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Das Ende der Welt

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Als Erik in der Morgendämmerung aus dem Zug steigt, hat er unwillkürlich das Gefühl, als wäre er Teilnehmer in einem Western: Die trockene, staubige Luft, das einsame Ortsschild der Haltestelle, das im Wind langsam hin und her schwingt. Es hängt etwas schief, weil eine Seite der Aufhängung kürzer wie die andere Seite ist. Es hat sich wohl schon seit Jahren keiner mehr darum gekümmert. Eine einsame Krähe sitzt sich auf einem Pfahl und begrüßt krächzend den Protagonisten, der an dieser einsamen Bahnhofsstation aussteigt, um einen Job zu erledigen. Der Bahnhof ist bis auf wenige Ausnahmen schnell wieder leergefegt. Die ausgestiegenen Reisenden sind hastig mit ihren Habseligkeiten verschwunden. Erik wundert sich, dass der Zug nicht einmal 3 Minuten gehalten hat, bevor er weiterfährt, beinahe so, als wolle er selbst nicht länger als unbedingt nötig an diesem Ort verweilen.

Die anschließende Stille, die sich wie ein Tuch über die Szene legt, unterstreicht die Einsamkeit dieses Ortes. Es ist wohl ein Ort, der so weit weg von der Zivilisation entfernt liegt, dass er ein Paradebeispiel für Einsamkeit abgibt. Erik sucht instinktiv nach dem Abgrund, der sich doch am Ende der Welt befinden müsste. Kein vernünftiger Mensch, würde ohne Not an dieser Stelle aus dem Zug steigen. Die Einöde lässt sich fast körperlich fühlen. »Warum muss ausgerechnet ich hier stehen?«, fragt sich Erik, als etwas Verzweiflung in ihm aufkommt. »Alle diese wunderbaren Abenteuer habe ich durch meine Unterschrift unter den Arbeitsvertrag mit gebucht. Warum habe ich nur nicht das Kleingedruckte gelesen?«

Von den Kofferträgern, die der Schaffner herbeigerufen hat, steht wohl nur der Chef noch neben dem Stapel an Gepäck und wartet auf die Rückkehr der Helfer, die zwischenzeitlich den anderen Reisenden geholfen haben. Erik ist irritiert, dass er keinen Mitarbeiter seiner Firma sieht und fragt sich, ob er denn auch an dem richtigen Ort ausgestiegen ist. Er nimmt sein Ticket, zeigt es dem Chef der Kofferträger und versucht von ihm zu erfahren, ob dies auch die richtige Station ist. Das Ergebnis ermutigt ihn jedoch überhaupt nicht, da der gute Mann sich sichtlich bemüht, aber erstens nicht versteht, was Erik von ihm will und zweitens vermutlich nicht einmal lesen kann. Selbst wenn der Ort der Richtige ist, hat Erik keine Ahnung, wie er zur Baustelle kommen soll. Würde er ein Taxi finden, könnte er nicht sagen, welche Richtung es nehmen soll. Etwas nervös und ungehalten über diese Unsicherheit beschließt Erik, vor den Bahnhof zu gehen. Mittlerweile sind auch die anderen Träger zurückgekehrt, so dass Erik das Signal zum Aufbruch gibt. Er marschiert vorneweg und die Karawane marschiert hinter ihm her. So leer und ruhig der Bahnhof war, in dem Moment, in dem Erik durch die Vorhalle des Bahnhofs auf den Vorplatz tritt, empfängt ihn wieder das typisch indische, quirlige Leben. Von seiner leicht erhöhten Position auf der obersten Treppenstufe des Bahnhofes lässt er seinen Blick über die Szenerie wandern. Bunt gekleidete, dunkelhäutige Menschen überall. Ein quirliges Durcheinander, wie in einem angestochenen Ameisenhaufen. Kleine Kinder, die ihn mit großen Augen anstarren und Ratten, die an den Hauswänden entlang huschen. Dazwischen ausgemergelte Hunde und knochige Menschen, die nebeneinander am Straßenrand hocken. Allerdings sind die Kinder nicht so aufdringlich wie in Delhi, wo sie an seiner Kleidung zerren und um Rupien betteln. Allerdings empfängt ihn auch hier wieder ein penetranter Gestank nach Urin, verrottendem Abfall und brennendem Müll. Dieses aufdringliche, Grenzen ignorierende Leben, das einen umhüllt und einem unter die Haut fährt, scheint in Indien überall gleich zu sein, egal ob man in Mumbai, Kalkutta oder diesem Dorf steht.

