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Das hessische Kommunalverfassungsrecht blickt in seinen Grundzügen auf eine fast siebzigjährige Bewährungszeit zurück. Aufbau und Grundsätze der Hessischen Gemeindeordnung und der Hessischen Landkreisordnung aus dem Jahre 1952 sind bis heute im Wesentlichen unverändert beibehalten worden. Nach der Entstehung des Landes Hessen beriet der Landtag lange über eine grundlegend neue Gemeindeordnung. Dieser maß man kaum geringere Bedeutung bei als der Staatsverfassung, denn mit ihr sollten die „Graswurzeln“ der Demokratie dauerhaft angesät werden. Daher rührt der Begriff „Kommunalverfassung“. Nach intensiver Diskussion beschloss der Landtag in seiner zweiten Wahlperiode am 20.2.1952 die im Kern bis heute geltende Hessische Gemeindeordnung (HGO).

Das „Regierungssystem“ der Gemeinden wird von den Ländern eigenständig festgelegt, denn der Bund hat für das Kommunalrecht keinerlei Gesetzgebungszuständigkeit. Daher gibt es in Deutschland auch keine einheitliche Bezeichnung für das Gemeindeparlament (überwiegend: „Gemeinderat“, in Hessen „Gemeindevertretung“), ebenso wenig wie alle Länderparlamente als „Landtag“ bezeichnet werden. Das besondere Merkmal der hessischen Kommunalverfassung besteht im Ländervergleich allerdings darin, dass an der Spitze der Verwaltung, die die laufenden Geschäfte zu erledigen und die Beschlüsse des „Kommunalparlaments“ vorzubereiten hat, nicht der Bürgermeister bzw. Landrat allein, sondern ein Kollegium steht. Dieses Kollegialorgan heißt in Städten „Magistrat“ (von daher rührt die Bezeichnung „Magistratsverfassung“), in den übrigen Gemeinden „Gemeindevorstand“ und in den Landkreisen „Kreisausschuss“.

Dabei lehnte sich der Hessische Landtag ganz bewusst an die lange Tradition der Magistratsverfassung im weitaus größten Teil des Landes Hessen an und wollte sich mit dem System der kollegialen Verwaltungsspitze ausdrücklich distanzieren von der allzu starken Stellung des Bürgermeisters in der zur Zeit des Dritten Reiches geltenden „Deutschen Gemeindeordnung“ aus dem Jahr 1935. In der Regierungsvorlage vom 28.8.1950 hieß es: „So sehr der Entwurf bestrebt ist, fortschrittlichen Ideen Raum zu geben, so wenig wurde bei seiner Ausarbeitung die Überlegung missachtet, dass eine organische Entwicklung des Gegenwärtigen aus dem Vergangenen – die Zeit des Nazireiches bleibt dabei außer Betracht – sich am ehesten in Einklang mit dem Empfinden des Volkes befindet und darum am meisten die Bürgschaft dafür ist, dass solche Gesetzgebung von Bestand ist und ein dauerhafter Segen von ihr ausgeht“.

Vor ihrer größten Herausforderung stand die Magistratsverfassung in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Alle Bundesländer haben in diesem Jahrzehnt ihre Gemeinde- und Landkreisordnungen zur Bekämpfung der „Politikverdrossenheit“ (Wort des Jahres 1992) und in der Hoffnung auf eine Gesundung der Kommunalfinanzen nach dem Vorbild der als besonders bürgernah geltenden baden-württembergischen Kommunalverfassung reformiert (Demokratisierungsnovellen). Auch die Bürgerinnen und Bürger in Hessen können nunmehr bei der Wahl ihres für die wichtigen Entscheidungen zuständigen „Kommunalparlaments“ (Gemeindevertretung, Kreistag) Persönlichkeiten durch Kumulieren und Panaschieren in besonderer Weise berücksichtigen, Sachthemen selbst entscheiden (durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid) und den Hauptverwaltungsbeamten (Bürgermeister/Landrat) unmittelbar wählen. Der „Siegeszug“ der baden-württembergischen Kommunalverfassung führte allerdings in Hessen nicht zur Abschaffung des Magistrats, des kollegialen Verwaltungsorgans, zugunsten eines die Verwaltung monokratisch leitenden Bürgermeisters. Den Bürgermeistern und Landräten wurden im Zuge der Einführung der Direktwahl mehr Rechte zugestanden, die Magistratsverfassung wurde im Kern jedoch nicht angetastet.

