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Das Selbst

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Schwartz weist dem Selbst zwei wesentliche Bedeutungen zu. Einmal die spirituelle Dimension des höheren Selbst und zum anderen die Bedeutung des Selbst als dem Zentrum, den unverletzbaren Wesenskern eines jeden Menschen. Mit dieser Bedeutung arbeitet die »Systemische Therapie mit der Inneren Familie« vorwiegend. Hier ist in Sternstunden der kleine göttliche Funke, wie C.G. Jung es ausdrücken würde, erlebbar, wobei sich die Verbindung zu der erstgenannten Bedeutung von Selbst zeigt.

Wie bereits gesagt: Das Selbst ist kein Teil. Das Selbst erfährt sich an den Teilen. Es kann aktiv und mitfühlend das System führen, wenn es ausdifferenziert und nicht mit Teilen verschmolzen ist. Es ist unparteiisch und nicht identifiziert mit einem Teil. Es ist kompetent, sicher und ­voller Selbstvertrauen, gelassen und in der Lage, Rückmeldungen der Teile zu hören und darauf einzugehen. Das Selbst hat nur so viel Macht, wie die Teile ihm zugestehen. Das Selbst respektiert die Teile, es bittet zum Beispiel die Teile um etwas, auch kann es sich bei den Teilen bedanken. Das Selbst muss auch nicht hundertprozentig vorhanden sein. Richard Schwartz meint, 30 Prozent seien genug


Das Selbst kann sich zeigen durch zehn Eigenschaften, die wir die C-Worte oder auch die zehn Cs, nennen, da sie im Englischen alle mit C beginnen:

calm – ruhig, gelassenconfident – vertrauensvoll, zuversichtlich
curious – neugierig, offen, interessiert compassionate – mitfühlend
creative – kreativconnected – verbunden
clear – klar, stimmigconstant – verlässlich
centered – zentriertcourageous – mutig

Diese zehn Eigenschaften (hier wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben) kommen gegenüber den eigenen Anteilen zum Ausdruck sowie gegenüber anderen Menschen, der Natur und der Umwelt.

