich mich verkriechen konnte.“

„Beatrice, wie alt bist du?“

„Welch ungalante Frage! Ich werde demnächst fünfundfünfzig.“

„Dann liegen zwischen dir und seiner Zielgruppe vierzig Jahre.“

„Das stimmt wohl. Ich hielt erst mich für zu alt und dann ihn für homosexuell. Letzteres fand ich besser für mein Seelenheil.“

„Sind auch Jungen in den Hilfsprojekten?“

„Nein. In diesen Ländern herrscht ein starkes Patriarchat. Frauen sind nichts wert und verdienen keinen Respekt. Sie sind die Menschen, die wir schützen müssen.“

„Dann ist Homosexualität wohl nicht seine präferierte sexuelle Orientierung. Ist er pädophil?“

„Ephebophil.“

„Effo-was?“

„Er ist eher ephebophil. Das ist die Vorliebe, die sich anschließt, wenn die Päderasten das Interesse verlieren. Pädophilie ist die Vorliebe für alles Kindliche, Unberührte, Reine. Mit dem Knospen der Brustwarzen, dem Eintritt der Regel und sprießender Schambehaarung spricht man von Epheben. Das ist die Gruppe, die wir in den Projekten zur HIV-Prävention am häufigsten betreuen.“

Liv notierte sich das Wort. Vielleicht konnte sie dieses Fachwissen mal wann anders verwursten. „Wärst du jetzt über achtzig und Bögershausen wäre in der Nacht geblieben, wäre er dann gerontophil?“

„Exakt.“

„Wärst du aber beispielsweise schwarz und er kriegte nur bei dieser Hautfarbe einen hoch, hieße es wie?“

„Xenophilie. Die Psychologie teilt viele sexuelle Präferenzen in solche Kategorien ein. Das kann ganz hilfreich für die Patienten sein, wenn ihre Neigung oder im schlimmsten Fall ihr Leiden einen Namen hat.“

„Heterosexuell, altersangemessen sexuell aktiv, Verhalten im Normbereich. Das wäre dann meine Diagnose? Wie langweilig.“

„Bögershausen hielt ich grundsätzlich für homosexuell. Er sprach niemals über sein Privatleben oder eine ehemalige Partnerin. Er hielt seine Informationen sehr oberflächlich, erwähnte mal ein gutes Restaurant oder einen Wein, den er mochte. Wen er bei Restaurant- oder Theaterbesuchen dabeihatte, ließ er unerwähnt, und der Typ für Haustiere war er auch nicht. Wo ist eigentlich Frieda jetzt?“

Liv lächelte bei dem Gedanken an ihre Hündin. „Die ist quasi bei Mama im Urlaub mit ein paar Lerneinheiten für Schutzhunde. Sie stammt von einer tollen Züchterin aus der Nähe von Hannover, die sie auch ausgebildet hat. Ich kann sie jederzeit dort einquartieren. Damals, als ich sie nach dem Tod meiner ersten Hündin geholt hatte, hat sie mir zusammen mit Frieda viel beigebracht, und wir halten seitdem Kontakt.“

„Tod?“, fragte Beatrice.

„Ja. Vergiftet.“ Liv kniff die Lippen zusammen.

„Was ist passiert?“

Liv versteifte sich. „Sie hat einen vergifteten Köder gefressen. Der Täter wurde nie gefunden. Ende der Geschichte.“

„Ich war gestern sehr aufgewühlt, und irgendwas klingelte bei deinem Namen. Google war da hilfreich …“ Beatrice ließ den Satz in der Luft hängen und musterte Liv. „Hängt es mit der Geschichte von damals zusammen? Du hast nach Abschluss der Gerichtsverhandlung die Stadt schnell verlassen.“

„Ja. Zu dieser Zeit wurde sie vergiftet.“ Es war klar, dass Beatrice schnell herausbekommen würde, wer sie war. Warum überraschte sie das nur? Die letzten zwei Jahre hatte sie versucht, das alles hinter sich zu lassen, aber immer in dem Bewusstsein, dass das nicht ein Leben lang klappen würde.

„Magst du mir da mehr von erzählen?“

„Nach meiner Aussage hatte der leitende Beamte den Personenschutz abgezogen. Ich reagierte panisch, weil ich anonym bedroht wurde. Eine Waffe war mit meinem Hintergrund nicht zu bekommen, außer eine auf vier Pfoten. So lernte ich die Züchterin kennen, die eine wunderschöne Dobermannhündin abzugeben hatte. Wir lebten nur drei Monate zusammen, und dann lag sie mit verdrehten Augen und Schaum vor dem Mund in meiner Wohnung. Ich konnte sie zu einem Termin nicht mitnehmen. Es war mitten am Tag, aber niemand im Haus hatte etwas gesehen oder gehört. Danach habe ich gekündigt und bin weggezogen.“

Liv griff nach einer ihrer mitgebrachten Tageszeitungen und blinzelte die Tränen weg. Das Thema wollte sie jetzt nicht weiter vertiefen. Sie überflog die Schlagzeilen und blieb bei einem Porträt hängen. Überraschender Rücktritt aus privaten Gründen lautete die Headline zu dem Bild. Woher kannte sie nur dieses Gesicht? Sie überflog den dazugehörigen Text. Ach? Der Vorsitzende eines Arbeitgeberverbandes! Was da wohl der private Grund war? Sie hatte ihn vor einigen Jahren interviewt, und da strotzte er geradezu vor Energie.

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