Читать книгу Hella Hell - Unni Drougge - Страница 6
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ОглавлениеAm letzten Tag im März des Jahres 1958 schnitt die Hebamme in Lund meine Nabelschnur durch. Ich wurde mit einer Glückshaube und einem triumphierenden Schrei geboren. Mein Vater war während der letzten Stunden der Wehen auf dem Krankenhausflur hin- und hergelaufen und hatte dabei eine hochgradig krebserregende John Silver ohne Filter nach der anderen geraucht. Wie die meisten Ärzte dachte er nur an Komplikationen und pathologische Zustände und hatte sich bereits grauenhafte Kreißsaal-Dramen ausgemalt, zum Beispiel Ersticken, Nabelschnurriß und Schädigungen des zentralen Nervensystems (damals waren vorgeburtliche Diagnosetechniken und Ultraschall noch nicht erfunden). Als er dann meinen roten kleinen Kopf sah, den die Gebärmutter länglich und spitz zurechtgeformt hatte, rief er: »Ah! Eine kleine Nofretete!«
Von diesem Moment an war ich Papas Augenstern und genoß eine ruhige und harmonische Kindheit im behüteten Stadtviertel Professorstaden, das, anders als andere Vororte mit schönen Namen, wirklich hielt, was dieser Name versprach. Ich wuchs also im geborgenen Kultureservat der Gelehrten heran, und sowohl auf mütterlicher als auch auf väterlicher Seite streckten sich prachtvolle Verästelungen akademischer Meriten und Erfolge aus.
Daß mein Vater sehr früh an Lungenkrebs starb, kann als Erklärung für meine seelische Disharmonie nicht ausreichen. Da ich doch immerhin bei seinem Tod schon sechs Jahre zählte, war ich nach allgemein akzeptierter psychologischer Auffassung bereits ein fertiger Mensch, dessen grundlegende Bedürfnisse befriedigt worden waren. Während der folgenden Jahre wurde ich von mir selbst und von meiner Umgebung als offenes und tatkräftiges Mädchen mit jungenhaften Interessen betrachtet. Zu diesen Interessen gehörten beispielsweise Bogenschießen, später Projektionslehre (was mir sowohl in Zeichnen als auch in Mathematik Spitzennoten einbrachte) und eifriges Engagement in einem Hundeliebhaberverein, wo die Dressur von Spürhunden zu meiner Spezialität wurde (meine Mutter hatte, wie viele Nachbarn auch, einen Labrador angeschafft).
Meine Pubertät fiel in eine Zeit, in der die sexuelle Freiheit energisch auf den Schild gehoben wurde. Inges und Stens sexualtherapeutische Kolumnen in der Boulevardpresse wurden in munterer Gesellschaft laut vorgelesen und verbreiteten sich wie erogene Ringe durch die bürgerlichen Stadtviertel Lunds, in denen das Fremdgehen wütete wie ein Lauffeuer. Der Orgasmus wurde wie ein Niesen beschrieben, nur eben am anderen Ende. Natürlich und gesund, aber ansonsten kein Grund zur Aufregung. Natürlich war dabei reichlich Heuchelei mit ihm Spiel, aber diese Haltungen standen der akademischen Bohème ebenso gut wie Isländerpullover, Bart oder Das Kapital.
Nein, die erste Etappe auf meinem Weg zum Erwachsenenleben konnte ich unter einem zumeist pastellgetönten Himmel zurücklegen. Bis ich dann mit fünfzehn Jahren über die Ziellinie stolperte, und zwar in doppelter Hinsicht. Das Streben nach Gleichberechtigung hatte bei den freisinnigen Intellektuellen von Lund Wurzeln geschlagen, weshalb der oberste Wunsch auf meinem Wunschzettel erfüllt wurde und außerdem allgemeinen Beifall fand: ein Moped. Eine Puch Dakota. Und damals trug niemand einen Helm.
