Читать книгу Weggeworfen - Tina Voß - Страница 18
10. Liv
ОглавлениеLiv zog die Tür hinter sich ins Schloss und steuerte ohne Umwege den Kühlschrank des Zimmers an. Sie wählte aus den Puppenfläschchen eines mit Wodka aus, ließ den Drehverschluss knacken und leerte es in einem Zug. Edgar war tot? Was ging hier vor? Das konnte nicht wahr sein! Und wieso war er von einem Hund totgebissen worden?
Was für ein Schlamassel. Was waren das für Fotos, dass ein Mensch dafür sterben musste? Livs Hände zitterten. Edgar war von einem Hund in Stücke gerissen worden? Wer tat so etwas? Liv schloss die Augen, um durchzuatmen, und riss sie sofort wieder auf. Ihr Gehirn sandte Bilder auf ihre Netzhaut, die sie nicht sehen wollte. Am liebsten wäre sie sofort losgerannt, um Edgar, seine Bilder und auch diesen Polizisten abzuschütteln. Aber das ging nicht, sie musste anders aktiv werden.
Hoffentlich kannte der Ermittler sie nicht von früher. Dann war ihm nicht zu trauen! Liv fuhr den Rechner hoch, klickte in ihre Bilddatenbank und scrollte durch die Fotos. Kein Oliver Klauenberg. Sie gab den Namen in einer Suchmaschine ein. Treffer! Sie rief die Seite auf. Eine Gruppe Männer in Trikots hielten einen Pokal über den Kopf, und alle grinsten in die Kamera. Außen stand Oliver Klauenberg und legte den Arm um einen deutlich kleineren Mann. Das Bild sah aus wie bei Spielen der Nationalmannschaft, wenn der hochgewachsene Torwart Manuel Neuer beim Singen der Nationalhymne neben dem kleinen Philipp Lahm stand. Es war eine Seite aus einer regionalen Gratiszeitung. Der Text handelte von einem Fußballturnier, bei dem die Mannschaft um den stellvertretenden Polizeipräsidenten Heinz Rachow den Pokal geholt hatte. Rachow? Ausgerechnet. Liv stöhnte. Hatte er auf den Sieg seiner Mannschaft gewettet und gewonnen? Darin besaß er ja Übung. Kein Wunder, dass dieser Klauenberg auf sie allergisch reagierte. Er war ein Mitarbeiter des in ihren Augen korruptesten Polizisten Hannovers, der zwischenzeitlich sogar zum stellvertretenden Polizeipräsidenten befördert worden war.
Angewidert schloss Liv die Seite. Es hatte lange gedauert, bis ihre Angst und Ohnmacht in Ärger umgeschlagen waren, und nun stolperte sie schon wieder über diesen Namen. Sie schob alles rund um Polizei und ihre Vergangenheit in eine der untersten Schubladen ihres Gedächtnisses. Die vergewaltigten Mädchen hatten jetzt Vorrang.
Liv holte Bögershausens iPhone aus der Tasche, drückte auf den Homebutton, und der Hinweis „Entsperren“ erschien. Liv wischte über den Bildschirm. Die Aufforderung „Touch ID oder Passwort eingeben“ erschien. Sie stöhnte auf. Selbstverständlich hatte er sein Smartphone gesichert. Wer konnte auf die Schnelle ein iPhone hacken? Liv grübelte. Sie hatte doch vor einiger Zeit einen Artikel über die beliebtesten Passwörter geschrieben. In der Redaktion hatte es betretene Blicke gegeben, als rauskam, dass auch viele Kollegen private Rechner oder ihre Smartphones damit gesichert hatten. Welche waren das damals?
