Читать книгу Es sind doch nur drei Wochen - Tom Sailor - Страница 16

Das Kraftwerk

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Am Tor wartet Mustapha mit dem Wagen auf Erik. Man kann das Kraftwerk vom Camp aus sehen, und Erik vermutet, dass er es locker in 15 Minuten zu Fuß erreichen könnte. Er überlegt daher kurz, ob er die Strecke nicht einfach einmal zu Fuß gehen soll, um sich die Umgebung und vor allem die Ansiedlung der Arbeiter rechts und links der Straße genauer anzusehen. Ein Europäer geht aber nicht zu Fuß und da Erik nicht weiß, ob er ohne weiteres als Fußgänger in das Kraftwerk kommt, verzichtet er auf diese Option und lässt sich auf der Rückbank des Ambassadors zur Baustelle fahren. Die Straße zwischen dem Camp und dem Kraftwerk ist asphaltiert. Auf jeder Seite findet sich ein über ein Meter tiefer und doppelt so breiter Graben. Erik vermutet, dass dies wohl mit den Regenfällen in der Monsunzeit zu tun haben könnte. »Für derartig große Gräben muss aber schon ordentlich was von oben kommen.«, überlegt sich Erik, als sie sich in Richtung zu dem Kraftwerk bewegen. Hinter dem Graben befindet sich noch ein etwa zwei Meter hoher Maschendrahtzaun, wobei nicht klar ist, wozu der gut sein soll. Hinter dem Maschendrahtzaun erstrecken sich rechts und links der Straße die Ansiedlungen der Arbeiter. Als Erik die Ausdehnung dieser Ansiedlung aus primitiven Hütten sieht, und damit, wie viele Menschen tatsächlich hier leben, ist er froh, in einem Auto zu sitzen. Es sind unzählige, kleine Hütten aus Stroh, Plastikplanen, teilweise aus Holz und allem, was irgendwie dienlich zu sein scheint. Keiner der Hütten würde wohl einen kräftigen Windstoß aushalten. Überall sieht er die Rauchsäulen von kleinen Feuern, vor denen Menschen hocken, die von einer Schar von Kindern umgeben sind und vermutlich das Frühstück zubereiten. Streunende Hunde lungern dazwischen und hoffen darauf, dass irgendetwas Essbares für sie abfällt. Ein kleiner, nackter Junge steht hinter dem Zaun vor einer Strohhütte und schreit so laut, dass Erik es trotz der Motorgeräusche deutlich hören kann. Der Grund: Seine Mutter wäscht ihn mit kaltem Wasser aus einem Topf ab, was ihm augenscheinlich hochgradig missfällt.

An dem Maschendrahtzaun neben der Straße hängen überall zerfetzte Lumpen. Es sieht aus, als hätte der Wind diese Stofffetzen dorthin geweht. Tatsächlich handelt es sich um die Habseligkeiten der Hüttenbewohner, die ihre Wäsche trocknen. Vereinzelt sind einige halb hohe Pflanzen oder Büsche zwischen den Hütten zu erkennen, hinter denen allerdings geduckte Gestalten hocken, die dort vermutlich ihre Morgentoilette verrichten. Es ist sicher nicht ratsam, außerhalb der Hauptwege spazieren zu gehen. Das gesamte Land ist vermutlich auf diese Art »vermint«. Das Areal, auf dem sich diese einfachen Hütten befinden, ist so groß, dass Erik nicht abschätzen kann, wie viele Menschen dort wohl leben. Vor allem schockiert ihn die Armut. Sie leben einfach auf dem nackten Boden. Einige der Hütten bestehen sogar nur aus ein paar Ästen, die mit einer Plastikplane überdeckt sind und so ein notdürftiges Dach darstellen. Es gibt kein Wasser, keinen Strom, keine Straßen. Erik überlegt, dass ein kräftiger Sturm alles komplett wegfegen würde, ohne dass danach erkennbar wäre, dass hier einmal so viele Menschen gelebt haben. Etwas beschämt stellt Erik fest, dass, egal welchen Unannehmlichkeiten er selbst bisher ausgesetzt war, alles von dem einfach nichts im Vergleich zu dem Elend ist, in dem diese Menschen leben. Und das gerade mal einen Steinwurf von seinem Haus entfernt! Etwas überrascht ihn jedoch. Egal wohin er schaut, sieht er fröhliche Gesichter und lachende Menschen. Es kommt ihm alles etwas surreal vor, als ob man diese Menschen künstlich mit einer Droge ruhiggestellt hat. »Vielleicht ist der Spruch von Karl Marx: »Religion ist Opium für das Volk« doch nicht so abwegig.«, überlegt sich Erik nachdenklich.

Das gesamte Kraftwerk ist durch eine hohe Steinmauer von der Umgebung abgegrenzt. Dabei handelt es sich um Feldsteine, die mit Zement aufgemauert wurden. Die Einfahrt wird durch uniformierte Wachleute kontrolliert. Wie Erik vermutet hat, darf Mustapha problemlos, ohne anzuhalten, passieren. In eine Staubwolke gehüllt, halten sie schließlich vor dem Haupteingang des Kraftwerks. Überall liegt Baumaterial herum, Erdhaufen neben irgendwelchen Löchern und planlos verteilte Halden aus Bauschutt. Um in das Kraftwerk zu gelangen, muss er über provisorische Bohlen und Bretter bis zur Eingangstür über einen etwa zwei Meter tiefen Graben balancieren. Es gibt keine Absicherung, kein Geländer oder sonst eine Sicherheitsvorkehrung. So dürfte eine Baustelle vielleicht im Mittelalter in Deutschland ausgesehen haben. Es ist auch deutlich an dem verblichenen Müll im Graben zu erkennen, dass dieser Zustand schon Monate bestehen muss, ohne dass erkennbar gearbeitet wird. Für die Bauarbeiten ist eine indische Firma zuständig. Jeden Tag laufen bestimmt 100 Menschen über diesen Bretterparcours. Mit Sicherheit muss auch der Kraftwerksdirektor dieses Kraftwerks durch diese ewige Baustelle betreten. Doch keiner scheint sich an dem Zustand und vor allem der deutlichen Gefahrenquelle zu stören. Als Erik nach dem Balanceakt das Gebäude betritt, fällt ihm sofort die dicke Lehmspur auf. Sie stammt von dem Lehm und Dreck an den Schuhen der vielen Menschen, die das Gebäude betreten. Hier wird zwar hochmoderne Technologie geliefert, die empfindlich ist, was Staub und Schmutz angeht, doch es scheint keinen zu geben, der sich für die Reinigung zuständig fühlt.