Erik fällt auf, wie viele Inder einfach so auf dem Boden hocken und irgendwie nichts zu tun haben. Er hat in seinem Leben noch nie so viele bettelarme Menschen gesehen. Vor allem, so viele Menschen, die am Existenzminimum leben. Es hat den Anschein, dass viele ihre gesamten Habseligkeiten in einem kleinen Beutel ständig mit sich tragen. Sie scheinen alle auf etwas zu warten, irgendwie entspannt aber doch hoffnungslos, weil ja doch nichts passieren wird.

Erik versucht, die aufkommenden, negativen Gedanken beiseite zu schieben. Es ist noch recht früh am Morgen und die Sonne steigt gerade über den Horizont. Die Temperaturen sind sehr angenehm, so dass er weder friert noch schwitzt. Vor dem Bahnhof ist ein Parkplatz, auf dem einige Autos stehen. Am Rand sieht Erik, wie ein junger Mann das Wasser aus einer Pfütze nutzt, um sich zu waschen. Überall liegen kleine Müllhaufen herum. Aus vielen steigen Rauchschwaden empor. Sie brennen nicht richtig, sondern schwelen vor sich hin, so dass ein sehr unangenehmer, beißender Geruch entsteht, der sich über alles legt und in der Nase kneift.

Die Häuser sind alle mit bunten Farben verschönert worden. Allerdings blättern überall Putz und Farbe ab, so dass alles mittlerweile verwahrlost wirkt. Bei näherer Betrachtung scheint es sich bei den Wänden um Lehm zu handeln, der wohl bei heftigen Regenfällen leidet. Auch die Straße erscheint nur als fest gestampfter Boden ohne Teerbelag. Überall sind kleine Karren zu sehen, auf denen etwas angeboten wird. Auch der obligatorische Friseur hat seinen Stuhl an der Straße stehen und frisiert seine Kunden in aller Öffentlichkeit.

»Na, mit meinen Kreditkarten werde ich hier nicht sehr weit kommen!«, resümiert Erik seinen ersten Eindruck. »Das ist nicht nur Tausende Kilometer von jeder Zivilisation entfernt, es ist auch eine Zeitreise ins Mittelalter. Wenn ich hier verkehrt ausgestiegen bin, na dann gute Nacht, Marie!« murmelt er vor sich hin.

Die geordneten und geregelten Abläufe und Annehmlichkeiten in Europa gelten hier nicht mehr. Auch hier wird es sicher für jede Kleinigkeit einen willigen Dienstleister geben. Doch erstens wird es Erik wohl kaum möglich sein, genau zu erklären, was er möchte und wenn, dann wird alles zum Scheitern verurteilt sein, wenn es mehr kosten sollte, als er an Bargeld in der Tasche hat. Mit Sicherheit wird das, was man hier kaufen kann, sich auf die bescheidene Kaufkraft dieser Menschen beschränken. Wenn man in Deutschland etwas braucht, geht man in den nächsten Supermarkt oder Baumarkt. Fehlt hier etwas, so wird es vermutlich nur mit hohem Aufwand zu besorgen sein. In Deutschland gibt es gesetzlich garantierte Qualitätsansprüche und auch sonst ist man rundum mit Wattebäuschen aus wohlmeinenden Gesetzen und Versicherungen geschützt. Erik erkennt immer mehr, dass er diesem behüteten Dasein für einige Zeit Lebewohl sagen und wohl auch seine Gewohnheiten grundlegend anpassen muss. Kaum einer der Aspekte, die in Deutschland wichtig sind, behält hier seine Wertigkeit. Erik hat das Netz einer hoch technisierten, gut organisierten Welt verlassen und muss sich nun selbst um alles kümmern. Dazu kommt: keine Restaurants oder Bars, keine Frauen, kein Luxus, Wege, die er sich mit Ratten teilt und wohl ständig Staub, Dreck und Gestank. Und dann noch die ständige Bedrohung durch Krankheiten und Infektionen. Die Zustände sind alles andere als hygienisch. Ratten, Moskitos, Staub, Hitze, Dreck. Das sind augenscheinlich die täglichen Accessoires in seinem neuen Leben. In Delhi konnte er noch in die Oase der Luxushotels flüchten, um sich von diesem erdrückenden, aufdringlich nackten Leben zu erholen. Wenn überhaupt, so wird es hier jedenfalls keine Hotels nach westlichem Standard geben.

