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Ausflug nach »drüben«
ОглавлениеUte, eins der größeren Mädchen, hatte einen Bruder in West-Berlin. Sie fuhr oft zu ihm hinüber, um sich Mickymaus-Hefte oder Liebesromane zu holen. Diese Hefte waren im Heim als Schundliteratur strengstens verboten. Mir gefielen die Mickymaus-Hefte so gut, dass ich sie mir von ihr ausborgte. Im Wald sah ich sie mir dann heimlich an.
An einem Nachmittag fragte mich Ute, ob ich mal mit nach drüben fahren möchte. Von einer ungeheuren Neugier getrieben, sagte ich sofort zu. Wir kletterten über den Heimzaun und liefen durch den Wald, dann durch eine Laubenkolonie, und am Teltowkanal mussten wir nur noch über eine Brücke gehen. Unentdeckt von der Polizei, schafften wir es.
Ich sah Schaufenster, gefüllt bis zum Rand, wie ich sie aus Ost-Berlin nicht kannte. Bei uns gab es die Butter auf Marken. Manchmal schickte mich die Erzieherin aus Zeitmangel in den Konsum. Dort gab ich die Marken ab und erhielt die zugeteilte Butter. Hier in West-Berlin lag sie einfach im Regal. Aber am tollsten fand ich die Kaugummiautomaten an den Hauswänden. Vor Begeisterung kam ich aus dem Staunen über so viele schöne Dinge nicht mehr heraus.
Utes Bruder schenkte uns Geld für Kuchen, den wir uns selbst aussuchen durften.
Im Bäckerladen bewunderte ich gerade die vielen Sorten von Torten und Broten, da fragte mich die Verkäuferin: »Was möchtest du?«
Stolz zeigte ich auf einen riesigen Liebesknochen.
Als sie mein blaues Pioniertuch sah, fragte sie: »Bist du Pionier?«
Aus Angst, sie würde mir keinen Kuchen geben, wenn ich »Nein« sagte, antwortete ich schnell: »Natürlich!«
Da fing sie laut an zu lachen und sagte verächtlich: »Pioniere bekommen bei mir keinen Kuchen!«
Wütend und traurig zugleich verließ ich den Laden und dachte: Scheiß Olle, sitzt mit dem Arsch in der Sahne und rückt nichts raus!
Nie wieder habe ich freiwillig das Halstuch getragen, sondern nur zu den Pflichtveranstaltungen im Heim.