Читать книгу Es sind doch nur drei Wochen - Tom Sailor - Страница 11
Mit dem Nachtzug durch Indien
ОглавлениеAls Erik seinen Schlüssel an der Rezeption abholen möchte, erfährt er, dass ein Besucher auf ihn wartet. Der Concierge deutet auf einen Inder, der in der Nähe auf einer Couch sitzt. Erik nimmt seinen Schlüssel und geht zu dem jungen Mann, der ihn erwartungsvoll ansieht.
»Good afternoon, Sir, I am Anil.« stellt der junge Mann sich vor. Er ist der Mitarbeiter aus dem Firmenbüro. Als Erik nachfragt, erklärt Anil, dass er bereits seit zwei Stunden auf Erik wartet. Wenn Indien etwas besitzt, dann Zeit. Vielleicht hat Anil die Atmosphäre im Hotel als bezahlte Arbeitszeit sogar genossen.
»We need to go to customs at airport«, erläutert ihm Anil. »Please collect your passport and come with me. We need to solve the matter today.«
Etwas verwundert über diese plötzliche Eile holt Erik seinen Pass und folgt Anil vor das Hotel. Dort erscheint sofort ein Fahrzeug, in dem sie beide auf dem Rücksitz Platz nehmen. Eigentlich wollte Erik etwas essen, aber aufgrund dieser Eile ist es nicht möglich. Nach einer Stunde Fahrt durch die verstopfte Stadt erreichen sie den Flughafen und gehen direkt zu dem Anbau, in dem Erik die Koffer verstaut hat. Anil diskutiert kurz mit einem Aufpasser vor der Tür, der sie daraufhin einlässt. Zielstrebig wandert Anil zu einem Büro und tritt nach kurzem Klopfen ein. Fröhlich begrüßt er einen Zollbeamten und plauscht mit ihm ein paar Minuten, wobei Erik vor der Tür bleibt. Als ein weiterer Mitarbeiter auftaucht, erhebt sich der Beamte schließlich und alle zusammen gehen den Flur entlang zum Lager. Dort muss Erik die Koffer identifizieren und auf einen Trolley packen. Über einen Fahrstuhl gelangen sie dann in den ersten Stock in einen lang gezogenen Raum, in dem Erik dann aufgefordert wird, den Inhalt der Koffer auf einem Tisch auszubreiten. Gegenüber befinden sich lange Tischreihen, auf denen etliche Kataloge aus allen erdenklichen Teilen der Welt liegen. Schließlich kommt ein junger Zöllner und begutachtet die Gegenstände aus Eriks Koffer. Dabei handelt es sich hauptsächlich um elektronische Karten, die für die Steuerung des Kraftwerkes vorgesehen sind. Nach einem kurzen Blick wendet sich der junge Zöllner den Tischen auf der Rückseite zu und kramt einen dicken Katalog hervor. Langsam blättert der junge Kollege die Seiten um und versucht die Gegenstände aus Eriks Koffer wieder zu finden. Gespannt tritt Erik hinter den Zöllner und erkennt, dass es sich um den Katalog eines amerikanischen Warenhauses handelt.
»Da wird er nichts drin finden!« resümiert Erik und überlegt, wie er das Thema lösen kann. Schließlich landet der junge Zöllner auf einer Seite mit Computerkarten für den Anschluss von Druckern. Erik versucht sein Glück und ruft: »That's it. You found the cards from my suitcase!«
Der junge Zöllner blickt ihn etwas überrascht an und scheint kurz zu überlegen, ob er widersprechen soll.
»Are you sure?«, fragt er mit prüfendem Blick in Eriks Richtung.
»Yes of course, we need to install printers for the plant to document the protocols!«, versucht Erik etwas mehr Plausibilität in die Geschichte zu bekommen. Der Zöllner liest noch einmal die Beschreibung im Katalog und da dort bestätigt wird, dass diese Karten für Drucker vorgesehen sind, notiert er sich die Daten und Preise auf einem kleinen Notizblock.
