Читать книгу Die verschwundene Welt des James Barkley - Uwe Woitzig - Страница 14
31.12., 8.45 Uhr GMT, Hans Place, London
Оглавление„Einen Kaffee?“
Chiefinspektor Paul Fryer nickte griesgrämig. Die Lektüre der „Sun“ hatte ihm den klaren Wintermorgen gründlich verdorben. Als er seine luxuriöse Vierzimmerwohnung am Hans Place in Kensington verließ, war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wie immer hatte er einen letzten prüfenden Blick in seinen zwei Meter hohen venezianischen Garderobenspiegel geworfen und selbstgefällig seine makellose Erscheinung genossen. Er trug ein von Dege & Skinner in der Savile Row maßgeschneidertes kleinkariertes Sakko in dezentem Grün, das durch ein gelbes Einstecktuch noch eleganter wirkte und seine schlanke Figur perfekt definierte. Zu seinem blauen Maßhemd von Turnbull & Asher aus der Jermyn Street hatte er nach sorgfältiger Prüfung seiner gut 80 Krawatten eine grüngelbe Paisley-Krawatte von Hermès ausgewählt. Die graue Flanellhose mit einem braunen Krokodilledergürtel harmonierte mit seinen rotbraunen italienischen Budapesterschuhen, die er bei demselben Schuster in Florenz anfertigen ließ, der während seiner Abwesenheit auch seinen Landsitz in der Toskana betreute und ihn immer mit exquisiten Rotweinen aus der Region versorgte. Seine trotz seiner 62 Jahren immer noch schwarzen Haare hatte er eng an seinen Kopf anliegend nach hinten gekämmt, so dass seine hohe Stirn und seine klugen braunen Augen mit dem stets spöttischen Ausdruck gut zur Geltung kamen.
Er betrachtete prüfend sein perfekt abgestimmtes Ensemble. Obwohl er seine geringe Körpergröße von 1,67 Meter sein Leben lang als Handicap empfunden hatte, war er mit seiner Erscheinung zufrieden. Seit dem Tod seiner Frau lebte er nur noch für seine Markenklamotten und seine toskanischen Weine aus kontrolliertem Anbau. Dieser armselige Materialismus war ein ständiger Streitgrund zwischen ihm und seiner aufmüpfigen Tochter. Bei dem Gedanken an sie verzog er seinen schmallippigen Mund zu einem schiefen Grinsen. „Wenn es einen Gott gibt, so liebt er deinen Vater, mein Kind. Der ist nämlich ein gelungenes Designermodell eines Mannes mit Stil.“ Er liebte diese zynischen Floskeln, war er doch als Einzelkind in einer Juristenfamilie aufgewachsen, die Zynismus und Großspurigkeit zu absoluten Werten erhoben hatte.
Aber jetzt war seine gute Laune vom frühen Morgen wie weggeblasen. Er konnte sich vorstellen, was ihn gleich in seinem Büro im New Scotland Yard alles erwarten würde. Seit er sich kurz vor seiner Pensionierung von der Mordkommission in die Abteilung von – wie er sie nannte – „Lost and Found“ hatte versetzen lassen, stellte er sich immer öfter existentielle Fragen. Was veranlasste Menschen, von einem Augenblick zum anderen alles stehen und liegen zu lassen und spurlos unterzutauchen? Verzweifelte Ehefrauen, Kinder und Geschäftspartner blieben zurück, ohne die geringste Ahnung zu haben, was das Motiv des Untergetauchten war. Keiner schien ihn wirklich zu kennen. Gestern erst hatte er das Protokoll über das unerklärliche Verschwinden des Dekans der Universität von Oxford in Händen gehalten, den seine aufgelöste Frau am Abend des 28. Dezember als vermisst gemeldet hatte. Und jetzt das.
Weltweites sich-in-Luft-Auflösen schien ein neuer Volkssport geworden zu sein. Dieser slowakische Skispringer, der sich vor den Augen von 40.000 Zuschauern und laufenden Kameras während seines Skiflugs spurlos verabschiedet hatte, regte ihn unendlich auf. Der ebenso spektakuläre Abgang dieser griechischen Tennisspielerin verursachte ihm Sodbrennen. Er nahm diese Scheiße persönlich. Irgendjemand wollte ihm einen gewaltigen Arschtritt verpassen und ihm seinen sauberen Abschied von Scotland Yard vermasseln. Er seufzte und bewunderte insgeheim das Leben des alten Kellners, der ihm gerade schlurfend seinen Kaffee brachte. Vermutlich ein einfaches Leben ohne Höhen und Tiefen mit einem sauberen schnellen Herztod, der ihn gnädiger weise im Schlaf ereilen würde. In diesem Augenblick ahnte er, dass sich sein gerade wieder geordnetes Leben massiv verändern würde.
Grimmig setzte er die Tasse Kaffee an und trank. Augenblicklich schrie er laut auf und spuckte die kochend heiße braune Brühe sofort wieder aus. Jetzt hatte er sich im wahrsten Sinne des Wortes auch noch den Mund verbrannt. Oh heilige Scheiße, was für ein böses Omen. Als alter Anhänger des Boethius ahnte er, dass Fortunas Rad des Schicksals sank. Fryers Pylorus verkrampfte sich und er schleppte sich zur Toilette.