Читать книгу Es sind doch nur drei Wochen - Tom Sailor - Страница 3
In der Wüste
ОглавлениеSie ist ungefähr doppelt so groß geworden. Dafür aber deutlich flacher. Durch den aufgeplatzten Hinterleib hat sich ein fingernagelgroßer, roter Fleck an der Wand gebildet.
»Das hast du davon, wenn Du mir mein Blut klaust!«, zischt Erik mit grimmiger Stimme zwischen den Zähnen hervor und blickt triumphierend auf die blutigen Überreste seines Opfers. Er spürt einen leichten Schmerz in seiner rechten Handfläche, da er voller Wut äußerst heftig auf die Wand geschlagen hat. Die Genugtuung an diesem Mord in aller Frühe verschwindet jedoch augenblicklich, als sich der Gedanke an die mögliche Malariainfektion warnend in den Vordergrund drängt. Die ständige Bedrohung durch die Mücken besteht jetzt seit zehn Monaten, ohne dass Erik sich daran gewöhnt hat. Wenn man zuhause in Deutschland von einer Mücke gestochen wird, ist es ärgerlich. Hier ist es eine gefährliche Bedrohung, die wie ein böser Geist ständig hinter einem steht.
»Hoffentlich funktionieren die Tabletten!«, brummt Erik ernüchtert vor sich hin. Dabei reibt er sich seine schmerzende Handfläche und sucht mit den Augen die Fliegenklatsche, die an einem Nagel an der Wand hängt. Ein äußerst intensives Gefühl der Abscheu, gepaart mit ohnmächtiger Wut, unterlegt mit dem süßlichen Nachhall der Vernichtung wallt in ihm auf.
»Die Fliegenklatsche sieht schon ziemlich schäbig aus, aber das fällt in diesem Land sowieso nicht mehr auf.«, murmelt Erik missmutig vor sich hin.
»Ich habe keine Lust mehr auf diesen Dreck hier!«, ruft Erik daraufhin so laut, dass ein Nachbar es sicher gehört hätte. Erik möchte endlich wieder nach Hause. Trotzdem muss er noch mindestens zwei Monate aushalten. Er dreht sich zur Tür, die ins Wohnzimmer führt und blickt auf die Zahlenkolonne an der Wand neben dem Tisch. Dort sieht er die Ziffer 61 als letzte Zahl einer langen Reihe ansonsten durchgestrichener Zahlen. Irgendwann hat er sich nach einigen Bieren einen dicken, wasserfesten Filzstift geschnappt und die Zahlenkolonne der verbleibenden Tage auf die Wand geschrieben. Direkt auf die lackierte Wand. Tapeten sind in dieser Region der Welt Mangelware und würden in der nassen Monsunzeit vermutlich von der Wand rutschen. Die Wände werden daher glatt verputzt und dann mit einer ockerfarbenen Ölfarbe übermalt. Es entsteht eine glänzende, glatte Oberfläche, die dazu abwaschbar ist. Es ist ein festes Ritual geworden. Jeden Morgen streicht er auf dem Weg ins Bad wieder einen Tag ab. Leicht seufzend nimmt Erik den Filzschreiber und streicht die 61 durch. Im Augenblick ermutigt ihn der Anblick der verbleibenden 60 Tage allerdings nicht wirklich. Die vielen durchgestrichenen Zahlen lassen aber immerhin einen kleinen Fortschritt in Richtung Ende erkennen.
Neben die Zahlenreihe hat Erik das Bild einer blonden Frau mit lockigen Haaren und blauen Augen geklebt. Die Schönheit hat er aus einer Zeitschrift ausgeschnitten. Das Foto seiner damaligen Freundin Gaby, hatte Erik mit einem Klebestift direkt auf die Wand geklebt, so dass er es nicht abnehmen konnte, ohne gleich den Putz mit von der Wand zu reißen. Das neue Bild hat er dann darüber geklebt, so dass ihn Gaby nicht mehr ständig anblickt. Nicht gerade die Art, wie er normalerweise ein Bild aufhängt. So etwas hätte er vor einigen Monaten noch als absolut inakzeptables Verhalten verurteilt. Erik verdient zwar ordentliches Geld, aber die persönlichen Einschränkungen bei der Lebensführung sind enorm. Keine Erzählung kann einem das Gefühl vermitteln, das man empfindet, wenn man tatsächlich in einer Einöde wie dieser festsitzt. Das hier ist ja nicht ein Urlaub in einem schlechten Hotel, bei dem man nach 14 Tagen wieder abreisen kann. Das hier ist so etwas wie ein Lager, bei dem man unter ständiger Bewachung und Bedrohung steht und sich täglich Gedanken um sein Überleben machen muss.
Erik starrt immer noch auf die lange Zahlenkolonne der abgestrichenen Tage. Immerhin ist die verbleibende Zeit deutlich kürzer.
