Читать книгу Weggeworfen - Tina Voß - Страница 11

3. Liv

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Liv lauschte dem Freizeichen und legte auf, als der Lärm am Gleis anschwoll. Wo steckte Edgar bloß? Langsam fing sie an, sich Sorgen zu machen. Wieso war er nicht mehr erreichbar? Weitere Anrufversuche aus dem Zug heraus waren sinnlos, wenn es die Leitung immer wieder zerriss. Mist. Sie würde ihn daher erst wieder vom Hotel aus anrufen können. Himmel! Langsam ergriff sie das Jagdfieber. Er hatte so seltsam geklungen. Womit er wohl jetzt sein Geld verdiente? Als ihm damals im Strudel des aufgedeckten Wettbetruges das ganze Geschäft wegbrach, hatte er nie ihr die Schuld daran gegeben und ihr sogar sehr interessante Zusammenhänge gesteckt. Jetzt wollte er das erste Mal Geld und versprach, dass sie es nicht bereuen würde. Liv seufzte. Gelassenheit und Geduld würde sie in einer Kontaktanzeige nicht als ihre großen Stärken angeben.

Frieda schaute angriffslustig auf den einfahrenden ICE, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Dank des Kopfbahnhofes in Frankfurt rauschten dort keine Züge durch, was Frieda stets aufbrachte. So saß sie nur wie eine Statue neben Koffer und Reisetasche, während sie ihre Ohren anlegte und ihr Blick versuchte, dem Zug zu folgen. Trotz Maulkorb würde es niemand wagen, sich an dem Gepäck zu vergreifen. Für einen Kurztrip hatte Liv viel zu viele Klamotten eingepackt. Aber sie war gerne für alle Eventualitäten gerüstet.

In den ersten Wochen in Frankfurt hatte eine lähmende Angst sie an ihre Wohnung gefesselt. Ihre Briefe kamen postlagernd, niemand besaß ihre Adresse. Mike hatte sie anfangs zur Arbeit abholen lassen. Sie wartete jeden Morgen an einer anderen Stelle auf den Fahrer und war Mike für seine Fürsorge unendlich dankbar. Dann trat Frieda in ihr Leben. Sie war teilweise schon als Personenschutzhund ausgebildet und absolvierte den Rest bis zur Prüfung mit Liv gemeinsam. Die ruhige Selbstverständlichkeit des Hundes entspannte Liv jeden Tag mehr. Sie schlief nicht mehr im nachträglich eingebauten Panikraum, und sie musste jeden Tag mit dem Hund raus. Da war kein Raum mehr für eine Panikattacke. Nie hätte Liv gedacht, dass sie sich nach Lottes Vergiftung noch einmal so auf ein Tier einlassen könnte. Aber sie liebte Frieda abgöttisch und strich ihr nun über den Kopf und die kaschmirweichen Ohren.

Liv saß alleine im Abteil. Die Mitreisenden eilten nach einem kurzen Blick auf den Dobermann schnell weiter. Nicht mal die beiden reservierten Plätze wollte jemand beanspruchen.

Über zwei Jahre war ihr letzter Besuch in Hannover her. Sie hatte das Gefühl, dass der Zug sie mit Überschallgeschwindigkeit zurück in die Stadt und in die Vergangenheit katapultierte. Die Welt drehte sich weiter und produzierte andere Skandale, versuchte Liv sich zu beruhigen. Ihre Hände zitterten, und ihr Mund wurde trocken. Rollte eine Panikattacke auf sie zu? Sie schloss die Augen und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Die Attacke zog sich mit jedem kontrollierten Atemzug weiter zurück. Liv schwitzte.

„Frieda, bleib“, wies sie den Hund an und kletterte über ihn hinüber.