»Egal, wichtig ist es, immer die Nerven zu behalten und immer einen freundlichen und gelassenen Eindruck zu hinterlassen, auch wenn die Umstände mehr als zuwider sind!«, ermahnt sich Erik zur Ruhe.

Direkt neben den Treppenstufen des Bahnhofes stehen kleine Verkaufskarren, auf denen diverse Früchte und Gemüse angeboten werden. Daneben gibt es auf ebensolchen kleinen Karren Garküchen, die warmes Essen verkaufen. Trotzdem Erik schon seit vielen Stunden nichts gegessen hat wird ihm bei dem Gedanken übel, dass er gezwungen wäre, hier etwas zu essen.

»Naja, der Trip erfüllt sicher nicht die Anforderungen an einen vier-Sterne-Urlaub!«, stellt Erik ironisch fest und murmelt halblaut, »Wo ist verdammt noch einmal mein Empfangskomitee?«

Das Büro in Delhi hat ihm gesagt, dass am Bahnhof ein Fahrer auf ihn warten würde. Jetzt steht Erik alleine inmitten dieses Dorfes und sucht nach einem Anhaltspunkt, wo denn sein Fahrer sein könnte. Nun, ganz alleine steht er nicht, hinter ihm reiht sich eine kleine Karawane von zehn Trägern, die geduldig darauf warten, dass es weiter geht. Als er sich umdreht, muss er fast lachen, so skurril sieht die Gruppe aus. Ein Europäer an der Spitze einer menschlichen Karawane, die alle Gepäckstücke, Koffer und Kisten auf dem Kopf tragen. Plötzlich wird Erik von einer Stimme angesprochen: »Hello, you Mr. Coob? You go Anta?«

Erik dreht sich um. Ein dunkelhäutiger, etwas korpulenter, lächelnder Mann mit einem Schnurrbart steht dort und blickt ihn erwartungsvoll an. Nun, der Name passt nicht, aber der Zielort passt.

»Yes!«, antwortet Erik sichtlich erleichtert und reicht ihm die Hand. »What is your name?«, fragt Erik.

»My name is Mustapha!«, stellt der schnurrbärtige Inder sich vor, wobei Erik etwas schaudert, da Mustaphas Händedruck sanft und kraftlos ist. Dafür scheint Mustapha nun die Regie zu übernehmen, wendet sich an die Karawane hinter Erik und dirigiert sie zu einem Fahrzeug, das in der Nähe parkt. Dort stellen die Träger alles Gepäck auf dem Boden vor dem Fahrzeug ab.

»Hello, Mustapha, can you put my luggage in your car?«, fragt Erik.

An seinem Gesicht erkennt Erik allerdings schnell, dass er da wohl etwas Falsches gesagt haben muss.

»I am driver, Sir«, erwidert Mustapha leicht angesäuert.

»O. K.«, denkt sich Erik, »als Fahrer ist es also unter seiner Würde, das Gepäck zu verladen.« Diese niedere Tätigkeit überlässt man gefälligst den niedrigeren Ständen. Selbst etwas in die Hand zu nehmen bedeutet also Gesichtsverlust, erkennt Erik.

»Sorry, Mustapha, can you please arrange this with the porters?”, korrigiert sich Erik. Beruhigt stellt Erik fest, dass damit die Welt des Fahrers wieder in Ordnung ist. Befehle geben ist etwas, was ihm wohl liegt. Da nicht alle Koffer und Kisten in ein Taxi passen, organisiert Mustapha in kurzer Zeit noch ein weiteres Fahrzeug, einen Pick-up mit offener Ladefläche. Erik setzt sich etwas erschöpft auf die Rückbank von Mustaphas Fahrzeug und wartet darauf, dass die Koffer verladen sind und es endlich losgeht. Doch selbst, als die Koffer verladen sind, bleibt Mustapha weiter gelassen an sein Auto gelehnt und treibt keinerlei Anstalten, endlich loszufahren. Nach einer viertel Stunde steigt Erik wieder aus und fragt Mustapha nach dem Grund, warum es nicht losgeht.