– 1991 bei der Volksabstimmung zu Art. 138 HVerf. (Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten) waren sich alle im Landtag vertretenen Parteien und auch die kommunalen Spitzenverbände darüber einig, dass die neu eingeführte Direktwahl der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten nicht zum Anlass genommen werden sollte, das hessische Kommunalverfassungssystem im Kern zu verändern oder gar abzulösen. Im Gesetzentwurf der Fraktionen CDU und FDP vom 28.8.1990 für ein Gesetz zur Änderung des Art. 138 HVerf. (LT-Drs. 12/7217) hieß es ausdrücklich: „Die Rechtsstellung der Vertretungskörperschaften (Gemeindevertretung/Stadtverordnetenversammlung, Kreistag) sowie der Verwaltungsorgane (Gemeindevorstand/Magistrat, Kreisausschuss) und der Beigeordneten/Stadträte soll unberührt bleiben. Es ist nicht beabsichtigt, dass der Bürgermeister/Oberbürgermeister oder Landrat Mitglied oder gar stimmberechtigter Vorsitzender der Vertretungskörperschaft wird“. Auch die „Führung der Dezernate durch die Beigeordneten in eigener Verantwortung“ (§ 70 Abs. 2 HGO) sollte ausdrücklich nicht angetastet werden.

– Im Rahmen der Kommunalrechtsnovelle 1999 machten die damaligen Koalitionsfraktionen CDU und FDP bei einer öffentlichen Anhörung im Hessischen Landtag am 1.12.1999 deutlich, dass sie die beabsichtigten Maßnahmen zur Stärkung von Bürgermeistern und Landräten „nicht als Zwischenschritt, sondern als endgültige Lösung ansehen und ganz bewusst nicht den großen Schritt zum Süddeutschen Kommunalverfassungsmodell machen wollen“. Dabei erhielten sie Unterstützung aus dem wissenschaftlichen Bereich, insbesondere von dem Privatdozenten Dr. Schmidt-De Caluwe von der Justus-Liebig-Universität Gießen: „Ich halte zumindest vom Grundansatz her den Gedanken durchaus für vertretbar, sich in Hessen auf die bewährte Magistratsverfassung zu verlassen, sie weiter zu tradieren und gemächlich, moderat die Stellung des direktgewählten Bürgermeisters/Landrats einzugliedern.“ Bevor Bürgermeister und Landräte noch mehr Machtmittel, insbesondere den Vorsitz in der Vertretungskörperschaft erhielten, müsste zunächst einmal geklärt werden, weshalb und in welchem Ausmaß sich die hessische Magistratsverfassung als uneffektiv erwiesen habe. Es sei überhaupt nicht einzusehen, dass sich der Landtag zwischen bestimmten historisch gewachsenen Kommunalverfassungstypen entscheiden müsse, um effektive Kommunalverwaltungen in Hessen sicherzustellen.