Ich fuhr auch nicht in den Straßengraben. Aber mitten auf der friedlichen Wohnstraße lag ein dicker Stein. Ein Wackerstein, den nur das Schicksal dort hingelegt haben konnte, und zwar gleich hinter einer Kurve. Es kam, wie es kommen mußte. Das Schicksal oder der Stein eröffneten meine Zukunft. Ich kollidierte mit diesem Brocken, fiel vom Moped und wurde mit vorübergehender Amnesie ins Krankenhaus gebracht. Als ich wieder zu mir kam und in das verängstigte Gesicht meiner Mutter blickte (ich war ihr einziges Kind), nannte ich sie zum ersten und letzten Mal »miese Fotze«. Meine rational gesonnene Mama betrachtete das als Beweis dafür, daß ich vorübergehend den Verstand verloren hätte und beschloß sofort, einzugreifen und das Sommerhaus in Åhus zu kaufen, auf das sie schon länger ein Auge geworfen hatte. Ich brauchte Ruhe und Klimawechsel und sie brauchte Urlaub von ihren Krebskranken (ich habe wohl noch nicht erwähnt, daß sie Professorin für Onkologie war).
Und in Åhus stolperte ich dann im auf diese Episode folgenden Sommer über Hiob. Ich stolperte im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte mir nicht nur eine kräftige Gehirnerschütterung zugezogen, ich hatte mir außerdem den Fuß gebrochen und mußte mich auf Krücken dahinschleppen. Auf dem weißen Sandstrand, den eiskalte Wellen mit höhnischem Glucksen beleckten, traf ich mit der Krücke ein im Sand vergrabenes Jungenbein. Erschrocken trat ich auf meinen gebrochenen Fuß und kippte um. Das Bein, das ich mit der Krücke getroffen hatte, gehörte Hiob. Er öffnete seine vollen Lippen und sagte: »Huch!« Das war vorläufig alles, aber seine Augen glitzerten wie das Meer vor uns, und das Schicksal wollte, daß wir uns gleich am selben Abend wieder begegneten. Am selben Strand, den wir beide intuitiv aufgesucht hatten. Der Blitz schlug zwischen mir und Hiob a prima vista ein, und ich konnte ja nicht ahnen, daß er erst dreizehn war, als diese Feuerkugel uns funkensprühend umschwirrte. Und so kam es, daß ich an diesem sternenklaren Abend mein Jungfernhäutchen von einer für diesen Zweck überaus geeigneten Apparatur zerfetzen ließ. Das alles trug sich im Freien zu, unter einem mit Silber gepfefferten Himmel, der mich im entscheidenden Moment des Verschmelzens mit einem Funkenregen überschüttete. Das, was sich zwischen uns zutrug, war weder ein romantischer Mondscheinkitsch noch ein unbeholfenes erstes Herumgemache. Nein, es waren die Freuden des Erwachsenenlebens, die ihre Becher in unsere durstigen Kehlen ergossen, während wir noch über die kindliche Fähigkeit verfügten, die Ekstase auszudehnen. Unsere Körper waren ein funkelnder Vergnügungspark, in dem jede Synapse zu einer Paradenummer wurde ... ich kann das nicht erklären. Es war eben etwas ganz Besonderes. Und es geschah dieses Mal. Aber das war genug.
Als Hiobs Mutter uns unter dem umgedrehten Fischerboot ertappte, war es schon spät, und wir gingen mit einer Trennungsangst auseinander, die vermutlich nur Frühgeburten erleben, wenn sie zum Abschied von der Schwerelosigkeit des Mutterleibes gezwungen werden. Wir gelobten einander ewige Liebe, und die setzten wir heimlich am Strand und im Tannenwald in die Tat um, bis die Sommerferien dann zu Ende gingen.
Sowie ich am ersten Schultag nach Hause gekommen war, rief ich Hiob an. Seine Mutter meldete sich mit rauher, tonloser Stimme. Hiob war aus unerfindlichen Gründen auf das Dach eines Busses geklettert und bei seinem kühnen Sprung auf eine Hochspannungsleitung mehr oder weniger verkohlt.
Als diese entsetzliche Hiobsbotschaft mich erreicht hatte, war auch ich total vernichtet.
Der Rest meiner Kindheit ist wie Asche im Wind, er kann unmöglich zu einer festen Form zusammengefügt werden.