»We wait for Mr. Bini.«, erklärt Mustapha. »You want chai?«, fragt er und deutet auf einen kleinen Wagen in der Nähe. Erik lehnt dankend ab und lässt seinen Blick schweifen. Erst jetzt erkennt er, dass das Auto direkt neben einem Friedhof parkt. »Wenn ich sowieso warten muss, dann kann ich mir den auch mal ansehen. Ohne mich werden sie sicher nicht losfahren.«, sagt Erik zu sich selbst und geht zu dem verfallenen Eingangstor. Das Eisentor ist so verrostet, dass es sich nicht mehr öffnen lässt. Also klettert Erik über die hüfthohe Mauer. Es ist schnell zu erkennen, dass dies ein alter Friedhof ist, der noch von den Engländern während der Kolonialzeit eingerichtet wurde. Der Friedhof macht äußerlich einen zwar verfallenen, aber immer noch europäischen Eindruck. Erik stellt fest, dass ausschließlich englisch klingende Namen auf den Grabsteinen eingemeißelt sind. Als er das Alter der Verstorbenen nachrechnet, läuft ihm ein leichter Schauer über den Rücken. So sehr er auch sucht, hier liegt kein einziger Europäer, der älter als 35 Jahre wurde. Die Mehrzahl ist vor ihrem 30. Lebensjahr gestorben. Und der Friedhof ist groß. Die Engländer der Kolonialzeit hatte Erik bisher nur als ausbeuterische Besetzer gesehen. Auf diesem Friedhof ist aber dokumentiert, dass der Betrieb der Kolonien auch mit einem hohen Blutzoll aus den eigenen Reihen bezahlt wurde.

»Wie es scheint, ist dieses Land den Europäern nicht sehr gut bekommen. Das sollte ich als Warnung begreifen!«, überlegt sich Erik, als er den Blick über die vielen Grabsteine schweifen lässt.

Erik war schon klar, dass es keine Urlaubsreise wird. Doch die bisherigen Eindrücke in diesem Land haben seine Motivation doch stark angegriffen. Der Zusammenhang zwischen der geringen Lebenserwartung und der miserablen Lebensqualität drängt sich einem regelrecht auf. Etwas ernüchtert geht Erik zurück zu Mustapha und dem Auto. Die Kommunikation mit dem Fahrer ist schwierig und Erik fühlt sich erschöpft, so dass er froh ist, als Mr. Bini endlich auftaucht.

»Are you Mr. Jacob? Have you had a good trip?«, fragt Mr. Bini, als er am Fahrzeug mit unterschiedlich farbigen Plastikbeuteln in den Händen ankommt. Erik ist recht froh, dass Mr. Bini ihn mit seinem Namen anspricht, da dies der erste konkrete Hinweis ist, dass es tatsächlich zur richtigen Baustelle gehen wird. Mr. Bini spricht zwar mit der typisch indischen Melodik, aber ein doch recht ordentliches Englisch. In dem anschließenden Gespräch erläutert Mr. Bini, dass er auf der Baustelle als Assistant Manager arbeitet und gerade diverse Besorgungen für das Büro erledigt hat. Nachdem seine Einkäufe verstaut sind, steigen alle ein. Mustapha benötigt allerdings noch eine Minute länger, da er sich von seinem Gesprächspartner verabschiedet und dem Fahrer des anderen Fahrzeugs noch kurz eine Anweisung gibt. Auch wenn der Körper sich träge und schlapp anfühlt, so scheint die Müdigkeit im Kopf vergessen zu sein. Erik freut sich darauf, dass die letzte Etappe seiner Anreise begonnen hat und vor allem, dass die Ungewissheit weg ist, ob er an der richtigen Station ausgestiegen ist. Mit einem Gemisch aus Stolz, Abenteuerlust und Neugier lehnt er sich in das Polster zurück. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man die Verantwortung in einem unbekannten Terrain abgeben kann und sich nicht mehr selbst um alles kümmern muss. Wenn es Probleme auf dieser letzten Etappe geben sollte, so werden sich Mustapha und Mr. Bini darum kümmern müssen.

Es sind doch nur drei Wochen

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