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Fünfzehn Monate früher

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Erik betritt etwas müde den Flur zu seinem Büro. Mit Gaby hat er gestern Abend auf dem Balkon eine Flasche Wein geleert. Dann sind sie spontan auf die Idee gekommen, im Freibad über den Zaun zu klettern. Zwangsläufig war die Nacht etwas kurz. Langsam schlendert er an den Türen der Arbeitszimmer vorbei, als ihm sein Chef, Andresen, über den Weg läuft. Wie immer ist er etwas hektisch, was den Eindruck vermittelt, dass er fünf Sachen gleichzeitig erledigt. Als er Erik sieht, bleibt er abrupt stehen.

»Hallo, Herr Jacobsen, wie geht’s?«, fragt er in einem Tonfall, bei dem man erkennt, dass er nicht wirklich eine Antwort erwartet: »Können Sie bitte kurz in mein Büro kommen?«

Es geht um einen neuen Auftrag. Das ist klar. Auf dem Weg überlegt sich Erik, welche Projekte denn in Betracht kommen könnten. Da gibt es diesen Staudamm in Sri Lanka oder das Kraftwerk in Malaysia, dann ist da auch noch diese Anlage in Dänemark oder die andere in der Nähe von Athen. Alles Orte, mit denen er sich irgendwie anfreunden könnte. Erik geht also frohen Mutes auf seinen Chef zu und muss sich dann beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Im Büro von Andresen setzt er sich auf den einzigen Stuhl vor dessen Schreibtisch. Es ist das typische Büro eines Workaholics. Terminpläne an der Wand, überall Stapel von Unterlagen und Akten, dazwischen diverse gebrauchte Kaffeetassen, unterschiedlich gefüllte Aschenbecher und am Rand eines Stapels, kurz vor dem Sturz auf den Fußboden, das obligatorische Familienfoto.

»Kaffee?«, fragt Andresen.

»Ist ja nett, dass er mir einen Kaffee anbietet, wo er doch selbst immer keine Zeit hat,«, denkt sich Erik. »Entweder will er etwas von mir oder er braucht selbst einen Kaffee und sieht sich daher gezwungen, mir etwas anzubieten. Egal, ich kann einen gebrauchen!«

»Ja, gerne!«, nickt Erik mit einem Lächeln.

»Frau Berger, sind Sie bitte so gut und bringen uns zwei Tassen Kaffee.«, ruft Andresen in das Nebenzimmer, dessen Tür geöffnet ist.

»Der letzte Job von Ihnen lief ja prächtig.«, wendet sich Andresen lächelnd an Erik.

»Nun, neben Können braucht man manchmal etwas Glück.«, erwidert Erik etwas ausweichend und überlegt, was der Chef von ihm will.

»Ich gehe mal davon aus, dass es etwas mehr Können als Glück war. Aber deshalb wollte ich eigentlich nicht mit Ihnen sprechen. Ich habe ein Problem in Indien. Wir liegen mit der Inbetriebnahme unserer Anlage schon deutlich hinter dem Zeitplan zurück. Und jetzt hatte Herr Bender einen kleinen Unfall und musste kurzfristig zurück nach Deutschland. Ich möchte Sie daher bitten, uns vor Ort für drei Wochen zu unterstützen, bis er wieder auf den Beinen ist.«, kommt Andresen zur Sache.

Indien hatte Erik völlig von seiner Liste gestrichen. Als das Wort Indien fällt, reagiert er innerlich fast reflexartig mit einem lauten »NEIN«.

»Es gibt so schöne Länder auf dieser Erde und ich soll nach Indien?«, schießt ihm ein Protestgedanke fast augenblicklich durch den Kopf. »Das ist jetzt etwas überraschend. Sie erinnern sich sicher, dass ich doch schon bei der Einstellung erklärt habe, dass ich da etwas voreingenommen bin. Das ist nicht gerade mein bevorzugtes Tätigkeitsland.«, erwidert Erik nun mit einem etwas abwehrenden Blick.

Andresen schaut ihn kurz, aber energisch an und schüttelt den Kopf.

»Ich weiß, es ist nicht gerade eine Belohnung, aber wir haben im Augenblick keinen anderen, dem wir zutrauen, dass er den Job hinbekommt. Ich traue ihnen durchaus zu, dass sie in eine Führungsposition hineinwachsen.«, lockt ihn Andresen. »Zum einen kann ich Ihnen anbieten, dass wir etwas mit Ihrem Gehalt machen. Sie sind noch nicht so lange bei uns. Sie haben die Gelegenheit, sich in einer Führungsposition zu behaupten und damit für höhere Aufgaben zu qualifizieren.«, fährt Andresen seine Argumente auf, »und außerdem, es sind doch nur 3 Wochen!«.

Erik überlegt kurz, wie er reagieren soll. Er weiß genau, dass eine Ablehnung nicht gut ankommen wird.

»Nun, was die drei Wochen angeht, so ist das ein überschaubarer Zeitraum. Ich würde da gerne noch mal auf Ihre Eingangs verwendeten Worte zurückkommen. Ich denke, dass ich Beweise geliefert habe, welchen Mehrwert ich der Firma biete. Daher würde ich gerne mit Ihnen über meine zukünftige Gehaltsentwicklung sprechen. Wenn ich dann in Indien bin, geht das ja leider nicht«, erklärt Erik.

Andresen stöhnt zwar, so als ob er eine Gehaltserhöhung aus eigener Tasche zahlen muss, willigt aber schließlich ein und hebt das Grundgehalt von Erik um immerhin 300,-€ an. Der negative Beigeschmack, den die Aussicht auf den Einsatz in Indien hinterlässt, wird somit von einem kleinen Erfolgsgefühl übertönt, so dass Erik mit etwas ambivalenten Gefühlen das Büro verlässt.

