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8. Liv

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Zweimal rollte Liv mit dem Mietwagen am Haus vorbei. Hier sollte das sein? Hatte Bögershausen diesen gelben Würfel bei einem Preisausschreiben gewonnen? Sie verglich die auf den Hotelblock hingekritzelte Adresse mit der Hausnummer an der toskanischen Stadtvilla. Liv wendete und parkte den Wagen in einer Seitenstraße. Besser war es, wenn Hund und Auto für Bögershausen unsichtbar blieben. Der machte sich bestimmt sowieso schon vor Angst ins Hemd. Wenn er erst Frieda sehen würde, wäre es mit seiner Kooperation vermutlich vorbei. Bögershausen musste auch davon ausgehen, dass sie jemandem von dem Besuch erzählen würde. Als Liv den Motor abstellte, sprang Frieda im Kofferraum auf und wedelte mit dem Schwanz.

„Tut mir leid, Süße. Du musst hierbleiben.“

Frieda legte den Kopf schief.

„Platz.“

Das Wedeln hörte auf. Seufzend ließ sich der Hund wieder sinken.

Puristische Betonbauten im Bauhausstil, klassische Kaffeemühlenvillen und Klinkerhäuser, umgeben von gepflegten Gärten, säumten die Straße. Hier saßen sie also, die Besserverdienenden der Stadt. Was die wohl von Bögershausens puddingfarbenem Villen-Traum hielten? Liv öffnete die Gartenpforte und ging den breiten, von einer mannshohen Eibenhecke gesäumten Weg auf das Haus zu. Ob er sie wohl schon beobachtete? Zusammen mit Frieda hätte er sie sicher nicht reingelassen. Da die Tür einen Spaltbreit offen stand, war Liv klar, dass er sie bereits gesehen haben musste und festgestellt hatte, dass sie nicht mit einem Sondereinsatzkommando oder, noch schlimmer, mit einem Fernsehteam ins Haus stürmen wollte.

„Hallo? Herr Bögershausen?“ Liv zögerte, schob die Haustür weiter auf und prüfte die Lage. Alle Türen, die von der Eingangshalle abgingen, waren verschlossen. Nur der Eingang zu einer Art Bibliothek stand offen und gab den Blick auf ein dunkelbraunes Bücherregal frei. Aha. Ein typischer Männerraum, wo sich der Bewohner mit vermutlich nie gelesenen Klassikern, schweren Clubsesseln und einer Havanna-Zigarre furchtbar wichtig fühlen konnte. Ohne noch einmal „Hallo“ zu rufen, schloss Liv die Tür hinter sich und betrat die Bibliothek.

Der Gestank von Urin und Kot schlug Liv entgegen. Er rührte von einer Pfütze auf dem Fußboden her. Darüber hing ein massiger Körper.

Liv erstarrte. Eine dicke, blasse Zunge hing der Leiche aus dem Mund. Sie kannte Bögershausen nur von Fotos, aber es war unverkennbar der Staatssekretär, der sie aus hervorquellenden Augen anglotzte. Mit weichen Knien ging Liv um den baumelnden Körper herum und hielt sich die Nase zu. Ihre Gedanken rasten. Er hatte sich erhängt? War ihr Anruf schuld? Hatte sie ein Menschenleben auf dem Gewissen? Liv griff nach ihrem Blackberry und schoss mit zitternden Fingern Fotos von der Leiche, dem Raum und den Papieren, die auf dem massiven Schreibtisch lagen. Wusste jemand, dass sie hier war? Sollte sie die Polizei rufen? Bloß nichts anfassen!

Liv entdeckte neben einem Clubsessel ein Smartphone auf dem Beistelltisch. Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, verschwand es in ihrer Tasche.

Irgendwo über ihr im Haus knarrte es. Livs Herz stolperte und raste dann los. Sie rührte sich nicht und lauschte. Alles ruhig. Kein Knarren. Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet? Saß da oben eine ahnungslose Ehefrau? Sie hatte angenommen, dass Bögershausen mit diesen Neigungen eher alleine lebte. Dröhnend rauschte das Blut durch ihre Ohren. Das war das einzige Geräusch. Sonst blieb alles still im Haus. Draußen zwitscherte ein Vogel.

Langsam beruhigte sie sich und schalt sich eine hysterische Idiotin. Sie stand neben einem vor Kurzem erhängten Mann, mit dem sie verabredet war. Kein Wunder, dass ihre Sinne durchdrehten. Liv atmete einmal tief durch und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Der Vogel verstummte. Parkett knarrte. Liv keuchte. War das noch oben? Oder kamen die Schritte näher? Nichts wie raus hier. Liv wirbelte herum, verbarg sich hinter der Tür und horchte angestrengt.

Da! Eindeutig Stimmen von oben! Sie klangen gedämpft, wie durch eine verschlossene Tür. Zwei oder mehr Männer unterhielten sich. Liv konnte keine einzelnen Wörter heraushören, aber es klang nach einem Streit. Wenn die oben auf die Galerie traten und zur Bibliothek schauten, war sie geliefert! Zögernd schaute sie um die Ecke. In der Halle war nichts zu sehen. Sie schlich sich an der Wand entlang. Ihre Sneakers machten kein Geräusch auf den Marmorfliesen.

Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet. Liv drückte sich flach an die Wand. Sie stand unterhalb der Galerie. Ein Blick über das Geländer würde reichen. Liv lauschte auf die Schritte. Bitte, bitte bleibt da oben. Eine Stufte knarrte. Verdammt! Jemand kam die Treppe herunter. In wenigen Sekunden würde er sie sehen. Hektisch schaute sie sich um. Da, die Garderobe! Liv huschte hinter einen ausladenden Kleiderständer, der mit Mänteln behangen war, und rührte sich nicht.

Die Schritte kamen näher. Liv hielt die Luft an. Sie gingen vorbei. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Wenige Sekunden später hörte sie ein Plätschern. Raus hier! Bevor der Kerl vom Klo kam. Mit zwei Sätzen war sie an der Haustür, öffnete sie nur einen Spaltbreit und schlüpfte durch. Sie zog die Tür nicht ganz ins Schloss, zerrte ihre Kapuze über den Kopf und sprang auf die andere Seite der Hecke. Hinter der angelehnten Haustür hörte sie die Spülung rauschen. Liv schaute durch die eng gepflanzten Büsche. Die Tür schwankte langsam nach innen auf. Liv zuckte zurück und ging in die Hocke. In der Tür tauchte ein Mann auf und schaute sich um. Durch die Blätter konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Der Mann blieb in der Tür stehen und wartete. Livs Herz trommelte los, alle Muskeln waren angespannt. Mit aller Gewalt zwang sie ihren Körper, weiter in der hockenden Position zu bleiben. Gleich würde sie einen Krampf bekommen.

Der Mann verschwand wieder im Haus. Die Tür wurde geschlossen. Liv richtete sich etwas auf, schaute noch mal über ihre Schulter und rannte im Schutz der Hecke zum Tor. Sie kletterte über den verschnörkelten Zaun und sprang auf den Bürgersteig. Stand einer der Kerle hinter einem Fenster und hatte sie beobachtet? Sie spähte zurück. Nichts zu sehen. Die Straße lag ausgestorben vor ihr. Liv ging in Richtung Auto. Nicht rennen, Liv. Nicht rennen! Ihr Herz überschlug sich fast. Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. Da! Liv drückte auf die Türentriegelung, stieg ein und startete den Motor.

Im Auto überfiel Liv ein unkontrollierbares Zittern. Sie bog in eine Seitenstraße ein, schaffte es gerade noch aus dem Auto heraus und übergab sich auf dem Grünstreifen. Erschöpft hockte sie sich auf die Erde. Ihre Speiseröhre brannte, und ihre Haut war mit einem kalten Schweißfilm überzogen. Himmel! Was war hier nur los? Frieda stand hinten im Kofferraum und beobachtete Liv. Sie rief der Hündin ein paar beruhigende Worte zu, ließ sich wieder auf den Fahrersitz fallen und koppelte ihren Blackberry mit der Bluetooth-Schnittstelle des Leihwagens.

„Mike, ich bin’s.“ Liv räusperte sich.

„Hey, du. Ist alles okay? Du klingst nicht gut.“

„Nein, hier ist auch gar nichts gut“, antwortete Liv und kniff die Augen zu, damit sie nicht anfing zu weinen.

„Bögershausen, der Staatssekretär, hängt tot in seinem Arbeitszimmer. Wir waren verabredet. Er war es, den wir auf dem Bild von Edgar gesehen haben.“

„Bitte was? Wieso bist du da alleine hingefahren? Jetzt ist der tot? Hast du die Polizei gerufen? Geht es dir gut? Ist Frieda bei dir?“

„Ich bin okay. Polizei? Ist das dein Ernst? In dieser Stadt? Nein, ich habe nur Bilder gemacht und bin da sofort raus. Ich glaube, im Haus war noch jemand.“

„Da war jemand? Liv, alarmier die Bullen. Sag, dass du unter Schock gestanden hast. Aber ruf da um Himmels Willen an!“ Mikes Lautstärke schwoll mit jedem Satz an.

„Nein.“

„Wie, nein? Nein wie: Ich entferne mich von einem Tatort, informiere nicht die Polizei, mache mich damit verdächtig oder werde selber vielleicht ermordet? Meinst du dieses Nein?“

„Mike, ich war vorsichtig. Mich hat niemand gesehen, keiner kennt meinen Namen. Ich will an der Geschichte dranbleiben!“

„Weißt du, ob da nicht am Ende Kameras im Haus sind? Hast du etwas angefasst?“

„Und wenn schon? Ich kann genauso gut an einem anderen Tag da gewesen sein. Kameras habe ich nirgendwo gesehen.“

„Lass es. Keine Story ist es wert, dafür zu sterben! Wir machen es anders. Du kommst zurück, und wir vergessen, dass da jemals etwas war. Scheiß auf die Bullen. Die sollen ihren Job alleine erledigen. Aber verlasse diese Stadt.“

„Nein. Dieses Mal nicht.“

„Liv, mach keinen Mist. Das hier hat nichts mit damals zu tun.“

„Es ist meine Entscheidung. Ich will wissen, was hier los ist. Bitte versteh das.“

Liv legte auf und schaltete das Telefon aus. Mike würde tobend durch die Redaktion stürmen. Sie musste dringend auf ihr Zimmer, heiß duschen und in Ruhe überlegen, was jetzt zu tun war.

Weggeworfen

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