»Wir exportieren zwar die Technologie, aber weder die Verantwortung, noch die erforderlichen Spielregeln, um die Funktion zu gewährleisten.«, stellt Erik auf seinem Weg die Treppe hinauf fest. »Ich denke, einen Inder würde es nicht wirklich stören, wenn der Fußboden im Kontrollraum aus festgetretenem Lehm bestehen würde und noch ein paar Kühe in der Ecke liegen würden!«, schmunzelt er in sich hinein.

Der Lehmspur folgend gelangt Erik in den Kontrollraum. Dort sitzt ein Inder vor einem Bedienpult, auf dem diverse, rote Warnleuchten blinken und liest in einem Heft, das wie ein Groschenroman aussieht. Seine linke Hand liegt auf dem Pult. Immer wenn ein Alarm ertönt, drückt er auf einen Knopf, um das Signal abzuschalten. Er arbeitet vollautomatisch. Ein Hupsignal ertönt, sein Finger auf dem Knopf spannt sich etwas und der Alarm verstummt. Allerdings nur für kurze Zeit bis zum nächsten Alarm. Was der Grund für den Alarm ist, scheint ihn jedoch nicht zu interessieren, da er nicht ein einziges Mal auf den Bildschirm schaut. Er quittiert einfach nur das Hupsignal. Mit Schaudern fällt Erik das verheerende Unglück in Bopal wieder ein, bei dem eine ähnlich egalitäre Mentalität des Bedienpersonals zu dem schrecklichen Unglück geführt hat.

»Hello!”, spricht Erik ihn an, nachdem gerade wieder ein Alarm verstummt ist.

Der Inder blickt langsam von seinem Buch auf und lächelt ihn an.

»Hello, Sir, my name is Manik. How are you?”, antwortet er.

»Fine, thank you, my name is Erik.”, erwidert Erik.

Das Kraftwerk besteht aus drei identischen Blöcken. Drei Gasturbinen treiben jeweils einen eigenen Generator zur Stromerzeugung an. Die etwa 500 Grad heißen Abgase der Gasturbinen werden nicht einfach über den Schornstein geblasen, sondern durch jeweils einen Abhitzekessel geleitet, der damit Dampf erzeugt. Dieser Dampf wird dann über einer Dampfturbine entspannt, die einen Generator zur Stromerzeugung antreibt.

Thermische Kraftwerke dieses Typs verfügen über den besten Wirkungsgrad. Der einzige Nachteil ist der, dass ein qualitativ hochwertiger Brennstoff, wie Gas oder Öl, vorhanden sein muss. Erik hatte gelesen, dass dieses Kraftwerk aus einer 1500 km langen Erdgaspipeline versorgt wird. Nach einem kurzen Blick auf die Instrumente kann Erik erkennen, dass immerhin eine der drei Gasturbinen läuft. Eigentlich könnten alle drei Turbinen laufen, sind allerdings aus irgendeinem Grund abgeschaltet.

Als Manik sein Heftchen sinken lässt, sieht Erik auf dem Titelbild, dass es sich wohl um irgend so einen Herz-Schmerz-Groschenroman handeln muss.

»Why is only one unit in operation?«, fragt ihn Erik.

Manik erklärt Erik, dass es Probleme mit der Gasversorgung gibt. Irgendwo auf der langen Strecke gibt es wohl eine Gruppe, die einen Schieber, vermutlich aufgrund eines Streiks, geschlossen hat. Jetzt wird kein Gas mehr in die lange Leitung gefördert und der Druck sinkt ständig. Angeblich sind höhere Lohnforderungen der Grund. Der eine Block läuft somit nur noch mit dem Gas, das sich noch in der Pipeline befindet. Da der Druck ständig sinkt, wird in Kürze ein Ausfall erwartet, bei dem dann auch das Kraftwerk ohne Strom sein wird. Um dies ein wenig hinauszuzögern, wurden die anderen beiden Gasturbinen abgeschaltet.

»When do you think, this strike is over?”, fragt ihn Erik

»Nobody knows.”, entgegnet Manik.

Erik ist etwas irritiert, da er extra angereist ist, um spezielle Versuchsfahrten mit dem Kraftwerk zu unternehmen, um die vielen Regelungen abzustimmen. Die angedachten Versuche fallen allerdings aus, wenn die Anlage nicht läuft. In diesem Moment beginnt Erik das erste Mal zu ahnen, dass dieses Land ihm bei seinen Reiseplänen wohl einen Strich durch die Rechnung machen wird. Irgendwo in diesem Gebäude hat die Firma einen Büroraum, den Erik eigentlich gesucht hat.

»Where is our office?«, richtet Erik seine Frage an Manik.

»One stair up.« erklärt ihm Manik lächelnd und widmet sich wieder seiner Lektüre.

Es sind doch nur drei Wochen

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