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Kinderheim

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So bekam ich mit zwei Jahren den ersten Kontakt mit der staatlichen Gemeinschaft. Das Heim, in das man mich brachte, ist das größte Kinderheim in Europa. Es liegt im Süden der Stadt Berlin (Ost) in einem Wald, der Königsheide. Sechshundert Kinder fanden hier eine Unterkunft, ein Zuhause oder was sonst so ein Kind von einem Kinderheim halten mochte.

Von der Straße, der Südostallee, ist das Heim durch ein schmiedeeisernes Tor, verziert mit Eichhörnchen, zu betreten. Der Hauptweg endet vor der Schule, die dem Tor genau gegenüber steht. Rechts und links des breiten Weges zweigen kleinere Wege zu den Wohnhäusern ab. Große Rasenflächen mit Blumen und Bäumen vollenden die parkähnliche Gestaltung der unmittelbaren Umgebung. Hinter jedem Haus gibt es einen Spielplatz.

In den Häusern Nummer 1, 3 und 4 leben die Kinder, die zur Vorschule oder Schule gehen, in Gruppen. In Nummer 2 beginnt das Heimleben für die Säuglinge.

Im Wirtschaftshaus mit der Schuster-, Schlosser- und Schneiderwerkstatt, der Wäscherei und der Kleiderkammer befindet sich für etwa zweihundert Kinder der Speisesaal. Auch der Heimleiter wohnt dort, und im gleichen Gebäude hat die Fürsorge ihr Büro. Außerdem gehören zum Heim ein Schulgarten, ein Sportplatz, eine Turnhalle und eine Freilichtbühne.

Im Alter von zwei Jahren machte ich meine ersten Lebenserfahrungen mit der Kinderschwester. Sie band mich mit Gurten an das Kinderbett, so konnte ich nicht hinausklettern.

Ich weinte oft, denn die Gurte taten weh.

Besondere Freude schien sie daran zu haben, mich auf ein Schaukelpferd zu setzen. Ich schrie fürchterlich vor Angst, und je lauter ich weinte, desto stärker schaukelte sie mich.

Mit drei Jahren kam ich in das Vorschulhaus. Dort lernte ich ziemlich schnell, wie einsam Gruppenerziehung machen kann, aber auch, wie ich mich davor schützen konnte. Vor allem zwei Erlebnisse zeigten mir das deutlich.

Als ich einmal dringend zur Toilette musste, fragte ich die Erzieherin, ob ich gehen dürfe, denn ohne ihre Erlaubnis durften wir die Gruppe nicht verlassen. Wir spielten auf dem Waldspielplatz, der fünf Minuten vom Haus entfernt lag.

Sie sagte: »Halt aus, bis wir hineingehen!«

Ich bettelte so sehr, dass sie mich schließlich doch gehen ließ, aber auf der Treppe machte ich mir in die Hose. Den Rest des Tages lebte ich in Angst davor, dass es jemand merken könnte und ich dafür eine Strafe bekäme. Davor fürchtete ich mich am meisten, denn bestraft wurde immer im Kollektiv. Alle mussten sich um das »böse« Kind stellen und auf das Kommando der Erzieherin »Pfui, pfui« rufen oder Ähnliches.

Mein Unglück war, dass ich meine Sachen nie ordentlich auf den Stuhl legte. Ausgerechnet an diesem Abend hatte ich sie besonders sorgfältig zusammengelegt, den Schlüpfer ganz unten. Dadurch verriet ich mich. Ich stand nackt im Waschraum, als die Erzieherin mit meiner Hose in der Hand hereinkam und in drohendem Ton fragte: »Hast du eingepullert?«

Vor Schreck und Angst bekam ich kein Wort heraus. Da rief sie alle Kinder in den Waschraum. Sie standen um mich herum, starrten mich an und warteten auf ihren Einsatz. Und dann brüllten alle auf den Befehl der Erzieherin im Chor: »Einpuscher, Einpuscher!«

Das Auslachen und die Beschimpfungen der Kinder schüchterten mich ein, ich schämte mich furchtbar, konnte aber nicht weinen. Daraus lernte ich, mich beim nächsten Mal schlauer zu verhalten.

