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Der Ambassador

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Die Anfänge der Kraftfahrzeuge liegen in Europa inzwischen so weit zurück, dass nur wenige das Fahrvergnügen in einer der ersten Automobile kennen. Die fast vollautomatisierten Geschosse, die heutzutage die Autobahnen bevölkern, sind vollgestopft mit mehr oder weniger nützlicher Elektronik, die viele Aufgaben erleichtern und automatisch übernehmen. Kaum ein Fahrer kümmert sich noch um die Funktion eines Motors, sondern fährt dann in die Werkstatt, wenn die Fahrzeuge über ihre Anzeigen im Display ein entsprechendes Verlangen ausdrücken. Wer kennt denn heute in Europa noch den Choke, der vor dem Starten des Motors gezogen werden musste und erst dann, wenn der Motor ausreichend warmgelaufen war, wieder zurückgestellt wurde. Das funktioniert mittlerweile vollautomatisch, ohne dass darauf ein Gedanke verschwendet wird. Nicht so in Indien. Seit mehr als 50 Jahren hat die indische Produktionsstätte Hindustan Motors nicht eine Detailänderung an ihrem Hauptprodukt zugelassen. Es ist wirklich noch genau derselbe Typ, wie er 1950 zum ersten Mal das Fließband verließ. Ein Auto in seiner ursprünglichen Bedeutung als Transportmittel. Das aktuelle Modell gibt es in zwei Varianten: bei der Farbe kann zwischen grauweiß oder grauschwarz gewählt werden. Das einzige optionale Zubehör ist ein passender Dachgepäckträger. Die Herstellerfirma hat für diese Kutschen den nach Noblesse klingenden Namen »Ambassador« gewählt. Es ist wieder ein so schönes Beispiel für dieses Land. Der Name verspricht, was er nicht hält. Daher hat sich der Volksmund einen eigenen Namen gesucht. Übersetzt heißt der Wagen »der schwangere Wasserbüffel«. Dieses Fahrzeug gilt in Indien als Beweis, dass Indien in der Lage ist, ein eigenes Auto herzustellen. Die Fahrzeuge haben in Bezug auf die Form allerdings eine große Ähnlichkeit mit den englischen Taxis. Der Prägestempel der Engländer hat in diesem Land überall seine Spuren hinterlassen. Angeblich handelt es sich sogar um ein original englisches Auto. Als es sich in England nicht mehr verkaufen ließ, wurde die Fabrik abgebaut und in Indien wieder aufgebaut. Irgendwann entstand dann die Legende, dass dieses Fahrzeug von den Indern selbst entwickelt wurde. Der große Vorteil dieser Konstruktion liegt aber auf der Hand. Sollte der Wagen irgendwo einmal liegen bleiben, so lässt sich die robuste und einfache Technik in fast jeder Dorfschmiede reparieren. Die Fehlersuche bei einem europäischen Fahrzeug erfordert den Einsatz computergestützter Diagnosesysteme. Jeder Hersteller hat dann auch noch unterschiedliche Anforderungen, so dass nur in den Hauptstädten Hilfe möglich ist. Hier draußen, tausend Kilometer entfernt, müsste ein defektes Fahrzeug erst umständlich bis zur nächsten Großstadt transportiert werden. Weil es in einem Ambassador aber keine exotischen Bauteile gibt, lässt sich fast alles mit ein paar Schrauben, einem Schweißgerät und ein paar gezielten Hammerschlägen wieder richten.