Anschließend darf Erik die Gegenstände wieder in die Koffer packen und folgt dann Anil zu einem Büro, in dem der junge Zöllner einige Formulare ausfüllt. Nachdem Erik und Anil die Formulare unterschrieben haben, erklärt ihm Anil, dass Erik die Koffer mitnehmen kann, er aber seinen Reisepass als Pfand hier lassen muss. Anil wird am nächsten Tag wiederkommen und erfahren, wie hoch die Strafe ist. Wenn die bezahlt ist, bekommt er auch den Reisepass wieder. Etwas zögerlich übergibt Erik seinen Pass und verlässt dann mit Anil das Zollgebäude. Die Prozedur hat nur eine Stunde gedauert und Erik ist froh, dass er nun endlich wieder ins Hotel kann. Die Fahrt zurück geht wie gewohnt schleppend voran, so dass sie nach einer weiteren Stunde wieder im Hotel sind. Sofort kümmern sich wieder die Angestellten um die Koffer und bringen sie nach einem kurzen Hinweis von Anil in einen Raum neben dem Empfangsdesk, der als Lager für Koffer gedacht ist. Anschließend übergibt er Erik die Bahnfahrkarte und erklärt, dass er neben dem Gepäck aus dem Zoll, noch fünf weitere Kisten zur Baustelle mitnehmen soll. Etwas verwundert schaut Erik ihn an. »How shall I handle all this?«, fragt er Anil.
»No problem, Sir, we will arrange everything! Trust me.«, erklärt Anil, als er sieht, dass Erik seine Stirn runzelt. »I show you the luggage«.
Erik betritt mit Anil den Gepäckraum im Hotel, um sicherzustellen, dass er auch weiß, um welche Kisten und Koffer es sich handelt. Das Hotel scheint so etwas gewohnt zu sein. In dem Nebenraum, gleich hinter der Rezeption ist Erik dann doch von der Menge Gepäck überrascht, die er mitnehmen soll. Dabei handelt es sich um eine Reihe silberfarbener Blechkisten. Als Erik versucht, eine anzuheben, stellt er fest, dass dies durch einen Mann kaum zu schaffen ist. Na, das wird noch ein Spaß, das alles heute Abend zum Bahnhof zu bringen, malt er sich aus. Der Zug soll gegen acht Uhr am Abend abfahren. Bis dahin hat Erik noch etwas Zeit, um sich auszuruhen. Außerdem wollte er ja noch etwas Essen.
In dem »International Restaurant« neben der Lobby studiert Erik die Speisekarte und stellt fest, dass man neben wenigen traditionellen indischen Gerichten auch etliche anbietet, die europäisch anmuten. Erik findet, dass er heute genug Eindrücke des Landes gesammelt hat und bestellt sich ein Putensteak mit Pommes und ein Bier.
Erik hatte Anil gefragt, wann er denn vom Hotel aufbrechen soll, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Die Fahrt dauert maximal 15 Minuten, hat ihm Anil erklärt. So steht er also um sieben Uhr am Abend in der Lobby, um auszuchecken und den Transport der vielen Gepäckstücke zu organisieren. Doch die Sorgen, die Erik anfangs noch wegen des Transports hatte, sind unbegründet. Nach einem Hinweis beim Concierge, dass das Gepäck zum Bahnhof soll, eilen vier Angestellte des Hotels herbei, die alles organisieren, ohne dass Erik auch nur einen Finger krumm machen muss. Sofort sind drei Taxen organisiert, ohne dass Erik zum Taxi-Desk gehen musste und mit dem Gepäck beladen. Erik steht fasziniert daneben und wundert sich, wie sich das Problem regelrecht in Luft auflöst. Indien hat einfach genug Hände, die anpacken können. Wer das nötige Kleingeld hat, kann sich sein Leben schon recht bequem einrichten. Nach einer kurzen Fahrt erreicht die Karawane den Bahnhof. Es ist einer der größeren Bahnhöfe in Delhi. Auf der Fahrt dahin überlegt Erik, wie das nächste Problem zu lösen ist: nämlich die ganzen Koffer und Kisten an den richtigen Bahnsteig zu bringen. Anil hat ihm erklärt, dass er mit dem Deradhun Express fahren wird und dass am Bahnhof Träger sind. Die langen Verbindungen haben einen eigenen Namen. Dieser Zug fährt von Deradhun über Delhi nach Mumbai und nennt sich daher Deradhun Express. Die Entfernung beträgt knapp 1.700 km und er muss irgendwo in etwa der Hälfte der Strecke aussteigen. Doch die Frage der Träger löst sich schnell. Kaum hat das Taxi vor dem Bahnhof gehalten, erscheinen schon die Kofferträger. Zu erkennen sind die organisierten und offiziellen Träger an einem Messingreifen am Oberarm. Dieser Messingreifen ist quasi der Dienstausweis. Auch hier herrscht wieder eine klare Hierarchie. Der Chef einer Gruppe fragt Erik nach dem Ticket. Erik hält dem vermeintlichen Chef sein Ticket entgegen und zeigt gleichzeitig auf die drei Taxen. Erik geht nicht davon aus, dass der Träger Englisch spricht, den Sinn von »O, K.?