Als sie die Zugtoilette erreichte, ließ Liv kaltes Wasser über ihre Unterarme rinnen und musterte ihr Gesicht im Spiegel. Der dunkle Kurzhaarschnitt war verschwunden. Sie trug ihre Haare jetzt blond und schulterlang. Eine braune Nerd-Brille, ein grauer Hosenanzug und Sneakers ließen sie wie eine Führungskraft der Kreativbranche aussehen. Die Turnschuhe in allen Variationen waren ihrem stets unter der Oberfläche lauernden Fluchtinstinkt geschuldet. Sie musste das Gefühl haben, jederzeit wegrennen zu können. Ihr Urvertrauen in die eigene Sicherheit hatte durch die Angriffe großen Schaden genommen. Als sie ihre Therapie abgeschlossen hatte, war sie mit der Psychologin übereingekommen, dass sie diese eine Neurose bewusst beibehalten würde und regelmäßig hinterfragen wollte. Wenn sie sich irgendwann in ihrem Leben sicher fühlen sollte, wäre ein feierlicher Gang ins Schuhgeschäft ihre erste Handlung. Dort würde sie sich ein Paar wahnwitzige High Heels, die sie immer Sitzschuhe nannte, kaufen und mit ungelenken Bewegungen durch die Stadt stöckeln.

Liv putzte mit den Papierhandtüchern ihre Brille. Sie hatte keine Sehschwäche, sondern benutzte die Brille als eine Art Tarnung. Würde sie jemand erkennen? Ihr wurde wieder mulmig. Nein, bestimmt nicht, beruhigte sie sich. Menschen schauten immer nach vertrauten Details, und sie war schon lange aus der Stadt verschwunden. Es gab zwar neuere Fotos im Internet, aber wer sollte sich nach der langen Zeit noch dafür interessieren? Liv ging zurück an ihren Platz und versuchte, sich zu entspannen.

„Hier noch jemand zugestiegen? Den Fahrschein, bitte.“ Ein Zugbegleiter, der Liv mit seiner ausladenden Birnenform sofort an Barbapapa erinnerte, zog die Abteiltür auf und hielt dann in der Vorwärtsbewegung abrupt inne, als er Frieda am Boden liegen sah. Die hob nur kurz den Kopf und stufte ihn sogleich als langweilig ein.

„Was ist das denn?“

„Ein Hund?“ Was sollte denn die Frage?

„Der darf hier überhaupt nicht sein.“

„Wie bitte? Ich habe eine Fahrkarte für mich und den Hund gekauft. Der, wie Sie sicherlich wissen, zum Kindertarif mitfährt.“

„Ich möchte Sie bitten, an der nächsten Station auszusteigen. Wir befördern keine gefährlichen Kampfhunde.“

Hatte sie sich gerade verhört? Sie durfte nicht weiterfahren? Ihre Handflächen wurden nass.

„Der Hund trägt einen Maulkorb.“

„Trotzdem darf er hier nicht mitfahren. Sie versperren Sitzplätze, weil wegen dem da keine Fahrgäste ins Abteil können.“

Liv starrte den Zugbegleiter an und konnte seine Worte kaum begreifen. Was sollte sie jetzt machen? Edgar hockte in Hannover und erwartete sie.

Die Lautsprecherdurchsage durchbrach die angespannte Stille und kündigte den nächsten Halt an. Der Schaffner schob die Unterlippe vor und hob das Kinn, als er sagte: „Ich erwarte, dass sie hier den Zug mitsamt ihrem gefährlichen Tier verlassen.“

Frieda stand nun doch auf. Der angespannte Ton des Mannes schien sie zu interessieren. Der Mann zog den Kopf zurück und ließ die Tür nur noch einen Spalt offen.

„Sehen Sie! Deswegen muss das Tier hier raus. Das ist doch gemeingefährlich.“ Seine Stimme wurde schriller.

„Frieda, hier, sitz.“ Liv klopfte an ihr Bein. Die Hündin ließ sich direkt vor ihr nieder. Sie fühlte die Anspannung und knurrte in Richtung des Zugbegleiters.

„Raus hier!“, kreischte er und zog die Abteiltür ganz zu. Er gestikulierte von draußen und zeigte auf den Ausgang, als der Zug langsamer wurde. Was sollte sie jetzt tun? Holte der am Ende den Sicherheitsdienst? Was hatte sie nur verkehrt gemacht? Sie war noch nicht oft mit Frieda Zug gefahren, weil sie meist froh war, wenn sie Frankfurt nicht verlassen musste. Vielleicht hatten sich nach irgendwelchen Hundeattacken die Regeln für die Beförderung geändert. Das wusste der mit Sicherheit besser als sie. Das stand hier alles unter keinem freundlichen Stern. Sollte sie Edgar anrufen und ihm sagen, dass sie nicht kam? Mike hatte ihr doch auch abgeraten.

