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IV.Höhepunkte in der Entwicklung des Kommunal­verfassungsrechts seit 1999

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Kernstück der Kommunalrechtsnovelle 1999 war die Einführung eines neuen Wahlsystems („Kumulieren und Panaschieren“). Nach Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters/Landrats und des Bürgerentscheids auf gemeindlicher Ebene im Jahr 1993 wurde damit das dritte und letzte Charakteristikum der als besonders „bürgernah“ geltenden baden-württembergischen Kommunalverfassung in die hessische Gemeindeordnung übernommen. Bei dem neuen Wahlsystem wird das bisherige Verhältniswahlrecht (Ankreuzen einer „starren Liste“) um Elemente der Personenwahl ergänzt: Der Wähler hat so viele Stimmen, wie Sitze zu vergeben sind und kann bis zu drei Stimmen seines Kontingents auf einen einzelnen Bewerber anhäufen (kumulieren). Der Wähler kann aber auch seine Stimmen an Kandidaten aus verschiedenen Listen vergeben (panaschieren) und beide Formen miteinander verbinden; er kann z. B. eine Liste ankreuzen, innerhalb dieser Liste einen Teil seines Gesamtstimmenkontingents einzeln oder kumuliert an Bewerber vergeben, Bewerber streichen und Bewerbern aus einer anderen Liste Einzelstimmen zuteilen. Erstmals bei den Kommunalwahlen im März des Jahres 2001 erhielten die Bürger in Hessen auf diese Weise einen unmittelbaren Einfluss auf die konkrete Zusammensetzung der sie repräsentierenden Körperschaften auf kommunaler Ebene (Gemeindevertretung/Kreistag).

Nach den einschneidenden „Demokratisierungsnovellen“ im letzten Jahrzehnt gönnte der Gesetzgeber der Kommunalverfassung eine mehrjährige Ruhephase, die ebenso notwendig wie willkommen war. Das „kommunale Grundgesetz“ muss auf langfristigen Bestand ausgelegt sein und darf nicht fortlaufend punktuellen Änderungen unterzogen werden.

Nach der Landtagswahl vom 2.2.2003 war allerdings klar, dass es in der 16. Wahlperiode des Landesparlaments (2003 bis 2008) weitere tief greifende Veränderungen im Kommunalverfassungsrecht geben würde. Die nunmehr allein regierende CDU hatte in ihrem Regierungsprogramm vom 28.3.2003 umfassende Reformen im kommunalen Wirtschafts- und Haushaltsrecht angekündigt. Diese Modernisierung des Rechts der kommunalen Finanzen war in Anbetracht der Entwicklung in den anderen Bundesländern im letzten Jahrzehnt überfällig und wurde vom Landtag mit dem Gesetz zur Änderung der Hessischen Gemeindeordnung und anderer Gesetze vom 31.1.2005 (GVBl. I S. 54) vorgenommen. Im kommunalen Wirtschaftsrecht ist insbesondere eine strikte Subsidiaritätsregel für die kommunalwirtschaftliche Betätigung eingeführt worden. Im kommunalen Haushaltsrecht erhielten die Kommunen das Wahlrecht zwischen dem kameralistischen und dem doppischen Haushalts- und Rechnungswesen. Zur Kommunalrechtsnovelle 2005 hat der Kohlhammer-Verlag im Hinblick auf ihre weit reichende Bedeutung und ihre äußerst umfangreiche Themenpalette im April 2005 in der Reihe „Kommunale Schriften für Hessen“ ein spezielles Handbuch veröffentlicht (Amerkamp/Dreßler/Klein/Meireis: Die Hessische Kommunalverfassungsnovelle 2005).

Die allgemeine Kommunalverfassung und das Kommunalwahlrecht wurden von der Kommunalrechtsnovelle 2005 in ihren Grundzügen nicht angetastet. Grundlegende Änderungen am dreipoligen Kräfteverhältnis zwischen der hauptamtlichen Verwaltungsspitze (Bürgermeister/Landrat), den ehrenamtlichen Kommunalpolitikern im Kommunalparlament und im Gemeindevorstand/Kreisausschuss und schließlich der Bürgerschaft selbst, standen nicht zur Diskussion. Die Landesregierung hat dies in ihrem der Novelle zugrunde liegenden Gesetzentwurf vom 5.7.2004 ausdrücklich betont (LT-Drs. 16/2463 S. 40). In ihrem Regierungsprogramm für die 16. Legislaturperiode hatte die hessische CDU schon im März 2003 deutlich klargestellt, dass nach ihrer Ansicht (nur) mit erheblicher ehrenamtlicher kommunalpolitischer Mitwirkung ausgestattete Gemeinden und Kreise die für die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger angemessene Organisationsform darstellen. In den hessischen Gemeinden und Landkreisen steht daher – ähnlich wie bei Bund und Ländern – auch zukünftig ein Kollegium (Gemeindevorstand/Magistrat bzw. Kreisausschuss) an der Spitze der Verwaltung. Die Übernahme der süddeutschen Bürgermeisterverfassung wurde nicht erwogen. Schließlich hat die Magistratsverfassung in den hessischen Kommunen eine lange und erfolgreiche Geschichte.

