Читать книгу Die verschwundene Welt des James Barkley - Uwe Woitzig - Страница 3

27.12., 16.15 Uhr GMT (Greenwich Mean Time), Oxford, England

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Professor James C. Barkley, der Dekan der philosophischen Fakultät der Universität von Oxford, blickte aus dem Fenster des mit Büchern voll gestopften Arbeitszimmers seines viktorianischen Landhauses, das er von seinem Vater geerbt und nach seinen Vorstellungen umgebaut hatte. In dem weitläufigen Park, der das Haus umgab, hatten sich zu seiner Freude mehrere Rudel Rotwild und zahllose Hasen und Kaninchen angesiedelt. Die zutraulich gewordenen Tiere ästen ohne Scheu direkt vor den Fenstern des Hauses und tollten fröhlich auf den mit Raureif bedeckten Wiesen herum. Eine fahle Wintersonne beschien die geschwungene Hügellandschaft der Cotswolds hinter dem Park, die das herrschaftliche Anwesen vom Rest der Welt trennte. James hatte keine Ahnung, dass es das letzte Mal war, dass er diesen friedlichen Ausblick genießen konnte. Auf seinem Schreibtisch lag der Harry-Potter-Band IV, „Der Feuerkelch“, den seine Frau Karen ihm zu Weihnachten geschenkt und den er gerade fertig gelesen hatte.

„Portkey“, dachte er, „wie kommt Rowling auf diesen Begriff? Was weiß sie tatsächlich über Zeit- und Astralreisen?“

Nachdenklich betrachtete er sein sich im Fenster spiegelndes Ebenbild. Was er sah, gefiel ihm. Er war ein Mann mit dem gewissen Etwas. Vom Scheitel des von ersten grauen Fäden durchzogenen, makellos frisierten und trotz seiner 48 Jahre immer noch vollen blonden Haares bis zu den Schuhkappen der dunkelbraunen Alden-Schuhe. Die jenen unauslöschlichen Glanz aufwiesen, den das Pferdeleder nur nach jahrelangem unermüdlichem Polieren bekommt, strahlte er die unbekümmerte Sorglosigkeit eines englischen Landadeligen aus. Um die Schultern hatte er sich lässig eine dunkelbraune Kaschmirjacke geschlungen. Zu seiner maßgeschneiderten lohfarbenen Cordhose aus der Savile Row, deren Preis Karen, die in Edinburgh geboren war, einen Schrei des Entsetzens entlockt hätte, wenn er ihn ihr gesagt hätte, trug er ein Seidenhemd in der Farbe geronnener Milch, das seinen leicht gebräunten Teint bestens zur Geltung brachte. Dezent klingelte sein Haustelefon mit der Melodie von Smetanas „Die Moldau“. Er nahm den Hörer ab.

„James, der Tee ist fertig, kommst du in die Küche?“, fragte ihn Karen. Wie immer amüsierte ihn ihr schottischer Akzent und er lächelte.

„Danke, Darling, ich bin schon unterwegs.“

Er schwang seinen durchtrainierten Körper aus dem Sessel und durchquerte sein Zimmer. Als er die Kassettentür öffnen wollte, vernahm er ein Geräusch aus der Zimmerecke, in der sein Fernseher stand. Verwundert drehte er sich um. Das Gerät hatte sich von selbst eingeschaltet und zeigte Bilder von James merkwürdig vertrauten Gebäuden. Sie bildeten das mittelalterliche Zentrum einer modernen Stadt, ähnlich wie in Oxford, aber doch anders. Die Straßen waren etwa doppelt so breit. Die Fahrzeuge auf ihnen sahen aus wie Kutschen ohne Pferde, wirkten riesig und fuhren extrem langsam. James sah, dass in einigen acht Personen bequem nebeneinander saßen. In anderen befand sich nur ein Fahrer, der sich in einem flauschigen Wohnzimmersessel lümmelte und seine Kalesche mit einem Joystick lenkte. Die Kamera flog zwischen den Türmen einer Kathedrale hindurch und fokussierte ein schlossähnliches Gebäude, vor dem eine kleine Figur stand, die von einer weißen Lichthülle umgeben war und mit beiden Armen winkte.