Erik erkennt an der Fahrweise von Mustapha, dass ein Europäer nicht so ohne weiteres mit solch einem Fahrzeug fahren könnte. Das Getriebe verlangt viel Einfühlungsvermögen. Es ist nicht synchronisiert und erfordert beim Schalten Zwischengas. Etwas, was die ersten Fahrzeuge brauchten, mit dem heute in Europa aber kein neues Fahrzeug mehr zu verkaufen ist. Zwischengas bedeutet, dass die Motordrehzahl ziemlich genau der Geschwindigkeit bei dem gewählten Gang entsprechen muss, damit die Zahnräder ähnlich schnell drehen und möglichst ohne große Geräusche ineinander rasten sollen. Wenn man den Gang ohne Zwischengas wechselt, kommt es zu einem lauten Protestgeschrei aus dem Getriebe, auch bekannt als Zähneputzen. Um also den Gang zu wechseln, muss man die Drehzahl mit dem Gehör erkennen, bevor man den Gang einlegt. Um solch ein Fahrzeug zu fahren, bedarf es viel Einfühlungsvermögen und Übung. In Delhi ist es Erik nicht aufgefallen, da er von den vielen sonstigen Eindrücken überwältigt war. Aber hier ist zudem nicht so viel Verkehr, so dass höhere Geschwindigkeiten möglich sind. Sobald die Straße frei erscheint, gibt der Fahrer Gas. Ortschaften interessieren nicht als Grund für eine Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern nur, ob potentielle Hindernisse auf der Straße sind. Erik muss leider feststellen, dass der Ambassador umso lauter wird, je schneller sie fahren. Nicht nur der Motor scheint gegen den Fahrer zu protestieren, sondern alle Teile, die sich in und an dem Fahrzeug befinden stimmen in den Chor der Gequälten ein. Die ungezügelten 36 Pferdestärken mühen sich wacker, den sicherlich nicht ganz leichten Wagen voran zu treiben. Ihre Fahrt wird somit von einem dröhnenden Orchester begleitet. Türen sind natürlich vorhanden, doch Gummidichtungen sind Luxus, so dass die Türen in ihren Fassungen ständig klappern und scheppern. Eine Unterhaltung bei dieser Geschwindigkeit ist nur noch fast schreiend möglich. Nach einiger Zeit hat der Wagen die Höchstgeschwindigkeit erreicht: 55 mph steht auf dem Tacho, was 90 km/h entspricht. Sofern der Wagen einmal Stoßdämpfer hatte, sie scheinen nicht mehr zu existieren. Das Fahrgefühl ähnelt eher einem Motorboot bei ruppigem Wellengang. Die Sitzbank vermittelt den Eindruck eines gepolsterten Sofas und tatsächlich, aus dem Loch in der Mitte der Sitzbank ragt das Ende einer Spiralfeder, die wohl nur darauf wartet, sich in einen Hosenboden zu krallen. Auf dem Boden liegt eine dickere Pappe, die wohl dafür gedacht ist, diesen Angriff auf den Allerwertesten zu verhindern. Die Straßen sind von Schlaglöchern und Unebenheiten übersät, so dass jeder Passagier auf den Sitzen wie auf einem Trampolin in Bewegung gehalten wird. Bei größeren Schlaglöchern läuft man allerdings Gefahr, mit dem Kopf an die Decke katapultiert zu werden. Sicherheitsgurte gibt es nicht. Nach wenigen Kilometern hat Erik es dann aber heraus, seinen Körper möglichst in Richtung aller drei Freiheitsgrade so abzustützen, dass er die Fahrt ohne blaue Flecken überstehen kann. Es ist keine wirklich entspannte Sitzhaltung. Erik erkennt, dass man die ganze Zeit die Muskeln anspannen muss, um gegen die Fahrzeugbewegungen anzukämpfen. Es ist also nicht nur für den Fahrer mit Arbeit verbunden, sondern auch für die Passagiere. Aber nicht umsonst heißt es: Besser schlecht gefahren als gut gelaufen. Mustapha lächelt in den Rückspiegel, als er sieht, wie verkrampft Erik hinter ihm Platz genommen hat. Erik ist sich nicht sicher, ob es nur ein freundliches Lächeln ist, oder ob Mustapha sich über die Sitzhaltung amüsiert.

»This is very good car.«, ruft Mustapha durch den Lärm. »You know, in India you need three things for driving: Good brake, good horn and good luck.”