Auch im Kommunalwahlrecht gab es 2005 keinen grundsätzlichen, sondern lediglich punktuellen Änderungsbedarf. Unumstritten war ohnehin das neue Wahlsystem („Kumulieren und Panaschieren“). Das neue Wahlrecht hat im Hinblick auf die vorher eingeführte Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten eine Systemwidrigkeit beseitigt: Die Mitglieder der Gemeindevertretung bzw. des Kreistags, des obersten Organs der Gemeinde bzw. des Landkreises, werden sich nicht mehr, wie in der Vergangenheit bisweilen geschehen, vom Bürgermeister oder Landrat sagen lassen müssen, er habe eine „höhere demokratische Legitimation“. Mit dem Kumulieren und Panaschieren will der Gesetzgeber die Arbeit in den Kommunalparlamenten entgiften, dadurch dass der einzelne Mandatsträger in den Vordergrund und die Bedeutung seiner parteipolitischen Zugehörigkeit in den Hintergrund tritt. Nach allen Erfahrungen aus Baden-Württemberg, werden allzu hohe parteipolitische Profilierungssucht, bewusste Konfrontation und das Mobbing gegen einen ungeliebten Bürgermeister/Landrat von den Wählern nicht honoriert. Der Vertreter des baden-württembergischen Innenministeriums, Ministerialrat Albrecht Quecke, erklärte bei der öffentlichen Anhörung des Hessischen Landtags am 1.12.1999 ausdrücklich: „Das Wahlsystem wird tendenziell dazu führen, dass sich die Gremien aus Einzelpersönlichkeiten mit eigenem Kopf zusammensetzen, auch wenn sie einer Partei angehören“.

Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang bleiben, dass der Weg für diese Kommunalrechtsnovelle vom Volk selbst, und zwar schon vor geraumer Zeit freigemacht wurde. Denn die Festlegung des Kommunalwahlrechts auf die Grundsätze der Verhältniswahl in Art. 137 Abs. 6 HVerf. a. F. wurde schon am 9.7.1950 per Volksabstimmung beseitigt. Im Kreis der deutschen Flächenstaaten gibt es nunmehr nur noch zwei Länder, nämlich Nordrhein-Westfalen und das Saarland, die ihren Bürgern bei Kommunalwahlen das Kumulieren und das Panaschieren vorenthalten.

Nicht verändert hat der Hessische Landtag – trotz eines diesbezüglichen Änderungsantrages der SPD-Fraktion vom 6.10.2004 (LT-Drs. 16/2764) – aber auch die minderheitenfreundliche Null-Prozent-Hürde. Bekanntlich hat der Hessische Landtag 1999 die bisherige Sperrklausel für die Teilnahme an der Sitzverteilung zu den Kommunalparlamenten in Höhe von 5 % – wie zuvor bereits in sieben anderen Flächenländern Deutschlands – gänzlich gestrichen. Insbesondere nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen vom 6.7.1999 (HSGZ 1999 S. 385) und dem Ergebnis der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen vom 12.9.1999 (ohne Sperrklausel) war die 5 %-Hürde aus Sicht des Hessischen Landtags auch in abgemilderter Form verfassungsrechtlich nicht zu halten (Durchbrechung der formalen Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der beteiligten Wahlvorschlagsträger!). Dabei ist insbesondere zu beachten, dass es in Nordrhein-Westfalen kein Kumulieren und Panaschieren gibt. Die Sperrklausel findet aber beim listenübergreifenden Wählen noch viel weniger eine Rechtfertigung, weil die Liste für die Sitzverteilung in der Vertretungskörperschaft unter den Bewerbern nicht den Ausschlag gibt, sondern nur den ersten Anknüpfungspunkt darstellt (vgl. Bay VerfGH, Entscheidung v. 18.3.1952, E 5 S. 11, 66). Es bleibt natürlich die sog. rechnerische oder faktische Hürde, die es zu überspringen gilt, um einen Sitz in der Vertretungskörperschaft zu erringen (Quotient aus 100 geteilt durch die jeweilige Zahl der Sitze in der Vertretungskörperschaft in %), wenngleich sie keinen absoluten, sondern nur einen Durchschnittswert angibt. Das neue hessische Kommunalwahlrecht stellt zudem sicher, dass die Wähler durch die bloße Kennzeichnung eines Wahlvorschlags (Listenstimme) ihr gesamtes Stimmenkontingent grundsätzlich auch auf Bewerber eines solchen Wahlvorschlags verteilen können, der weniger Bewerber enthält, als Mandate zu vergeben sind (§ 20a Abs. 4 und 5 KWG n. F.).