« mit einem fragenden Blick sollte man aber international verstehen. Der Träger antwortet immer wieder mit einem Kopfwackeln. Es war nicht das Kopfschütteln, was in Europa als Nein gedeutet wird, sondern ein merkwürdiges seitwärtiges Wackeln des Kopfes von rechts nach links. Die Feinheit zwischen einem Ja-wackeln und einem Nein-wackeln kann Erik noch nicht erkennen, so dass er unsicher ist, ob der Trägertrupp wirklich verstanden hat, worum es geht. Für den Chef scheint die Sache aber doch klar zu sein. Er hat angesichts der Gepäckmenge beschlossen, dass er noch eine zusätzliche Gang benötigt und winkt einer anderen Gruppe zu, die sofort dazu kommt. Die zwei Chefs der jeweiligen Clans liefern sich ein kurzes, aber lautes Wortgefecht, was vermutlich die Bezahlung betrifft. Schließlich scheinen sie sich aber handelseinig geworden zu sein. In atemberaubender Geschwindigkeit schnappen sich die Träger die Koffer und Kisten, stapeln alles auf ihren Köpfen und marschieren als menschliche Karawane durch das Gewühl. Etwas unsicher stapft Erik hinterher und fragt sich, ob das alles auch so richtig ist. Kann man den Leuten trauen? Werden sie Erik im Bahnhof tatsächlich an den richtigen Bahnsteig führen oder ist Erik jetzt einer Verbrecherbande ausgeliefert, die mit ihm um die Ecke geht, um ihn auszurauben? Werden auch alle Kisten ankommen, oder reißen sie sich irgendeine Kiste unter den Nagel?
Als sie den Bahnhof betreten, schlägt Erik als erstes ein unerträglich penetranter Geruch entgegen. Wer ihn das erste Mal erlebt, sollte einen robusten Magen haben. Es sind tausende von Menschen, die sich über die Bahnsteige bewegen. Es ist wie ein Ameisenhaufen, den man mit einem Stock aufgescheucht hat. Wenn da nicht dieser Gestank wäre. »Ameisen riechen nicht so,« denkt Erik, »das gleicht eher einer aufgeplatzten Eiterbeule!«
Erik fühlt sich wie im Vorhof der Hölle. Ein extremer Lärm aus dem Geschrei von Verkäufern, dem Quietschen haltender Züge, unverständlichen Lautsprecherdurchsagen und einem Rauschen vieler hunderter Stimmen. Dazu all der Dreck, gegen den die Besenkehrer nicht ankommen. Die Menschen scheinen keinerlei Rücksicht zu nehmen, sondern interessieren sich nur für ihr eigenes Vorwärtskommen. Egal, ob es sich um Zigarettenkippen, leere Schachteln oder Bonbonpapier handelt. Alles wird einfach auf den Boden fallen gelassen. Es gibt ja Menschen, die ihr Geld damit verdienen, den Dreck wieder zu beseitigen. Erik erinnert sich an die häufig gemachte Aussage von Ausländern, die gefragt werden, was ihnen an Deutschland gefallen hat: »Es ist alles so ordentlich und sauber.«
Es ist kaum vorstellbar, wie es auf deutschen Bahnhöfen und Straßen aussehen würde, wenn die Menschen ebenso rücksichtslos mit ihrer Umwelt umgehen würden. Und dieser Gestank, dieser widerlich penetrante Gestank nach Urin und Müll, der als faulige wabernde Wolke über allem liegt, es umhüllt und in alles einzudringen scheint. Es ist unmöglich, auf Distanz zu bleiben. Erik ist gezwungen. mit den Trägern Schritt zu halten und in diese Masse einzutauchen und mit zu schwimmen. Die vielen Menschen drücken und drängeln fortwährend, so dass er ständig mit irgendeinem anderen Menschen direkten Kontakt hat. Sein anfänglich leichter Ekel ändert sich mit der Zeit in eher phlegmatische Gleichgültigkeit. Er folgt den Trägern fast wie betäubt von den vielen extremen Eindrücken.