Das Selbst wertet nicht. Das Selbst weiß intuitiv am besten, wie den Teilen zu helfen ist – wenn diese es zulassen. Im Zustand des Selbst erlebt der Mensch (Klient*in, Therapeut*in) Empathie, Annahme und Akzeptanz für seine Persönlichkeitsanteile, seine verschiedenen Seiten und Facetten. In der Selbstführung liegt ein großes (Heilungs-)Potenzial. Menschen, die ihr wahres Selbst erfahren haben, wissen, dass nicht sie, sondern »nur« Teile von ihnen die Aufgabe von extremen Rollen übernehmen. Sie hegen große Wertschätzung für die Teile. Personen im Selbst sind fähig, zentriert zu bleiben und trotzdem die Gefühle der Teile zu erleben, anstatt von den Gefühlen überschwemmt zu werden, mit ihnen zu verschmelzen oder mit ihnen identifiziert zu sein. Sie können aus ihrer Selbsthaltung ihre Teile bitten, sie nicht zu überfluten, weil sie ihnen dann nicht helfen können. Einen Menschen mit Selbstführung zu erkennen ist leicht. Bei ihm hat man das Gefühl, so sein zu können, wie man ist, ihm nichts vormachen zu müssen, sich angenommen, sich gesehen, sich nicht bewertet zu fühlen, seine menschliche Präsenz, seine Güte, sein Wohlwollen, seine Offenheit, sein echtes Interesse, seine Neugier zu spüren. Man erkennt an seinen Augen, der Stimme, der Körpersprache, der Haltung, der Bewegung, dass er verlässlich, natürlich, ungekünstelt, authentisch und absichtslos ist. Er ist nicht fixiert auf eigene Ziele oder Selbstdarstellung, hat eine natürliche Bereitschaft zu geben, ohne sich ausnutzen zu lassen. Er spürt Dankbarkeit und Demut ohne Unterwürfigkeit. Er muss nicht mithilfe von Gesetzen oder Moral dazu gezwungen werden, das Richtige zu tun. Er hat ein natürliches Mitgefühl für alle Kreaturen und die Natur, eine Leidenschaft für das Leben. Er ist motiviert, den Zustand der Menschheit und der Umwelt zu verbessern, weil er das Bewusstsein hat, dass wir alle miteinander verbunden sind. Jeder Mensch kann in sich SELBST sein, und keiner wird es dauerhaft sein. Es geht nicht darum, ein »Heiliger« zu werden, sondern die Freude einer möglichen Selbstführung immer wieder erleben zu dürfen. Das Schöne daran ist: Je mehr die Teile dem Selbst vertrauen und je mehr die Teile von Alt- oder Erblasten entlastet und befreit sind, umso mehr Selbstqualitäten entfalten sie und arbeiten freudig dem Selbst zu – auf natürliche Weise; ein System in einer stimmigen Ökologie. Das Selbst in der IFS hat also diesen im Alltag sichtbaren, im bewussten mentalen und körperlichen Erleben spürbaren und identifizierbaren Aspekt, mit dem es sich – auch therapeutisch – so wunderbar arbeiten und leben lässt. Gleichzeitig ist das Selbst aber auch ein ozeanisches Gefühl von Verbunden-Sein, in der Welt sein, eins zu sein mit der Natur und dem Universum, ein Gefühl von innerer Zufriedenheit, von Glück, von Grenzenlosigkeit, ein Flow. Es kann spürbar sein als pulsierende Wärme, Licht oder Energie durch den Körper oder um ihn herum, von Weite und Raum in Körper und Geist. Auch in unserer Körperhaltung, in unseren Augen, in unserer Gestik, Mimik, Körperspannung, unseren Bewegungen können wir spüren, wie wir SELBST präsent sind. Ein stimmiges Körpergefühl und Herzenswärme ist ein weiterer Hinweis dafür, gerade bei sich SELBST sein. Es ist Liebe, Seele, Natur. Es ist grundlegend da, bei jedem, manchmal mehr oder weniger verborgen, verdeckt, versteckt. Wenn die Therapie die Blätter der Teile, die auf ihm liegen und es verdecken, einzeln identifizieren und um ein bisschen Abstand zum Selbst bitten, wird es sichtbar und erlebbar.

Bei schwer traumatisierten Menschen kann das Selbst auch außerhalb des Körpers zu finden sein. Beschützerteile haben es einst in der traumatischen Situation aus dem Körper herauskatapultiert, um das System vor Schmerz, Gewalt, Erniedrigung zu schützen. Das Selbst muss jedoch verleiblicht sein, um die Selbstführung übernehmen zu können. In diesem Fall muss das Selbst erst wieder den Weg zurück in den Körper finden, bevor die Teile es als ihre Führung anerkennen können. Eine vollständige Antwort, was das Selbst sein kann, wage ich nicht zu geben, das wäre sehr vermessen. Wenn wir in diesem Kontext von dem Selbst sprechen, dann meinen wir eher Selbst-Qualitäten, die wir in unserm Körper, im Fühlen, im Denken und im Verhalten bewusst erleben können. Das Selbst scheint jedoch die Geister sehr zu beschäftigen. In Psychologie, Philosophie und Anthropologie gibt es sehr viele Definitionen von Selbstbegriffen. (Siehe dazu auch das Kapitel »Das Konzept des Selbst – eine Annäherung« von Ruthild Haage-Rapp.)

Ein hundertprozentiges Selbst wird ein normal sterblicher Mensch auf Erden niemals erreichen. SELBST können wir nicht machen. Anstrebenswert ist es jedoch, die SELBST-Qualitäten immer wieder in sich zu erkennen, sie aufzuspüren, sie zu fühlen, zu erleben und ihnen einen möglichst großen Platz im Leben einzuräumen, auf dass sie SEIN können. Das gelingt, wenn wir Zustände unterscheiden können, in denen wir Teile-geleitet unterwegs sind, um dann möglichst bald die Teile zu bitten, wieder uns SELBST die Leitung unserer Geschicke in die Hände zu geben.

SELBST-geführte Psychotherapie

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