»Nach Anta soll es gehen. Mal sehen, wo das denn nun ist. Vielleicht irgendwo in der Nähe von einem Strand? Oder in Kaschmir, oder am Rande des Himalaya? Indien ist groß und das Abenteuer lockt schon ein wenig«, springen die Gedanken durch Eriks Kopf, als er zu seinem Arbeitsplatz geht und sich langsam an den neuen Gedanken gewöhnt. Leider kann ihm in der Firma keiner genau zeigen, wo die Baustelle liegt. Es hängt zwar eine große Weltkarte an der Wand, aber der Versuch diese Ansiedlung auf einer Weltkarte zu finden, ist nicht möglich. Nach einiger Nachforschung findet Erik die ungefähren Angaben: etwa 600 km südöstlich von New Delhi und etwa 200 km nördlich von Bopal. Die nächste größere Ortschaft heißt Kota. An Bopal kann Erik sich noch erinnern. Seine traurige Berühmtheit hat dieser Ort nach einem Chemieunfall erlangt. Dabei traten auf Grund von Fehlbedienung der indischen Betreibermannschaft giftige Stoffe in die Umgebung. Dieser kleine Unfall führte zu mehreren Tausend Toten und forderte an die 100.000 Verletzte. Erik fand es immer sehr irritierend, dass keine genauen Angaben zu den Toten und Verletzten gemacht wurden, sondern die Schätzungen immer um einige tausend Menschen voneinander abwichen. Heute ist ihm allerdings klar, warum die Zahlen in Indien nie genau ermittelt werden können und nur auf groben Schätzungen beruhen. Es gibt einfach keine verlässlichen Unterlagen, wie viele Menschen an einem Ort leben. Neben den Einheimischen gibt es viele Wanderarbeiter, die ständig auf der Reise sind. Um die Zahl der Menschen zu ermitteln, geht man wie bei den Ameisen vor. Man zählt eine überschaubare Fläche aus und rechnet dies dann auf die Gesamtfläche hoch.

»Da wird man von seiner Firma zu einem riesigen Projekt geschickt, bei dem für ein paar hundert Millionen ein Kraftwerk in die Wüste gesetzt wird und keiner weiß genau, wo das Ganze auf der Karte zu finden ist!«, wundert sich Erik, wobei sich ein merkwürdiges Gefühl einschleicht. Erik kann sich noch gut an den schlimmsten Fluch seines Großvaters erinnern, wenn dieser richtig wütend war: »Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst.« In Indien wächst Pfeffer.

»Ich brauch noch Ihren Pass, damit wir ein Arbeitsvisum beantragen können!«, wird Erik in seinen Gedanken von der Sekretärin unterbrochen, die unvermittelt vor seinem Schreibtisch steht.

»O. K., den kann ich morgen mitbringen.«, erwidert Erik.

»Ach ja,« fährt die Sekretärin fort, »gehen Sie am besten auch gleich bei unserem Betriebsarzt vorbei wegen der Impfungen. Der ist noch bis 11:00 Uhr da!«

»Impfen? Spritzen? Oh nein!«, schießen erschreckte Gedanken durch Eriks Kopf. Er hasst es, Spritzen zu bekommen. Als kleiner Junge musste er mehrere Wochen wegen einer Infektion im Krankenhaus verbringen. Jeden Morgen kam die Krankenschwester mit einem Rollwagen, um ihm und den anderen Kindern zum einen schmerzhafte Spritzen gegen irgendetwas zu geben und zum anderen mit einer Rasierklinge das Ohr anzuritzen, um etwas Blut abzunehmen.

Er hat die Worte »Stell Dich nicht so an, das tut überhaupt nicht weh!« der Krankenschwestern noch gut im Ohr. Nach ein paar Tagen war er so weit, dass er aus dem Bett sprang und versuchte, sich irgendwo im Zimmer zu verstecken, wenn er die Krankenschwester mit dem Spritzenwagen auf dem Flur hörte.

Durch die Schmerzen, die er jedes Mal fühlte, hat die Glaubwürdigkeit des medizinischen Personals erheblich gelitten. Vor allem hat er seit dieser Zeit eine regelrechte Angst vor Spritzen manifestiert. Die Aussicht, sich nun auch noch freiwillig Spritzen abzuholen, war alles andere als eine Freude für Erik. Mit einem mulmigen Gefühl und etwas weichen Knien geht er über das Gelände zu dem Sanitätsbereich. Der Arzt sieht auf dem Formular für die Kostenstelle, dass es nach Indien gehen soll. Auf einer Tabelle schaut er dann nach, was denn da so alles fällig wird. Da wäre zum einen die Impfung gegen Hepatitis A, gegen Typhus und gegen Cholera. Zu allem Überfluss erkennt der Arzt auch noch, dass die Tetanusimpfung überfällig ist, was einen weiteren Stich bedeutet. Zu seiner großen Freude ist die Impfung gegen Cholera eine Schluckimpfung, aber für alle anderen muss er jeweils einen Stich akzeptieren. Am Schluss gibt ihm der Arzt auch noch ein kleines Päckchen mit diversen Medikamenten mit. Ein kleiner, selbst erstellter Beipackzettel klärt über die Anwendungsfälle und die Dosierung auf. Erik wird langsam bewusst, dass sich dieser Job deutlich von seinen bisherigen Einsätzen unterscheidet. Für einen Einsatz in Europa hätte er sicher nicht zum Arzt gemusst. Erleichtert, dass er die Prozeduren überstanden hat, verlässt er schließlich nach einer Stunde den Sanitätsbereich.

Es sind doch nur drei Wochen

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