Minderheitenfreundlich ist auch die Beibehaltung des Sitzverteilungsverfahrens nach Hare-Niemeyer; die SPD hat mit dem o. a. Änderungsantrag vom 6.10.2004 ausdrücklich gefordert, es durch das für große Parteien günstigere Verfahren nach d’Hondt auszutauschen. Nicht eingeführt wurde auch die obligatorische Verkleinerung der Kommunalparlamente (bei einer Verringerung der Mandate steigt die für den Einzug in das Parlament zu überspringende rechnerische Hürde).

Abgeschafft wurde allerdings der als allzu starke Ausprägung des Minderheitenschutzes empfundene, bisher in § 36a HGO/§ 26a HKO gewährleistete Fraktionsstatus für einzelne Mandatsträger. Ein-Personen-Fraktionen gibt es auch sonst in keinem anderen Bundesland, weder auf der staatlichen noch auf der kommunalen Ebene. Selbst in den Ländern mit FDP-Regierungsbeteiligung, wie z. B. Baden-Württemberg, dem „Mutterland“ des Kumulierens und Panaschierens, bekommen „Einzelkämpfer“ in den Kommunalparlamenten vom Gesetz nicht den Fraktionsstatus zugesprochen. In Hessen musste folglich in der (16.) Kommunalwahlperiode vom 1.4.2006 bis zum 31.3.2011 in allen Kommunalparlamenten eine Fraktion mindestens zwei Mandatsträger haben (§ 36a Abs. 1 Satz 4 HGO/§ 26a Abs. 1 Satz 4 HKO).

Wichtige Neuerungen für die Kommunalwahlen im März 2011 und die neue am 1. April 2011 beginnende Kommunalwahlperiode brachte schließlich das Gesetz zur Änderung des Hessischen Kommunalwahlgesetzes und anderer Gesetze vom 24.3.2010 (GVBl. I S. 119): Die Briefwahl wurde vereinfacht, die Stimmzettel bei den Wahlen der kommunalen Parlamente können zusätzliche Bewerberangaben – wie z. B. Beruf und Geburtsjahr – enthalten und die Zusammenlegung von Direktwahlen und Bürgerentscheiden mit den allgemeinen Kommunalwahlen wurde erleichtert. Sehr überraschend kam die Entscheidung des Landtags, die bisherige Deckelung der Landkreise hinsichtlich der Zahl ihrer hauptamtlichen Beigeordneten ersatzlos aufzuheben. Denn zum einen sind die Wirtschaftskrise und die Finanznot der öffentlichen Hände allgegenwärtig und zum zweiten war dieser Punkt in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP vom Januar 2009 nicht enthalten. Die kreisangehörigen Gemeinden machten vergeblich geltend, dass letztendlich sie über die Kreisumlage die dadurch möglicherweise ausgelösten Kosten werden tragen müssen. Die Frist für die Aufstellung des ersten zusammengefassten Jahresabschlusses im Rahmen der doppischen Haushaltsführung wurde in § 112 Abs. 5 HGO (großzügig) auf den 31.12.2015 verschoben; die Kritik, insbesondere des Bundes der Steuerzahler, durch die Außerachtlassung der kommunalen Unternehmen verliere die kostenaufwendige Umstellung des Haushaltswesens für geraume Zeit ihren Sinn, nämlich die Herstellung von vollständiger Transparenz als Grundlage für eine effiziente Gesamtsteuerung, war vergeblich. In kleinen Gemeinden sind schließlich ab dem 1. April 2011 (wieder) Ein-Personen-Fraktionen zugelassen worden, dieses „Hessische Kuriosum“, das in keinem anderen deutschen Bundesland, weder auf der kommunalen noch auf der staatlichen Ebene eine Entsprechung hat, hat also unerwartet eine Teil-Wiederauferstehung erfahren. Durch die Beseitigung der 5 %-Hürde 1999 ziehen ergo nicht nur bedeutend mehr Einzelmandatsträger als früher in die Kommunalparlamente ein, sondern diese erhalten auch in kleinen Gemeinden die gleichen Rechte wie große Fraktionen. Kritiker nennen das: „Fraktionsrechte haben, ohne sich der Fraktionsdisziplin unterordnen zu müssen“. Der Hessische Landtag hält dagegen das Ideal „Alle gewählten Volksvertreter sollen die gleichen Rechte haben“ mit der notwendigen Arbeits- und Handlungsfähigkeit des Parlaments in Gemeindevertretungen mit nicht mehr als 23 Gemeindevertretern für vereinbar, insbesondere weil eine Ausnahme gemacht wurde für das „schärfste“ Recht der Fraktionen: Der Anspruch auf Einsetzung eines Akteneinsichtsausschusses bleibt den Ein-Personen-Fraktionen verwehrt.

Hessische Kommunalverfassung

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