Seufzend stand sie auf, schnappte sich ihr Gepäck und wartete, bis die Leute, die auf dem Gang Richtung Ausgang strömten, raus waren. In Liv breitete sich ein altbekanntes Ohnmachtsgefühl aus. Wieder hatte ihr jemand, der eine Scheißinstitution vertrat, vorgeschrieben, was sie zu tun hatte. Sie hasste dieses Gefühl seit ihrer Kindheit. Seit dem Unfall damals schien sich alles wieder und wieder gegen sie zu wenden. Sie sah sich nochmals im Abteil um, ob sie nichts vergessen hatte.

Draußen am Fenster ging der Schaffner mit einem DB-Rucksack am Zug vorbei Richtung Ausgang. Wo wollte der denn hin? Liv stolperte ans Fenster und sah nur noch, wie er einem Kollegen zunickte und weitermarschierte. Personalwechsel? Er hatte kein Wort mit dem anderen Mitarbeiter gewechselt. Sollte sie es wagen?

„Frieda, hier“, rief Liv den Hund von der Tür zurück und wuchtete das Gepäck wieder auf die Ablage im Abteil. Sofort durchrieselte sie ein Gefühl von Stolz. Sie hatte dagegengehalten, sie war nicht ausgestiegen! Der Idiot sollte sich seine Kampfhund-Phobie sonst wo hinstecken.

Der ICE ruckelte wieder los. Sie loggte sich in den Hot Spot des Zuges ein und rief die Homepage der Bahn auf. Ungläubig scrollte sie durch die Beförderungsregeln. Definitiv stand hier absolut nichts davon, dass bestimmte Hunderassen nicht mitgenommen wurden. Was war das dann für eine Nummer? Wollte Barbapapa nur mal jemandem den Tag versauen? Okay, egal. Das war jetzt nicht wichtig. Es gab größere Probleme als diesen Idioten. Livs Finger schwebten über der Tastatur. So lange hatte sie vermieden, irgendetwas über Hannover zu erfahren. Das Ausmaß der Ungerechtigkeit, die sie überrollte, die Bloßstellung beim Prozess und der Anschlag auf ihren Hund durchzuckten Liv, als wäre es gestern gewesen, dass sie geflohen war. Was tat sie hier eigentlich? Genauso gut konnte sie an der nächsten Station aussteigen und zurückfahren. Mike wäre erleichtert.

Nein, es reicht!, rief sie sich zur Ordnung. Es wurde Zeit, sich den Dingen zu stellen und die Angst vor der Angst zu besiegen. Entschlossen gab sie ein paar Begriffe in die Suchmaske ein und ließ sich die Neuigkeiten der letzten Monate aus ihrer alten Heimatstadt anzeigen. Liv flog über einen Querschnitt aus Politik, Wirtschaft und Lokalem. Hier wurde ein Gebäude eröffnet, dort ging eine Firma pleite. Die Meldungen unterschieden sich nicht von denen anderer Großstädte. Einige Namen kamen Liv bekannt vor. Sie klickte alle Artikel rund um Fußball, Wetten und Justiz sofort weiter. Darüber wollte sie nie wieder etwas lesen oder schreiben.

„In wenigen Minuten erreichen wir Göttingen Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss …“ Liv schloss die Augen und blendete die Ansage aus. Je näher sie Hannover kam, desto hartnäckiger kroch ihr die Erinnerung den Nacken hoch. Hörte das nie auf? Sie wollte keine Angst mehr haben.

„Du Schlampe!“ Die hasserfüllten Worte hatten seit damals in ihrem Kopf widergehallt. Die Angreifer konnte sie nie eindeutig identifizieren. Eben noch verließ sie zum Feierabend des Spätdienstes das Redaktionsgebäude, und nur Sekunden später riss ihr jemand den Arm so gewaltsam nach hinten, dass er aus dem Gelenk sprang, und presste ihren Kopf auf das nasse Kopfsteinpflaster.

„Das wirst du noch bereuen. Wir machen dich alle!“ Er spuckte beim Sprechen und verstärkte den Druck auf den schmerzenden Arm. Vor ihren Augen ließ er mit der freien Hand ein obszön großes Messer aufblitzen und drehte es hin und her. Liv wurde übel. Im Stahl des Messers spiegelten sich die Parkplatzlampen. Sollte das das Letzte sein, was sie von der Welt sah? Bitte nicht!