»Ich hab noch viel zu viele Tage vor mir!«, seufzt er und wandert endlich in die Küche. In den letzten zehn Monaten ist viel passiert. Am traurigsten ist er darüber, dass die Beziehung mit Gaby in die Brüche gegangen ist.
»Drei Wochen, hat mein Chef gesagt! Drei verdammte Wochen soll ich als Vertretung aushelfen!«, lamentiert Erik mit einem leidenden Tonfall laut vor sich hin.
»Und jetzt? Jetzt bin ich schon fünfzehn Monate hier in dieser Scheiße!«, wobei er die letzten Worte laut fluchend gegen die Wand schleudert. Von seinem jetzigen Standpunkt, tausende Kilometer entfernt, am Arsch der Welt, wie er es für sich selbst bezeichnet, verblassen die unschönen Erinnerungen. Erinnerungen an Streit und das Aus der Beziehung erscheinen plötzlich sinnlos und eigentlich überwindbar. Stattdessen drängen sich die schöneren Momente in den Vordergrund, vor allem die, die er jetzt am stärksten vermisst.
»Der Sex mit ihr war ziemlich gut. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser wird er!«, grinst Erik in sich hinein, als die Bilder vor seinem inneren Auge auch die lustvolleren Gefühle aus der Vergangenheit zum Vorschein holen. Das ist leider auch so ein Problem in diesem Land. Zu kaufen gibt es alles, doch welchen Preis zahlt man langfristig dafür.
»Wenn ich an diese blöde Nacht denke, in der ich diese Nutte geknallt habe, wird mir im Nachhinein noch ganz anders!«, erinnert er sich wieder, wobei ihm ein Schauer aus Scham und Erschrecken über den Rücken läuft, der die erotischen Gedanken schlagartig, wie ein Eimer kaltes Wasser, wegspült.
»Wegen diesem Blödsinn laufe ich jetzt die ganze Zeit mit einem saublöden Gefühl herum. Wenn ich wieder zuhause bin, werde ich als erstes zum Arzt gehen müssen.«, beschließt Erik, und versucht das unangenehme Thema zu verdrängen.
»Zum Glück hat sich noch nichts verfärbt, nichts juckt und ich habe auch keine Läuse oder so was. Die Liste der Mitbringsel kann in diesem Land recht lang sein. Vor allem die fiesen Sachen schlummern erst eine ganze Weile, bis sie sich dann melden.«, bearbeitet Erik das Thema weiter in seinem Kopf, als er nun in der Küche vor der Kaffeemaschine steht.
All das stand jedenfalls nicht im Kleingedruckten, als er den Arbeitsvertrag unterschrieb. Damals tanzten andere Bilder vor seinem inneren Auge. Die schöngefärbte Vorstellung von dem, was ihn hier erwarten würde und die entzauberte, brutale Realität passen irgendwie nicht zusammen. Es ist wie die Theorie vom Fahrradfahren, bei dem man hoheitsvoll und elegant über das Straßenpflaster schwebt, und die Schrammen, die einen nach dem ersten Versuch auf den Boden der Realität zurückholen.
Da der Strom schon wieder ausgefallen ist, funktioniert die Kaffeemaschine auch nicht. Erik öffnet den Kühlschrank und greift nach der letzten Colaflasche. Leider ist die Cola warm, wie auch der Rest im Kühlschrank. Der Strom ist vermutlich schon wieder seit Stunden ausgefallen und die Qualität der Isolierung dieser Kühlschränke ist nicht besonders gut. Eigentlich hätte er jetzt gerne eine Tasse Kaffee, doch ohne Strom läuft die Maschine eben nicht. Irgendwo sind Mitarbeiter der Elektrizitätswerke dabei, das Netz wieder aufzubauen. Allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Ab und zu springt die Klimaanlage ratternd an, um dann nach wenigen Sekunden wieder auszufallen. Das Netz ist völlig überlastet. Man kann nicht einfach den großen Schalter am Kraftwerk wieder zuschalten. Alle Menschen und Firmen haben ihre Geräte eingeschaltet gelassen. Wenn das Kraftwerk dann einfach den Strom zuzuschalten würde, wirken diese vielen Verbraucher wie ein Kurzschluss. Also versucht man zunächst die im Land überall aufgestellten Verteiler erst einmal alle abzuschalten, um sie dann nach und nach wieder zuzuschalten. Das geht aber nur, indem ein Mitarbeiter vor Ort die Schalthandlung vornimmt. Also rasen jetzt etliche kleine Mopeds durch das Land, um die vielen Verteiler erst ab- und später wieder zuzuschalten. Bei den Entfernungen und Kommunikationsproblemen in diesem Land dauert es halt eine Ewigkeit, bis die Mitarbeiter das koordiniert hinbekommen.