Die Figur wurde herangezoomt. James erkannte einen untersetzten Mann, der um die Hüften einen Lendenschurz aus dunkelbraunem Leder trug, an dem mit einem Riemenfutteral ein Kurzschwert befestigt war. Sein narbenbedeckter Oberkörper war zur Hälfte mit einer weißen ärmellosen Tunika bedeckt, die seine muskelbepackten Oberarme unverhüllt ließ. Der Zoom wurde stärker und das Gesicht des Mannes erkennbar. Ein gekräuselter Bart und ein dichter Haarschopf mit langen grauen Locken umrahmten die grimmigen Züge eines etwa Fünfzigjährigen, der James mit seinen braunen Augen intensiv ansah. James meinte, das Gesicht schon einmal gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wann und wo. Gebannt und wie hypnotisiert starrte er auf den Bildschirm.

„Hi, James, da bin ich. Willkommen zu meiner Party“, vernahm er eine spöttische Stimme aus dem Fernseher, zu seinem Erstaunen in perfektem Englisch. Der Sprecher hob langsam seine linke Hand und wies mit seinem Zeigefinger auf James´ Stirn. Ein kaltes Grauen durchfuhr ihn und ließ ihn frösteln. Der Fernseher implodierte. Glasscherben und Elektronikteile flogen in alle Richtungen und zersplitterten auf dem Parkettboden seines Arbeitszimmers. Ein weißer Lichtstrahl raste auf ihn zu und traf ihn genau zwischen die Augen.

James taumelte und fühlte, wie seine Beine plötzlich taub wurden, ihren Dienst versagten und einknickten. Ohne sich abfangen zu können, fiel er mit einem dumpfen, aber in der Stille des Hauses gut vernehmbaren Schlag auf den weichen Teppichboden seines Arbeitszimmers. Das Letzte, was er sah, bevor er das Bewusstsein verlor, war das besorgte Gesicht Karens, die ins Zimmer stürzte. Dann wurde es Nacht um ihn.

„James, James, James, bitte komm zu dir.“

Karens besorgte Stimme rief ihn ins Bewusstsein zurück. Müde und misstrauisch öffnete er die Augen. Durch einen weißen Schleier sah er ihr feingeschnittenes Gesicht dicht vor seinem. Er blickte in ihre sorgenvollen blauen Augen und fühlte ihre langen roten Haare sanft seine Wangen streicheln. Sein Blick wurde klarer, aber er konnte sich nicht erinnern, was ihm passiert war. Trotz seiner Benommenheit fiel ihm auf, dass Karen neben ihm auf einem Handtuch kniete, das sie über Glasscherben und Elektronikteilchen gebreitet hatte, die er überall im Zimmer verstreut sah. Da fiel es ihm wieder ein: Der Fernseher war implodiert und …

„Honey, alles wieder ok?“

„Ja, Darling, alles wieder ...“

Weiter kam er nicht. Ein gewaltiger Schmerz raste durch seinen Körper und lähmte seine Zunge. Gleichzeitig vernahm er wieder die spöttische Stimme. Doch diesmal war sie direkt in seinem Kopf.

„Es ist wirklich alles ok, Jamesyboy. Ich habe die Kontrolle übernommen. Von jetzt an bist du meine Marionette. Ich ziehe die Strippen und du bewegst dich. Wenn du dich weigerst, geschieht dies.“

Erneut durchfuhr ein brutaler Schmerz seinen Körper, schoss dreimal von seinem Scheitel zu den kleinen Zehen – und löste sich auf.

„Das macht Spaß“, hörte er die heiser kichernde Stimme zwischen seinen Ohren. „Ich amüsiere mich sehr. Aber genug gespielt, wir haben eine Menge zu tun. Steh auf, geh zu deinem Fahrzeug und warte auf meine Befehle. Ich rate dir, deiner Frau nichts von mir zu erzählen. Sonst wirst du es bedauern.“

„Bitte kommen Sie schnell, er ist schon wieder bewusstlos geworden.“

Karen telefonierte offensichtlich mit einem Notdienst.

„Nein, lass es“, stöhnte er. „Ich bin wirklich wieder okay. Schau her!“

Tatsächlich gelang es ihm, auf seine Füße zu springen.

„Siehst du, ich bin wieder fit und brauche keinen Notarzt. War wohl nur ein Schwächeanfall wegen Jet-Lag oder so. Außerdem habe ich in 20 Minuten eine wichtige Besprechung mit Professor Dean Marble im Keble College. Ich kann ihn nicht warten lassen“, log er.

Zweifelnd sah Karen ihn an, immer noch den Telefonhörer ans Ohr gepresst.

„Moment bitte“, sagte sie zu ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, „meinem Mann scheint es wieder besser zu gehen. Er steht vor mir, sprechen Sie bitte selbst mit ihm.“

Sie reichte James den Hörer.