Auf dem Weg zu dem hoffentlich richtigen Bahnsteig umkurven die Träger etliche farbige Tücher, die am Rand der Bahnsteige auf dem Boden liegen. Auf den meisten sitzt eine Frau mit einem oder mehr Kindern und diversen Utensilien, wie Töpfen und Behältern. Erik wundert sich zunächst, warum diese Tücher mitten auf dem Bahnsteig liegen und warum alle respektvoll diese Decken umrunden. Das ist nicht ganz selbstverständlich bei so vielen Menschen, die sich hier dicht gedrängt bewegen. Langsam dämmert es ihm: diese Tücher markieren den Wohnbereich einer Familie. Sie haben keine Wohnung, sondern leben halt dort, wo sie arbeiten. Die Frau hütet den Platz und der Mann ist vielleicht als Kofferträger in Eriks Karawane unterwegs. Schließlich hält die Reisegesellschaft mitten auf einem Bahnsteig an und stapelt die Kisten übereinander zu einem ansehnlichen Lager. Der Zug ist noch nicht da und Erik hat somit Zeit, das Treiben zu beobachten. Die Menschen sehen alle irgendwie müde aus. Es ist verständlich, da es Abend ist und sicher ein anstrengender Tag hinter ihnen liegt. Ein jeder eilt irgendwohin. Entweder als Reisender, der seinen Zug nicht verpassen möchte, oder als Händler, der seinen Tee, Reiskuchen oder sonst etwas an die Reisenden verkaufen möchte. Vereinzelt kann Erik beobachten, wie ein Mensch auf die Gleise springt und in der Hocke sitzen bleibt. Es ist für viele wohl die einzige Möglichkeit, ihre Notdurft zu verrichten. Das erklärt dann auch den penetranten Gestank. Ständig laufen Händler an ihm vorbei, die irgendwelche Bonbons, Zigaretten und sonstige Kleinigkeiten anbieten. Dazu rufen Sie mit einer überraschend lauten Stimme in einem ständigen und schnellen Singsang: »Toddi toddi toddi …«
Eriks Träger haben sich sofort wieder aus dem Staub gemacht ohne etwas zu sagen und auch ohne Geld zu verlangen. Erik fragt sich, ob er das Gepäck jetzt alleine in den Zug schleppen muss, oder ob die Träger wieder zurückkommen. Vielleicht warten sie auch nur, bis der Zug kommt und nehmen die Gelegenheit wahr, in der Zwischenzeit noch für andere Reisende tätig zu werden. Eine Sitzgelegenheit gibt es nicht. Also steht Erik einfach so am Rande seines Gepäckberges und studiert die Szenen um sich herum. Plötzlich sieht er mit Entsetzen, wie eine Ratte in seinem Gepäcklager verschwindet. Es ist sinnlos, da jetzt etwas zu unternehmen. Vermutlich würden die Inder es nicht verstehen, wenn er sich da jetzt aufregt. Also bleibt nur die Hoffnung, dass die Ratte nicht die Koffer und Kisten anknabbert und als blinder Passagier mit reist.
Als dann der Zug einfährt, ist Erik zunächst irritiert, weil die Träger immer noch nicht wieder da sind. Natürlich hat Erik ein Ticket erster Klasse erhalten. Der Begriff erste Klasse ist allerdings immer relativ zu sehen und orientiert sich an dem landestypischen Standard. »First Class« im Deradhun Express bedeutet, dass maximal 4 Personen im Abteil sind und in der Nacht jeder eine eigene Liegefläche bekommt. Das ist wichtig, da man diese nicht mit einem anderen Reisenden teilen muss, wie es in der nächst niedrigeren Klasse der Fall ist. Erik stellt fest, dass auf dem Ticket extra ausgewiesen ist: »First Class AC«. Was so viel bedeutet wie: eigenes Bett im 4 Bett compartment inklusive Klimaanlage und Deckenventilator. Bei der Einfahrt des Zuges sieht Erik, dass die hinteren Abteile nicht einmal Fenster, sondern lediglich Gitter vor den Öffnungen haben. Von daher reist er geradezu herrschaftlich. Gerade als Erik sich nach den Trägern umsieht, tauchen sie auch schon wieder auf und beginnen sofort damit, die Kisten in ein Gepäckabteil des Schlafwagens zu befördern. Erik ist wieder überrascht, wie flink und behende die Kofferträger den Berg an schwerem Gepäck verstauen. So oft, wie der Chef der Träger sich verneigt und »Thank you, Sir.« sagt, muss Erik ihn allerdings deutlich überbezahlt haben.
