Читать книгу Weinen in der Dunkelheit - Ursula Burkowski - Страница 16
Pflegeeltern
ОглавлениеDie ersten Pflegeeltern für das Wochenende bekam ich, als ich noch nicht zur Schule ging. Dort fühlte ich mich nicht wohl. Ich schlief in einem Raum, der vollgestopft war mit alten, dunklen Möbeln. Ein Schrank mit einem großen Spiegel in der Mitte war die einzige Abwechslung für mich. Stundenlang stand ich davor und machte Faxen. Ab und zu öffnete sich die Zimmertür, dann schauten fremde Menschen herein, denen ich als armes Heimkind vorgestellt wurde und brav guten Tag sagen sollte, was ich nicht tat. Überhaupt sprach ich nie bei fremden Leuten. Ohne die vielen Kinder fühlte ich mich einsam. Mein Verhalten entsprach nicht den Vorstellungen der Eltern, und sie ließen mich wieder im Heim.
Mit sechs Jahren bekam ich die zweiten Pflegeeltern. An einem Sonnabendnachmittag hatte ich mich mit einem Mädchen gezankt, und die Erzieherin gab mir nicht recht. Vor Wut heulte ich, mir lief die Nase, und ich wollte am liebsten keinen Menschen mehr sehen. Schon bei Christians Unfall hatte ich begriffen, dass es im Heim besser war, keine Gefühle zu zeigen. Nie war man allein, immer stand man unter Beobachtung. Oft verwechselten die Erzieher unsere Gefühlsausbrüche mit Ungehorsam, Frechheit oder Wut.
Da kam der Hausleiter und sagte zu mir: »Putz dir die Nase, trockne deine Tränen, sei jetzt schön lieb und komm mit in mein Büro, deine Eltern sind da.«
Vor Schreck vergaß ich das Heulen, aber dann fiel mir ein, dass ich ja keine Eltern hatte. Ich ließ meine Tränen und die Nase weiterlaufen, rutschte trotzig mit dem Rücken an der Flurwand hinunter, setzte mich auf den Boden und sagte: »Nee, jarnich!«
So wie ich war, zog er mich an meiner Hand wieder hoch und ging mit mir zum Büro.
An einem runden Tisch saßen ein Mann und eine Frau. Sofort spürte ich, dass es nicht meine richtigen Eltern waren, und zeigte ihnen gegenüber kein Interesse. Mit gesenktem Kopf, den Blick auf meine alten Hausschuhe gerichtet, als ob diese alles mir geschehene Unrecht wiedergutmachen könnten, sahen mich die neuen Pflegeeltern zum ersten Mal. Es wurde über mich verhandelt und beschlossen, dass sie mich am Wochenende abholen sollten. Mich fragte keiner!
Die Kinder meiner Gruppe erkundigten sich aufgeregt, wie die neuen Pflegeeltern aussahen. Ich wusste es nicht, es war mir auch egal.
Abgeholt wurde ich dann von der Nichte meiner Pflegeeltern. Ängstlich klammerte ich mich an die Hand des Mädchens. Außerhalb des Heimes, in der großen Stadt, fühlte ich mich fremd. Hoffentlich lässt sie mich nicht los, dachte ich, allein würde ich nie mehr ins Heim zurückfinden.
Mit der S-Bahn fuhren wir nach Lichtenberg. Wir liefen durch ein paar Straßen und standen dann vor einer Tür mit dem Namen »Hube«. Auf unser Klingeln öffnete Frau Hube die Tür.
»Herein in die gute Stube«, sagte sie, die nun meine neue Mutter werden sollte. Erst als wir im Zimmer standen, sah ich sie mir an. Sie machte einen strengen Eindruck auf mich. Das fade, dunkelblonde Haar trug sie ganz kurz, in leichter Dauerwelle, was ihren strengen Gesichtsausdruck noch mehr unterstrich. Ihre blassblauen Augen blickten ohne Liebe auf mich herab. Dazu kam ihr schmaler Mund, der verkniffen lächeln wollte. So hatte ich mir eine Mutter nicht vorgestellt. Ich ließ mir meine Abneigung nicht anmerken. Das Mädchen sagte »tschüs« und ging. Nun war ich allein, am liebsten hätte ich geweint und gerufen: Bringt mich nach Hause!
»So«, sagte dann die Mutter, »nun kommt gleich der Vati.«
Gespannt sah ich zur Tür, wie denn nun der »Vati« aussah. Ich wünschte, er möge netter als seine Frau aussehen. Da kam er herein, groß, mit halber Glatze. Noch nie hatte ich einen Mann ohne Haare gesehen, und fasziniert starrte ich auf seinen Kopf. Frau Hube forderte mich auf, ihrem Mann die Hand zu geben und zu sagen: »Guten Tag, Vati!«
Ich ging zu ihm, gab ihm die Hand, sagte brav: »Guten Tag«, konnte aber das Wort »Vati« nicht herausbringen. Im Raum war es sehr still, alle warteten auf das eine Wort, selbst ich wartete. Aus meinem Mund kam jedoch kein Laut.
Da lachte der Mann und sagte: »Ach, weißt du, wenn du nicht Vati sagen willst, musst du nicht Vati sagen, sondern sagst einfach Onkel.«
Meine angespannte Starrheit löste sich, und ich fand diesen Onkel viel netter als seine Frau Tantemutter.
Jedes Wochenende holten sie mich ab, aber eingewöhnen konnte ich mich nie. Mir fehlten die Kinder und das Heim mit seiner Umgebung. Bei den Eltern war ich immer allein. Entweder saß ich am Ofen und spielte mit kleinen Puppen, oder ich musste ihnen meine Lesekünste vorführen. Dazu ließen sie sich regelmäßig die Kinderzeitung »Frösi« ins Haus schicken.
Da ich nicht gut lesen konnte und es auch nicht wollte, hasste ich bald diese bunte Zeitschrift und die Wochenenden. Wenn der Freitag nahte, lag ich nachts wach und dachte: Hoffentlich haben sie dich vergessen und kommen nicht. Aber das traf nie zu. Pünktlich um 10 Uhr holten sie mich ab.
Nur im Sommer war es bei ihnen schöner, da paddelten wir mit den Faltbooten über die Krampe oder den Müggelsee. Die Verwandten meiner Pflegeeltern – Schwester, Mann und Kinder – fuhren auch mit. Sie hatten alle das gleiche Bootshaus, und dort sah ich dann oft meinen Bruder, was mich glücklicher machte, als wenn ich nur mit Erwachsenen zusammen war.