„Hallo, hier James Barkley. Ja danke, mir geht es wieder gut. Nur ein leichter Schwächeanfall. Nein, ich habe keine Gliederschmerzen und sehe auch alles ganz klar. Gut, ich werde morgen sofort zu meinem Hausarzt gehen, das verspreche ich.“

„Du bist ein raffinierter Geschichtenerzähler“, vernahm er die heisere Stimme in seinem Kopf. „Ich werde auf der Hut sein müssen, das steht fest.“

Verwirrt und geistesabwesend umarmte James Karen, die ihn überrascht ansah, weil er sie schon monatelang nicht mehr berührt hatte.

„Überanstreng dich nicht und komme bald zurück“, erwiderte sie und er spürte ihre aufrichtige Besorgnis.

„Ja, Darling, das verspreche ich dir.“

James hatte keine Ahnung, wie sehr er sich irren sollte.

Schnell verließ er das Haus und stieg in seinen dunkelgrünen Jaguar Daimler. Kaum war die Fahrertür mit einem satten Geräusch ins Schloss gefallen, schrie er laut los:

„Wer bist du? Und was willst du von mir?“

„Cool down, James, cool down. Du musst nicht schreien. Ich kann deine Gedanken lesen, also denke einfach, was du mir sagen willst. Ich verstehe dich dann sehr gut. Zur Klarstellung: Du hast keine Halluzinationen und bist auch nicht schizophren geworden. Mich gibt es wirklich und ich bin seit ein paar Minuten in dir. Ich habe mich an deinen zentralen Rhythmusgenerator angedockt und die Kontrolle über deinen Bewegungsapparat übernommen. Ach ja, in deinen ventromedialen Kortex habe ich mich auch eingenistet.“

„Was ist das denn?“ fragte James verblüfft und seine Gedanken rasten.

„Ich weiß, dass dir gerade jede Menge Fragen durch den Kopf schießen. Die werde ich vielleicht später beantworten. Jetzt musst du nur wissen, dass ich deinen Körper brauche, um einige Aufgaben zu erledigen, die für uns beide sehr bedeutsam sind. Und nebenbei wirst du sehr viel lernen, das verspreche ich dir. Oh, ich fühle einen leichten Zweifel in dir. Nein, du bist nicht verrückt geworden. Vielleicht brauchst du eine kleine Demonstration, damit du mir glaubst: Heb doch mal deine rechte Hand und berühre deine Nase.“

James versuchte, seine rechte Hand zu heben. Sie rührte sich nicht.

„Glaubst du mir jetzt, James?“, fragte die Stimme in seinem Kopf.

„Ja, es ist verrückt, aber ich glaube dir. Darf ich meine Hand wieder bewegen?“

Ein heiseres Lachen ertönte.

„Selbstverständlich, James, ich werde nur sporadisch die Kontrolle über deinen Körper übernehmen. Und ich werde es dir jedes Mal vorher ankündigen, damit du genug Zeit hast, dich darauf einzustellen und deine Bewegung beenden kannst. Ich bin dein Freund und will dich nicht verletzen. Vertraue mir und befolge meine Anweisungen. Du wirst allmählich verstehen.“

„Was ist, wenn ich mich weigere? Bringst du mich dann um?“

„Das wäre kontraproduktiv. Es ist auch gar nicht notwendig, denn ich kenne deine Schmerzgrenze. Vergiss nicht, ich kann deine Gedanken lesen und der Schmerz, den du am meisten fürchtest, ist genau an dieser Stelle, nicht wahr?“

James spürte ein leichtes Vibrieren in seinen Hoden, was ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Er erinnerte sich an die verheerenden Folgen eines mit Wucht geschossenen Balles beim Fußballspielen, der ihn genau dort getroffen hatte.

„Keine Sorge, das war nur eine kleine Demonstration. Ich zeig dir noch etwas.“

James linker Arm fuhr senkrecht in die Höhe, knickte ab. Seine Hand ballte sich zur Faust und raste mit aller Kraft auf seine Nase zu. Entsetzt schloss er die Augen, erwartete den fürchterlichen Hieb und den rasenden Schmerz des gebrochenen Nasenbeins. Doch nichts geschah. Verwundert öffnete er die Augen.

Seine Faust hing einen Millimeter vor seiner Nasenspitze in der Luft, öffnete sich langsam und sank dann sanft auf seinen linken Oberschenkel.