„Hey! Was wird das denn da?“ Ihr Kollege Niels ließ seine Tasche fallen und rannte in ihre Richtung. Sofort sprang der Angreifer auf und flüchtete in das angrenzende Gewerbegebiet, das um diese Zeit verlassen dalag. Niels lief einige Schritte in die Richtung des Flüchtenden, stoppte aber sofort neben Liv.

„Alles okay bei dir?“ Er half ihr vorsichtig auf.

„Mein Arm ... verdammt …“ Liv zog sich an seiner Hand hoch und sah Sterne. Sie taumelte, und Niels sah, dass ihr Arm in einer unnatürlichen Haltung herunterhing.

„Oh! Mist. Das sieht nicht gut aus. Wir fahren sofort in die Notaufnahme und rufen die Polizei“, bestimmte Niels. „Wer war der Typ? Kanntest du den?“

„Nee, aua. Das tut scheiße weh!“

Als sie Stunden später aus dem Polizeirevier traten, gähnte Niels und Liv rieb sich den verbundenen Arm, der nun wieder an der dafür vorgegebenen Stelle saß. Einrenken kam auf die Liste der Dinge, die sie niemals wiederholen wollte. Magenspiegelung, Weisheitszahn-Ziehen und Fallschirmsprünge waren da bereits vermerkt.

„Ich schreibe ab jetzt nur noch Nachrufe und Gebrauchsanweisungen.“

„Denkst du, es hat immer noch mit den Artikeln zu tun?“

Liv zuckte mit den Schultern und stöhnte vor Schmerz auf. Nachdem sie mit ihrer Enthüllung über einen groß angelegten Wettbetrug im Fußball viel Staub aufgewirbelten hatte und es Morddrohungen gab, wurde sie für Wochen unter Polizeischutz gestellt. Ihr Chefredakteur war seinerzeit hoch erfreut, weil die ganze Republik über kaum was anderes sprach und sein Blatt mit Livs Artikeln immer wieder zitiert wurde. Liv jedoch war über den Hass, der ihr von einigen Ultra-Gruppierungen entgegenschlug, erschüttert. Dennoch wollte sie sich nicht einschüchtern lassen. Sie hatte das Richtige getan. Bis heute war nicht klar, ob alle Hintermänner im Zuge der dem Artikel folgenden Ermittlungen entdeckt wurden. Viel zu oft hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht abschütteln können. Nie hatte sie jemanden gesehen, aber die Angst saß ihr noch heute in den Knochen. Wenn die Dämmerung einsetzte, war es am schlimmsten. Ohne den Personenschutz wäre sie vor Angst verrückt geworden und hätte ihre Wohnung niemals verlassen.

Als das Verfahren fast vorbei war, sah die Polizei keine Notwendigkeit mehr, Steuergelder in ihre Sicherheit zu investieren. Eines Morgens stellte Liv fest, dass keine Beamten mehr vor ihrer Tür waren, und griff sofort zum Hörer. Das konnte nur ein Irrtum sein! Man hatte ihr doch umfassende Bewachung zugesagt.

„Frau Mika, ihre Aussage ist gemacht, der Staatsanwalt hat sein Plädoyer gehalten, und es gibt daher keinen nachvollziehbaren Grund mehr, dass Sie in Gefahr sind. Dieser Meinung ist auch unser stellvertretender Präsident Heinz Rachow. Er hat den Rückzug persönlich angeordnet“, klärte der Beamte sie seinerzeit lapidar auf.

Liv schluckte und ließ den Hörer fallen. Sie zitterte und fühlte sich völlig nackt.

„Hast du schon mal über einen Schutzhund nachgedacht?“, fragte Niels und brachte damit bei ihr einen Gedankengang ins Rollen.

„Zeus? Apollo? Oder besser beide?“, hatte Liv lachend gefragt. Beide erinnerten sich gerne an Magnum, den Ferrari und die knurrenden Dobermänner.

Mit einem Ruck kam der ICE in Hannover zum Stehen, und Liv packte hastig ihre Sachen zusammen. Hatte der Schaffner den nächsten Halt gar nicht angesagt? Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie beinahe den Ausstieg verpasst hätte. Rasch schob sie sich samt Hund und Gepäckstücken polternd durch die Tür.

Weggeworfen

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