– Prof. Dr. Ulrich Battis von der Humboldt Universität zu Berlin hat im Jahr 2001 dem Land Hessen im Zusammenhang mit der (erfolgreichen) Bundesratsinitiative zur Verbesserung der Besoldung der hessischen Bürgermeister und Landräte in einem rechtswissenschaftlichen Gutachten bescheinigt, dass es bei der Modernisierung der Magistratsverfassung im letzten Jahrzehnt geschafft habe, das Bürgermeisteramt entsprechend der direktdemokratischen Legitimation und den Bedürfnissen der Verwaltungseffizienz als maßgebende kommunale Spitzenposition zu kennzeichnen und gleichzeitig traditionelle Elemente seiner Kommunalverfassung festzuhalten. Dass Hessen nicht – wie so viele andere Bundesländer – durch die Übernahme des süddeutschen Bürgermeistertyps mit seiner Tradition gebrochen habe, obwohl der Bund diese Entwicklung durch die Ausgestaltung seiner Kommunalbesoldungsverordnung fördere – Bürgermeister mit Ratsvorsitz erhalten einen Bonus bei der höchstzulässigen Besoldungseinstufung –, entspreche in hohem Maß der föderalen Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Der Hessische Städte- und Gemeindebund betonte in diesem Zusammenhang, dass die Kompetenzen der hessischen Bürgermeister seit Einführung der Direktwahl „beträchtlich“ erweitert worden seien.

Im Ergebnis ist es in Hessen gelungen, in der Kommunalverfassung eine überzeugende Machtbalance zwischen dem Kollegialprinzip bei der Verwaltungsleitung und dem eigenständigen Vorsitzenden der Gemeindevertretung einerseits sowie einem starken (direkt gewählten) Bürgermeister andererseits zu finden. Dass Hessen trotz wechselnder Regierungsmehrheiten bei der Fortentwicklung der Kommunalverfassung seiner Linie treu geblieben ist, gereicht dem Landtag zum besonderen Verdienst. Man ist heute – gerade auch mit Blick auf Schleswig-Holstein, wo 1995 die Magistratsverfassung beseitigt, schon 2001 von der CDU-Landtagsfraktion ihre Wiederbelebung gefordert und schließlich 2009 die Direktwahl auf der Kreisebene wieder abgeschafft wurde – stolz darauf, nennenswerte Reibungsflächen zwischen den kommunalen Organen, zwischen den hauptamtlichen Amtsinhabern und den ehrenamtlichen Mandatsträgern, vermieden zu haben. Hessen nimmt heute mit der Magistratsverfassung entsprechend seiner geografischen Lage eine vermittelnde Position zwischen der besonderen Betonung des Bürgermeisters in Süddeutschland und der nach wie vor bestehenden Hervorhebung der Bürgervertretung und der Parteien (auch gegenüber den urgewählten Bürgermeister) in Norddeutschland ein. Einerseits sind die Machtbefugnisse der hessischen Bürgermeister nicht nahezu grenzenlos; der aus Baden-Württemberg bekannte Satz „Was der Bürgermeister nicht wünscht, erblickt nie das Licht einer Sitzung“ gilt in Hessen nicht. Ein die Verwaltung allein leitender Bürgermeister, noch dazu kraft Amtes gleichzeitig Vorsitzender der Bürgervertretung und aller ihrer Ausschüsse, gewählt für acht und nicht nur für sechs Jahre und nach der Amtseinführung unter keinen Umständen von den Bürgern wieder abwählbar: Diese Vorstellung findet bei keiner der im Hessischen Landtag vertretenen Fraktion Anklang.

Heute gilt die hessische Kommunalverfassung als gleichermaßen demokratie- bzw. verwaltungsgeeignet, modern und ausgewogen. Immer öfter ist in den letzten Jahren die Frage aufgeworfen worden, ob ihre wesentlichen Inhalte, insbesondere die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger, auch auf die Landesverfassung übertragen werden sollten. Denn die Enquete-Kommission des Bundestags „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ hat im Sommer 2002 klargestellt, dass zu einer Bürgergesellschaft, die mit den Leistungen und Gestaltungskompetenzen der Bürger rechnet, unabdingbar gehört, dass deren Rolle nicht nur mit Pflichten, sondern auch mit Rechten verbunden ist. Auch bei der Fortentwicklung des Rechts der kommunalen Finanzen stellt sich die Frage, ob und wie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Common Sense der Bürger bei der Gestaltung des kommunalen Haushalts eingebunden werden soll und kann („Bürgerhaushalt“).

Hessische Kommunalverfassung

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