Dass eine gute Hupe wichtig ist, ist wirklich nicht zu überhören. Das konnte Erik schon in New Delhi lernen. Alles und jeder Verkehrsteilnehmer versucht, durch maximalen Lärm auf sich aufmerksam zu machen. Es kommt Erik so vor, als ob jeder, der ein Fahrzeug führt, und nicht pausenlos die Hupe, die Fahrradklingel oder den handbetriebenen schwarzen Blasebalg an der Rikscha nutzt, mit einer Strafe rechnen muss. Auch an dem bunt angemalten LKW, der vor ihnen fährt, ist mit großen Lettern an die Rückseite geschrieben: »Horn Please!«

Die Fahrt zum Camp dauert immerhin fast zwei Stunden. Eriks Blick wandert aus dem Fenster über die weite Ebene, die sich rechts und links neben der Straße entlang zieht. Es gibt keine Berge, keine Flüsse oder Seen, keine Wälder und auch nur wenige Flecken mit etwas grün. Im Grunde ist die vorherrschende Farbe staub-grau. Ab und zu sieht man einen Bauern, der mit einer Kuh ein Feld pflügt. Aber im Großen und Ganzen sieht man nichts außer einem wüstenähnlichen, trockenen Boden. Auf der Straße ist ein mäßiger Verkehr, der hauptsächlich aus Ochsenkarren, LKWs, Fahrrädern und vereinzelten Fußgängern besteht. Von Zeit zu Zeit wird die Ödnis von einer kleinen Hütte unterbrochen, an der man Tee trinken und eine Kleinigkeit essen kann.

Schließlich passieren sie sogar einen Flusslauf, der über ein recht breites Bett verfügt, zurzeit aber eher nur so viel Wasser wie ein kleiner Bach führt. An der Seite steht ein alter Palast, der allerdings stark verfallen wirkt. Einige Außenmauern sind mittlerweile eingestürzt. Unter dem Dachvorsprung kann Erik recht große schwarze traubenförmige Gebilde erkennen. Mr. Bini erklärt ihm auf Nachfrage, dass es sich dabei um wilde Bienen handelt. Erik ist von der Größe überrascht, da diese Gebilde eine Länge von über einem Meter haben und somit Heimat für tausende von Bienen bieten dürfte. Das passt irgendwie nicht so ganz zu der trockenen, blütenlosen Umgebung, so dass sich Erik fragt, woher diese Bienen ihre Nahrung beziehen. Er vermutet, dass diese Bienen einen Vorrat in der Monsunzeit anlegen, so dass sie die trockene Zeit in ihrem Bau überdauern. Hier gibt es starke Monsunregen, die tagelang anhalten, so dass der kleine Bachlauf in dieser Zeit zu einem reißenden, gefährlichen Fluss wird.

Im Flussbett kann Erik neben der Brücke eine Querung erkennen, die erst kürzlich dort hergestellt worden ist, mittlerweile aber nicht mehr passierbar ist. Bevor Erik Mutmaßungen anstellen kann, erklärt ihm Mr. Bini nicht ohne Stolz, dass diese Querung extra gebaut wurde, um die schweren Turbinenteile zur Baustelle zu bekommen. Die Brücke hätte die tonnenschwere Last nicht tragen können, so dass tatsächlich in wochenlanger Arbeit eine Auf- und Abfahrt am Ufer mit mehreren hundert Arbeitern angelegt werden musste. Der Bach wurde dann durch mehrere parallel verlegte Betonrohre geleitet und diese Konstruktion dann mit einer Schicht aus Sand überdeckt. Erik ist von dem Aufwand überrascht, der betrieben werden musste, um hier in der Wildnis ein Kraftwerk zu bauen. Selbstverständlich ist es auch eine logistische Herausforderung, in Deutschland solch schwere und sperrige Güter zu transportieren. Die Herausforderungen in solch einem Land sind jedoch ungleich größer, so dass Erik fast ehrfurchtsvoll an die dahinter stehende Ingenieurskunst denkt. Nicht nur die Planung der Technik eines Kraftwerkes ist aufwendig, sondern auch der Transport der Teile zur Baustelle ist ein kostspieliges und kompliziertes Unterfangen.