Es war die Nacht vor dem 1. Juni, dem Tag des Kindes. Dieser Tag wurde als Höhepunkt des Jahres mit viel Tamtam im Heim gefeiert. Dazu gehörten einstudierte Tänze, Spiele, Luftballons und Bonbons. Unsere Erzieherin ermahnte uns, nicht ins Bett zu machen.

Ich gehörte nicht zu den Bettnässern, doch in dieser Nacht musste ich dringend auf die Toilette. Wir waren sechs Kinder im Schlafraum. Leise stand ich auf, ging zur Tür, erreichte die Klinke aber nicht. Ich war zu klein.

Langsam ging ich zum Bett zurück, setzte mich auf den Rand und überlegte, wie ich am besten aus dem Zimmer käme, da passierte es auch schon. Am liebsten hätte ich geweint, aber dann fiel mir ein: Vielleicht wird ein Kind davon wach und petzt? Die Strafe vom ersten Mal hatte ich nicht vergessen. Mit Mühe unterdrückte ich die aufkommenden Tränen, dachte an die Brause, die es am Morgen geben würde und auf die ich nicht verzichten wollte.

In meinem Zimmer lag ein Junge, von dem ich wusste, dass er Bettnässer war. Schnell zog ich mein Laken ab, warf es auf das Bett des Jungen und hockte mich auf den Fußboden, um ihm sein Laken unter dem Körper wegzuziehen. Als ich es hatte, ohne dass er davon erwachte, freute ich mich, denn es fühlte sich noch warm und trocken an. Gerade als ich damit beschäftigt war, das geklaute Laken über meine Matratze zu ziehen, ging das Licht an, und die Nachtwache stand im Raum.

»Was machst du denn da?«

»Mein Bett ist so zerwühlt«, antwortete ich, »ich will es ordentlich machen.«

Bei dieser Lüge wagte ich es nicht, sie anzusehen. Glücklicherweise entdeckte sie das Laken auf dem Jungen, ich hatte es einfach über seinen Körper geworfen. Sie nahm es in die Hände, betrachtete es von allen Seiten und schimpfte dabei: »Der hat ja schon wieder eingemacht!«

Wütend faltete sie das Laken zusammen, legte den schlafenden Jungen darauf, löschte das Licht und verließ den Raum.

Am nächsten Morgen fragte die Erzieherin: »Wer hat in der Nacht eingemacht?« Prüfend ging sie von einem Bett zum anderen. Die Kontrolle endete am Bett des Jungen, mein Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals. Aber zum Glück war das Laken getrocknet. Ich war sehr erleichtert, denn nun bekamen wir alle Brause und keine Strafe.

Die Erzieher kamen, wenn es ums Strafen ging, auf die sonderbarsten Ideen. Redeten wir beim Abendessen zu laut, knipsten sie ohne Warnung das Licht aus und zogen die Vorhänge zu, so dass es stockdunkel im Zimmer war. Vor Angst schrien und weinten alle Kinder laut durcheinander. Sobald das Licht ausging, rutschte ich von meinem Stuhl unter den Tisch; hier fühlte ich mich sicher, hatte aber trotzdem wahnsinnige Angst vor dem Murmelmann.

Das Weinen der Kinder schien bei den Erzieherinnen erst dann Befriedigung zu finden, wenn es in lautes Brüllen überging. Das erreichten sie, indem sie von draußen an die Fensterscheiben klopften und dabei mit verstellter Stimme riefen: »Hu, hu, hier ist der Murmelmann, ich komme euch jetzt holen!«

Wenn wir dann schrien: »Nein, nein, wir sind wieder artig!«, ging das Licht an, und kein Kind wagte, auch nur zu schluchzen.

Weinen in der Dunkelheit

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