Erik grübelt etwas missmutig vor sich hin, wobei sein Blick aus dem vergitterten Fenster wandert. Der Ausblick ermutigt ihn allerdings nicht besonders. Gitter sind wichtig. Die europäischen Mitarbeiter gelten hier als die Reichen, was automatisch Diebe anzieht. Auch vor den Affen muss man sich hüten. Die treten als Horde auf und werden dann richtig frech und gefährlich. Erik hatte beobachtet, wie sie einem Inder das Essen klauten. Einer hat sich von vorne genähert, wobei der Inder diesen mit seinem Stock zu verscheuchen suchte. Dabei blieb der Affe aber immer nur knapp außer Reichweite des Stocks und rückte sofort wieder vor, wenn der Inder sich setzen wollte. Irgendwann ist der Inder dann einen Schritt auf den Affen zugegangen. Darauf hatten aber zwei der Rasselbande nur gewartet, stürzten von hinten auf das Essen, ergriffen den ganzen Beutel und rasten in die Bäume in Sicherheit. Dass das ganze einem Masterplan unterlag, konnte Erik daran erkennen, dass der erste Angreifer anschließend seelenruhig neben den zwei Anderen saß und diese die Beute ohne Geschrei und Zank teilten. Die Inder hatten Erik eindringlich davor gewarnt, ein Tier anzufassen oder festzuhalten, auch wenn sie sich bis auf Tuchfühlung einem nähern sollten. Macht man den Fehler und versucht, einen Affen zu berühren, wird dieser sofort zubeißen. Das Gebiss ist so kräftig, dass sie ohne weiteres einen Finger abbeißen können.
Erik lässt sich auf einen Sessel fallen und nimmt einen Schluck aus der Colaflasche. »Mein Gott, ich bin schon fünfzehn Monate hier!« macht sich Erik klar. Vor diesen fünfzehn Monaten hat er sich als durchschnittlich verwöhnter Europäer in ein Flugzeug gesetzt. Aber nicht, um sich an einem Palmenstrand von den Landesschönheiten Cocktails servieren zu lassen, sondern um zu Arbeiten. Okay, er war damit einverstanden, irgendwo in der großen weiten Welt zu arbeiten. Er war damals froh, diesen Job zu haben, der ihn in die ferne, weite Welt führen würde. Außerdem besaß er da noch die Illusion, dass er mitbestimmen darf, wohin die Reise geht. Die Rede war von viel Geld, Abwechslung und Verantwortung. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie die Kollegen an seinem ersten Tag ihre Geschichten zum Besten gaben:
»Hey, Mann, Du musst unbedingt in den Sudan. Die Nubierinnen haben so feste Brüste, dass man darauf die Wanzen zerdrücken kann.«, war ein Spruch, der von wissendem Männerlachen aus der Runde begleitet wurde. Welcher Mann kann da verhindern, dass nicht hübsche, begehrliche und willige Mädchen mit kurzem Röckchen und blanken Brüsten vor dem inneren Auge erscheinen. Mein Gott, wie soll man da nicht an Sex denken. Jetzt, wo Erik schon wieder so lange auf dem Trockenen sitzt, erscheinen sexuellen Phantasien sowieso immer häufiger. Die Beschreibungen der Kollegen klangen nach exzessiven Partys mit willfährigen, jungen Frauen und nach viel Spaß ohne negativen Beigeschmack. Irgendwie haben Sie die Monotonie, die Einsamkeit, den Frust, die vielen drohenden Krankheiten und Risiken in Ihren Erzählungen weggelassen. Seufzend lässt sich Erik in dem Sessel zurückfallen und legt die Füße auf den Beistelltisch.
»Mit meinem heutigen Wissen wundere ich mich über diese Sorglosigkeit. Ich glaube, die lieben Kollegen haben einfach nur kräftig übertrieben! Auch früher war das alles nicht so sorgenfrei.«, überlegt sich Erik und nimmt noch einen Schluck warme Cola.
»Vielleicht sollte man dies auch anders sehen. Möglicherweise liegt es auch einfach an der relativen Sichtweise: nach einem monatelangen Entzug wird jede Party für die Sinne zu einer wilden Orgie.«, philosophiert Erik vor sich hin.
»In meiner jetzigen Lage wäre eine normale Kneipe, wie es sie zuhause an jeder Ecke gibt, ein Fest für die Sinne!«
Erik erinnert sich an einen Artikel, den er vor einiger Zeit gelesen hatte, wonach der Mensch in Episoden lebt. Er erinnert sich an die Maxima dieser Episode und an das Ende. Wenn das Ende gut war, so wird auch die ganze Episode, unabhängig von der Dauer, als gut betrachtet.
»Dann hoff ich mal auf ein gutes Ende«, stöhnt Erik, als er aufsteht und ins Bad geht, um sich für den neuen Arbeitstag fertig zu machen.