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Krank

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Nach meinem fünften Geburtstag wechselte unsere Kindergruppe die Etagen. Wir zogen in den ersten Stock, und die Jüngeren erhielten Räume im Parterre. Nun konnten die Erzieher nicht mehr von draußen an die Fensterscheibe klopfen und uns Angst einjagen.

Ich hasste den Mittagsschlaf. Nie war ich müde – aber wehe, wir hatten die Augen noch offen, wenn die Erzieherin den Raum kontrollierte! Dann schimpfte und schüttelte sie die Kinder so, dass sie sich anschließend in den Schlaf heulten.

Eine andere Erzieherin war nicht ganz so grob, aber sie schlug die Decke über das Bettgestell, so dass wir wie in kleinen Höhlen lagen. Das hatte auch sein Gutes, denn ich brauchte meine Augen nicht zu schließen und konnte durch einen Seitenspalt den Himmel oder das Dach des Quergebäudes beobachten. Einmal schob sich durch diese Ritze eine Hand, und vor meinen Augen lag eine dreieckige Papiertüte. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Erst als ich keine Geräusche mehr vernahm, drückte ich mit den Fingerspitzen vorsichtig eine kleine Öffnung in das Papier und entdeckte braune Malzbonbons, deren süßer Duft sofort durch mein ganzes Bett strömte. Voller Glücksgefühl schlief ich tatsächlich ein. Aber als ich erwachte, war die Tüte weg. Meine Enttäuschung war so groß, dass ich nicht einmal weinte. So habe ich nie erfahren, wer sie mir gab und wieder nahm. Erst viel später hörte ich von den Kindern, dass sie Ähnliches erlebt hatten. Es musste eine Erzieherin gewesen sein, die nur wollte, dass wir schliefen.

Eine noch sehr junge Erzieherin setzte mich eines Tages auf ihre Schultern und lief mit mir durch den Gruppenraum.

Ich wurde nie einem anderen Kind gegenüber bevorzugt und fand es darum recht seltsam, dass ich für die Tollerei ausgesucht wurde, und deshalb blieb ich sehr ernst. Außerdem verursachte mir diese ungewohnte Höhe Angst. Aber die Erzieherin lachte und sprang mit mir herum, bis ich schließlich auch lachen musste. Durch das offene Fenster hörte sie plötzlich eine Kollegin ihren Namen rufen. Neugierig trat sie mit mir an das Fenster und rief nach unten: »Schau mal, das ist mein kleiner Angsthase!«

Dabei beugte sie sich weit hinaus. Vor Schreck krallte ich mich fest in ihre Haare und jammerte leise. Sie lachte und lachte, dabei verlor ich das Gleichgewicht. Ich spürte plötzlich keinen festen Halt mehr und stürzte in die Tiefe.

Mein Kopf tat mir fürchterlich weh. Als ich die Augen aufschlug, lag ich in einem fremden Bett, auch das Zimmer war mir unbekannt. Ich konnte meinen Kopf nicht bewegen und weinte. Eine Frau, ganz in Weiß, trat an mein Bett und streichelte mich beruhigend. Sie hieß Schwester Brigitta, und sie erzählte mir, dass ich aus dem Fenster gefallen sei und mich auf der Krankenstation befände. »Wenn du alles schön tust, was ich sage, wirst du schnell wieder gesund und darfst zu den anderen Kindern zurück.«

Nur immer im Bett liegen wollte ich natürlich nicht, deshalb machte ich wirklich folgsam alles, was sie sagte, und kam bald wieder zu meiner Gruppe.

Die Erzieherin habe ich nie mehr gesehen, aber ich hatte von da an Angst vor allen großen Menschen, die mich auf den Arm nehmen wollten, und machte um Delegationen und Besucher einen Bogen.

Unser Heim war das Vorzeigeheim. Menschen aus aller Welt sahen es sich an und staunten über die Sauberkeit und Ordnung. Hin und wieder erschienen dann am nächsten Tag Fotos von uns in der Zeitung, was die Erzieher sehr freute. Immer wenn Fremde kamen, standen oder saßen wir in Sonntagssachen in unserem Gruppenraum. Nette Worte über die Schönheit des Heims wurden gesprochen, und dann näherten sich die Besucher uns Kindern. Komische Fragen hatten sie dann: »Na, Kleine, wie gefällt es dir hier?« oder »Bist du traurig, dass du keine Eltern hast?«

Ich stand starr und stumm und hoffte nur, nicht angefasst zu werden. Eltern? Ich wusste gar nicht, was das war. Und gefallen? Außer dem Heim kannte ich nichts anderes, ich verstand einfach ihre Fragen nicht.

Weinen in der Dunkelheit

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