Im Zug stellt Erik fest, dass er das Abteil mit zwei Japanern teilt. Da er Japaner bisher als Ästheten kennengelernt hat, die viel Wert auf Sauberkeit und Hygiene legen, werden Japaner die Umstände in diesem Land vermutlich noch schlimmer empfinden als Europäer. Japaner sind sehr auf Distanz und Reinlichkeit bedacht. Ein Großteil der Japaner lehnt es ab, ein gebrauchtes Fahrzeug zu erwerben, weil die Sitze, Teppiche, das Lenkrad, usw. von anderen Menschen berührt wurden. Einige Fahrzeughersteller haben inzwischen ein Geschäft daraus gemacht, indem sie speziell aufbereitete Gebrauchtfahrzeuge anbieten, bei denen alle diese Teile ausgetauscht werden. Dieses nackte, dreckige Leben in Indien muss für einen japanischen Ästheten wohl eine harte Probe darstellen. Die Mitreisenden von Erik lassen sich aber nichts anmerken. Die Betten im Abteil sind schon gemacht, als sie das Abteil betreten. Es sieht alles ordentlich aus. Auch die Decken und Tücher sind frisch gewaschen und gestärkt. Erik fragt sich, ob diese Wäsche auch per Hand an irgendeinem Fluss gewaschen wird. Eigentlich ist es Erik egal, weil er mittlerweile doch recht erschöpft ist. Er legt seine Reisetasche an das Fußende und klettert in das obere Bett, wobei er sich angezogen auf das Bett legt, ohne sich zuzudecken.
»Mein Gott, wenn ich überlege, was ich in den letzten zwei Tagen alles erlebt habe? Das reicht eigentlich schon für einen ganzen Monat!«, überlegt Erik, als er auf dem Rücken liegt und die Anspannung etwas von ihm abfällt.
Erfreut stellt er fest, dass er sogar eine eigene Leselampe hat, so dass er etwas lesen könnte, wenn er denn wollte. Während er noch nachdenkt, ob er sich eine Zeitschrift nehmen soll, bemerkt er das Zeremoniell, mit dem die Japaner zu Bett gehen. Es ist eindeutig zu erkennen, wer der Chef und der Untergebene ist. Der Untergebene steht mit den Händen an der Hosennaht in halb gebeugter Stellung zwischen den Liegeflächen und murmelt irgendwelche »Gute Nacht Grüße« für seinen Chef. Erst dann, nachdem sein Chef sich endlich auf dem oberen Ruhelager gebettet hat, begibt sich auch der Untergebene auf seine Ruhestätte. Das Positive an Japanern ist, dass sie versuchen, unauffällig und höflich zu sein. Von daher sind es durchaus angenehme Mitreisende. Als der Zug sich in Bewegung setzt, ist Erik zunächst von dem deutlichen Schaukeln irritiert, da dies auf krumme Schienenwege hindeutet. Es fühlt sich an, als ob der Zug über einen alten Rumpelweg fährt und dabei von rechts nach links schwankt. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich aber auch daran. Zusammen mit dem regelmäßigen Rattern, das von den Übergängen der Schienen verursacht wird, fällt Erik in einen leichten Schlaf. Mehrfach in der Nacht wacht er zwar auf, da jedes Mal, wenn der Zug in einem Bahnhof anhält, zuerst die Bremsen fürchterlich quietschen und dann beim Anfahren ein kräftiger Ruck, begleitet von einem lauten Knallen, durch das Abteil geht. So schläft Erik in Etappen zwischen den Bahnhöfen und hat keine Ahnung, wo sie sind und wie gut sie vorankommen. Er ist gerade wieder eingeschlafen, als die Tür des Abteils geöffnet wird.
»Sir, Kota! 15 minutes, please.«
Der Schaffner steht mit einem Glas Tee in der Tür und weckt Erik. Erik hätte jetzt gerne einen starken Kaffee, würde notfalls auch Tee akzeptieren, lehnt den Tee allerdings dankend ab, da er den hygienischen Verhältnissen nicht ganz traut. Er fühlt sich wie gerädert. Durch die Zeitumstellung, den Flug, die Aufregung beim Zoll und die ungewohnte Bahnfahrt hat er in den letzten zwei Tagen nicht besonders viel geschlafen. Mit glasigen Augen und Haaren, die durch das Kopfkissen auf der einen Seite plattgedrückt und auf der anderen Seite widerspenstig abstehen, sitzt Erik schlaftrunken auf der Bettkante und hofft, dass diese Reise bald ein Ende nimmt. Um das Ausladen muss sich Erik zum Glück keine Sorgen machen. Kaum hat der Zug gehalten, hat der Schaffner sofort Träger organisiert, die sich die Kisten greifen und nach draußen schleppen. Erik lächelt in sich hinein, wenn er an seine anfänglichen Sorgen mit Blick auf den Berg Gepäck zurückdenkt. Zu seiner Erleichterung konnte er erleben, dass derartige Tätigkeiten in Indien überhaupt kein Problem darstellen. Man muss nur mit dem Finger schnippen und schon hat man beliebig viele Helfer zur Verfügung. Beim Verlassen des Zuges wartet der Schaffner an der Tür und Erik gibt ihm 10 Rupien Trinkgeld.