In der Zwischenzeit ist die Sonne immer weiter am Himmel emporgestiegen. Nur eine kurze Zeit in der Morgendämmerung ist das Land von einem leichten Dunst umhüllt. Kaum aber ist die Sonne über den Horizont geklettert, ist sie schon so stark, dass sich keine Feuchtigkeit mehr in der Luft hält. Bei der Ankunft in Kota waren die Temperaturen noch angenehm. Jetzt ist das Klima nur noch staubig, trocken und heiß. Zu Beginn der Fahrt hatte Erik das Seitenfenster noch geöffnet. Doch die Hitze wurde immer größer, so dass die Luft, die in das Autofenster wehte, wie ein Heißluftföhn wirkt. Auch der Staub nahm parallel mit der Hitze zu, so dass Erik die Fenster schließen musste. Jetzt sitzt er in seiner verspannten Haltung im eigenen Saft und hofft, dass diese Reise endlich ihr Ziel erreicht.

»Das ist also der Bundesstaat Rajasthan!«, sinniert Erik vor sich hin, während er die Ödnis am Fenster vorbei streichen sieht. Auf der Karte ist das jetzt in der Mitte von Indien, weit, weit weg von der gewohnten Zivilisation.

Um die Wüste zu bewässern, hat Indien in den 60er Jahren ein gewaltiges Projekt umgesetzt, bei dem über hunderte von Kilometern etliche Kanäle durch das Land gezogen wurden, die nun wie kleine Flüsse den Bundesstaat durchziehen. Erik fällt allerdings auf, dass nur noch wenig Wasser in dem Kanal ist, den sie gerade überqueren. Eigentlich sind es nur noch einige Pfützen auf dem Kanalboden. Als sie über eine Brücke fahren, sieht er, wie in den wenigen Wasserpfützen LKWs gewaschen werden, ein paar Meter weiter eine Ziegenherde den Durst löscht und noch ein paar Meter weiter Menschen sich Wasser zum Kochen abschöpfen und sich direkt daneben waschen. Es scheint keinen wirklich zu stören, dass ölige Abfälle des LKWs das Wasser verschmutzen oder die Ziegen, die sicher nicht stubenrein sind, in demselben Wasser stehen und sicher auch etwas fallen lassen. Etwas angewidert beobachtet Erik, wie eine Frau diese Suppe in einen silberfarbenen Metallkrug füllt und auf den Kopf hebt. »Vermutlich werden sie dieses Wasser zum Kochen oder Trinken nutzen.«, vermutet Erik und wendet sich an Mr. Bini. »Mr. Bini, why is there no water in the channel?«

Mr. Bini erläutert ihm umständlich, dass der Kanal nacheinander durch drei Bundesstaaten verläuft. Da der letzte Bundesstaat seine Abgaben nicht entrichtet hat, hat derjenige Politiker, in dessen Einflussbereich der Stausee und damit die Macht über die Absperrschieber des Kanals liegt, kurzerhand den Ablauf in das Kanalsystem abgedreht. Auch die Bundesstaaten, die ihre Gebühr entrichtet haben, sitzen jetzt auf dem Trockenen.

Dies ist das zweite Erlebnis neben der Demonstration in Delhi, bei der Erik merkt, dass viel Missgunst und Taktieren auf der politischen Ebene existiert, wobei wenig Rücksicht auf die Menschen genommen wird. Solch eine Politik führt dazu, dass dieses Land bei der Modernisierung wohl ständig zwei Schritte vor und einen zurück machen dürfte. Erik war bisher der Meinung, dass die Menschen in Indien an einem Strick ziehen, um die Lebensqualität aller Menschen zu verbessern. Stattdessen wird mal wieder auf dem Rücken der kleinen Leute ein Machtkampf zwischen satten Politikern ausgetragen. Dieses Land oder besser die praktischen Erfahrungen sind dabei, Eriks Illusionen vom eigentlich Guten im Menschen zu zerstören.

Es sind doch nur drei Wochen

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