Liv gab viermal die Null auf dem Touchscreen ein. Nichts passierte. Wie oft konnte sie das noch wagen? Für eine SIM-Karte hatte man drei Versuche. Aber für den Sicherheitscode des iPhones? Sie probierte es mit viermal der Eins. Wieder nichts. Einen Versuch hatte sie mindestens noch. Sie versuchte es mit eins, zwei, drei, vier. Das Telefon entsperrte sich. Liv konnte ihr Glück kaum fassen. Sie öffnete die Anrufliste und prüfte den Anruf in Abwesenheit. Was war das denn für eine Vorwahl? 0038044? Sie tippte die ersten sieben Ziffern im Internet ein und fand heraus, dass die Nummer aus Kiew stammte. Bögershausen schien sich dort seine Opfer zu suchen, und nun wurde er von da auch noch angerufen. Dabei war es nur ein Schuss ins Blaue gewesen, als sie ihm unterstellte, dass es sich um ein ukrainisches Mädchen handelte. Das Schweigen und Stottern von Bögershausen am Telefon war mehr als verräterisch gewesen. Und nun also Kiew. Liv notierte sich die Nummer in ihren Blackberry-Kontakten, durchforstete systematisch alle Dateien auf dem gestohlenen Smartphone und landete schnell bei den Fotos mit den Mädchen, die Bögershausen sich in seinen Favoritenordner kopiert hatte. Beginnend mit dem bekannten Bild, sah sie sich das Mädchen genauer an. Wie alt mochte sie sein? Sie hatte kleine Brüste und blonde, flaumige Schambehaarung. Vierzehn? Fünfzehn? Sie hatte ein schönes Gesicht mit slawischen Zügen. Hohe Wangenknochen und grüne Augen. Liv fand in der Foto-App noch einen Ordner namens „Projekte“, der weitere Sexszenen zeigte. Die Mädchen waren allesamt jung, viel zu jung. Alle hatten die knabenhaften Figuren am Anfang der Pubertät, keines schien älter als vierzehn. Das Alter der Männer variierte, aber jung war definitiv keiner von denen. Sie versuchte, die Bilder zu vergrößern, aber das machte sie nur pixelig. Es sah so aus, als hätte jemand ein Foto von einem Bildschirm abfotografiert. Im unteren Bild war deutlich eine Menüleiste zu erkennen, die zu einem Computer-Bildschirm gehörte. Liv markierte die Bilder, schickte sie sich selbst via E-Mail und kopierte die Bilder in ihre Cloud. Für alles andere war später noch Zeit.
Liv sortierte die Dateien nun nach Datum und fand einen umfangreichen Ordner über Anti-Prostitutions-Projekte in der Ukraine. Sie überflog einen Leitartikel ihres alten Kollegen Hinnerk Becker, der wütend über das Versickern von Hilfsgeldern für die Ukraine berichtete. Dann blieb sie an einem genau gegenteiligen Bericht hängen, in dem Bögershausen mit einer attraktiven Blondine, die ungefähr in seinem Alter war, auf einem Foto in die Kamera lächelte.
Die im Bereich der HIV-Prävention engagierte deutsche Internistin Beatrice Hemme und der Staatssekretär des niedersächsischen Gesundheitsministeriums Günther Bögershausen unterstützen gemeinsam das private deutsche Hilfsprojekt Connect Positive e.V., welches sich in den Brennpunkten Osteuropas für eine bessere HIV-Prävention und Schulungen von Medizinern sowie Sozialarbeitern einsetzt. Ein Bewusstsein für die HIV-Problematik existiert in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion häufig in nicht ausreichendem Maße, was anhand der immensen Probleme, die diese Länder zu bewältigen haben, nicht verwundert. Die FIFA hatte mit der Entscheidung zur Austragung der EM in Polen und der Ukraine im Jahre 2012 dazu beitragen wollen, diese Länder bei ihrer Annäherung an den Westen weiter voranzubringen. „Erreicht wurde leider vor allem ein sprunghafter Anstieg der Zwangsprostitution“, berichtete Frau Dr. Hemme auf einer Veranstaltung. Sie sagte weiter: „Nun müssen wir versuchen, diese Entwicklung durch Eindämmung der Korruption seitens der Behörden und durch Aufklärung der jungen Frauen zu stoppen. Sonst wird eine gesamte Generation an dem Virus zerbrechen.“
Das war ja interessant. Da stand er mit einer Ärztin Seite an Seite und arbeitete vordergründig gegen jede Art von Prostitution. Liv gab den Namen der Ärztin bei Google ein und vertiefte sich in die Berichte und Artikel.