Читать книгу SELBST-geführte Psychotherapie - Uta Sonneborn - Страница 26

Atmosphären

Оглавление

Atmosphäre ist physikalisch eine Lufthülle der Erde, im übertragenen Sinne die Luft, die wir atmen, das Fluidum, das Medium, das die Stimmung der Umwelt vermittelt. Atmosphäre umgibt uns ständig und überall, ist von Sinnesempfindungen, Gefühlen und Erleben durchwirkt, von Bewusstem und Unbewusstem. Atmosphäre ist nichts Statisches. Sie ist nicht beobachtbar, nur wahrnehmbar. Sie ist spürbar, nicht greifbar, oft schwer zu beschreiben. Dennoch wirkt sie auf alle Sinneskanäle eines jeden Menschen je nach Prädisposition und Empfänglichkeit und bereitet ein Feld. Atmosphären, Erlebtes, Szenen, Erinnerungen sind kognitiv, sensomotorisch und emotional im Kopf-Gedächtnis und Leib-Gedächtnis repräsentiert.

Jeder Mensch strahlt Atmosphären aus. Das unbewusste Fluidum, das ein Mensch verbreitet, ist atmosphärisch spürbar. Wenn sich zwei oder mehrere Menschen begegnen, treffen sich ihre Atmosphären, ob sie das wollen oder nicht, sie vermischen sich ohne unser Zutun. Wir sprechen davon, dass die Chemie stimmt oder eben nicht. Atmosphäre kann als anthropologische Synergie betrachtet werden, so Hilarion Petzold. ­Atmosphären sind auch das unbewusste spürbare Feld des intrapsychischen und/oder des interpersonellen Verwoben-Seins.

Eine Schulung der Wahrnehmung bezüglich Atmosphären und der aktive Umgang mit ihnen ist bei der Arbeit mit Menschen ungeheuer nutzbringend und hilfreich bei Diagnostik, Therapie und Professioneller Selbstfürsorge. Zudem ist sie eine enorme Bereicherung der Sinne und des Erlebens. Bei dem Phänomen der Gegenübertragung spielen Atmosphären eine zu beachtende Rolle.

Die Ausstrahlung der Behandler*innen und der Klient*innen, die Inhalte und die Art und Weise, wie kommuniziert wird, bestimmen maßgeblich die Atmosphäre, in der ein Gespräch stattfindet. Und sie haben eine Auswirkung auf die Beteiligten. Jeder Mensch reagiert auf diese szenischen, nonverbalen und nur über die Sinne erlebbaren Atmosphären. Man denke nur an den Geruch in einer Zahnarztpraxis oder das aromatische Ambiente in einem Kaffeehaus, wiederum mit meist unbewussten physiologischen und emotionalen Folgen. So können Atmosphären erinnern im angenehmen oder triggern im traumatischen Sinn. Wenn ich zu meinem Gegenüber freundlich und offen eingestellt bin und dies atmosphärisch spürbar wird, kann in ihm eine andere Reaktion erwachsen, als wenn ich ihn abwertend betrachte oder eine negative Meinung über ihn habe.

Ein kleines Beispiel, wie verinnerlichte erlebte Szenen atmosphärisch triggern können: Eine Klientin war verzweifelt darüber, dass sie und ihr Freund sich immer, wenn sie in einem bestimmten Restaurant waren, so existenziell stritten, dass sie ihre Beziehung infrage stellten. Sie saßen immer an ihrem Stammplatz und nahmen auch immer bestimmte Plätze bei Tisch ein. Bei der Bearbeitung dieses Problems stellte sich heraus, dass die Klientin (K) sich in ihrer Herkunftsfamilie zehn Jahre lang jeden Tag beim Essen mit dem Vater aufs Heftigste gestritten hatte. Die Sitzposition am Esstisch war damals dieselbe wie jetzt mit ihrem Partner (P) in dem Restaurant. Die Klientin hatte unbewusst die explosive ­Tischatmosphäre mit ihrem Vater auf den Freund übertragen. Das Problem mit dem Vater konnte in der Therapie bearbeitet werden. Bei den nächsten Restaurantbesuchen wählten sie eine andere Sitzordnung und der Abend verlief harmonisch. Beide waren sehr erleichtert, dass sie fortan in Ruhe miteinander essen gehen konnten.

Empathie und Zuversicht sind die beiden wirkstärksten Faktoren in der erfolgreichen Behandlung eines Menschen. Sie werden vor allem durch die atmosphärische Haltung und Ausstrahlung, die vorwiegend nonverbal ausgedrückt werden, vermittelt. Ist die verbale Kommunikation mit der nonverbalen in Gestik, Mimik, Haltung, Ausdruck etc. kongruent, werden die Klient*innen und Patient*innen diese Empathie und Zuversicht verstärkt in sich erleben können. (Zur Erinnerung: Von der nonverbalen Kommunikation kommen 50–70 Prozent beim Gegenüber an, von der verbalen Kommunikation 30–50 Prozent.) Sie werden darauf mit einer anderen Haltung und Gestimmtheit reagieren, als wenn sie bewertend oder aus einem Persönlichkeitsanteil der Behandler*innen betrachtet werden.

Zur Atmosphäre und zum Klima in einer Praxis oder einem sonstigen Arbeitsumfeld tragen die dort tätigen Menschen mit ihren Grundstimmungen und momentanen Befindlichkeiten ebenso bei wie ihr Verhältnis untereinander. Auch die Patient*innen und Klient*innen, die an diesem Tag in die Praxis kommen, haben durch ihre Gestimmtheit Einfluss auf die Atmosphäre, zum Beispiel im Wartezimmer. Und auch das äußere Ambiente, die Gestaltung der Räumlichkeiten, die Farben und Formen, die Geräusche und Gerüche, alles wirkt auf die Sinne und prägt die Atmosphäre mit.

SELBST-geführte Psychotherapie

Подняться наверх