James fühlte, wie er zu hyperventilieren begann und versuchte, die hochsteigende Panik niederzukämpfen. Er konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte er sich wieder gefasst und fragte:

„Wie machst du das?“

Nur ein heiseres Lachen ertönte als Antwort.

„Also gut, dann sag mir wenigstens, wie ich dich anreden soll. Wie heißt du?“

Wieder vernahm er das heisere Lachen.

„Nenne mich Cupido. Das ist der, der immer seine Zwillingsseele Psyche suchte. Wieso? Vielleicht werde ich es dir eines Tages erklären. Aber jetzt, mein Freund, habe ich dafür keine Zeit mehr. Auf uns wartet unser erster Termin in London. Unser Ziel ist das Hotel Dorchester. Setz dieses Fahrzeug in Bewegung und bringe uns schnellstens dorthin.“

Kurz darauf fuhr James schweigend auf die M40 Richtung London. Seine Gedanken überschlugen sich. Waren es überhaupt seine Gedanken? Woher sollte er wissen, welche von „ihm“ waren und welche ihm von Cupido eingespeist wurden? Woran konnte er den Unterschied bemerken? Gab es überhaupt einen? Da er keine ihn befriedigenden Antworten auf seine Fragen finden konnte, gab er schließlich auf und beschloss, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Er schaltete das Radio ein. Dvorzaks „Schöne neue Welt“ ertönte aus der perfekt eingestellten „Bose“- Anlage des Jaguars. James fragte sich, ob die Musik ein Zeichen für ihn wäre.

Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass sie an der ihm vertrauten Ausfahrt von High Wycombe vorbeifuhren. Was war ihm jetzt noch vertraut? Musste er nicht sein gesamtes Weltbild in Frage stellen, weil die Gedanken von Cupido es jederzeit manipulieren konnten? Worauf konnte er sich jetzt noch verlassen? Die Vorstellung, das alles, was er meinte, sich angeeignet und erkannt zu haben, plötzlich von einem ihm unbekannten Wesen beliebig variiert werden konnte, ließ ihn verzweifeln. Er fühlte sich erbärmlich, weil er hilflos einem ihm völlig Unbekannten ausgeliefert war. Außerdem hatte er das Gefühl, dass seine Gedanken merkwürdig verlangsamt waren, so als würde ein Flugzeug mit einem Fallschirm abgebremst werden. Ein belustigtes Räuspern in seinem Kopf unterbrach seinen Gedankenstrom.

„Kannst du mir nicht wenigsten erklären, warum du ausgerechnet mich ausgesucht hast?“ fragt er verzweifelt.

„Also gut, ich werde dich ein wenig aufklären. Weißt Du, was eine Larve auf der geistigen Ebene ist, James?“

„Nein, nicht wirklich.“

Cupido seufzte.

„Larven sind Wesenheiten, die sich unwillkürlich durch starke psychische Erregung, ganz gleich welcher Art, auf der Mentalebene von selbst bilden, James, und zwar durch sehr starke Gedanken, die durch Emotionen wie Hass oder Furcht ausgelöst wurden. Ist eine Larve sehr stark verdichtet, hat sie immer mehr Selbsterhaltungstrieb und trachtet, ihre Lebensdauer so viel als nur möglich zu verlängern. Sie stachelt daher bei jeder Gelegenheit den Verstand des betreffenden Menschen an, um seine Aufmerksamkeit auf die Ursache der Erregung zurückzuführen und sie neu zu beleben. Und bei diesem Sylvesterball auf der Queen Mary warst du verrückt vor Eifersucht und Hass, erinnerst du dich?“

James erinnerte sich. An alles.

Karen hatte sich ihr schulterfreies schwarzes Diorkleid angezogen. Ihre langen roten Haare ergossen sich auf ihre nackten Schultern und umrahmten ihre vollen Brüste, die bei jedem Schritt aus ihrem eng anliegenden Kleid zu hüpfen drohten. Jeder Mann im Saal hatte sie lüstern fixiert, als sie an James´ Seite den Ballsaal betrat. Ihre sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem lasziven Lächeln, als sie die Blicke von Hiram und Fiona, dem jungen englischen Pärchen, das sie am Vorabend beim Dinner kennen gelernt hatten, auf sich fühlte. James war stolz gewesen, eine derart auffällige Schönheit seine Frau nennen zu dürfen.

Doch als sie zum x-ten Mal von einem Mann zum Tanzen aufgefordert wurde, wich der Stolz einem Gefühl der Ohnmacht. Vor allem Hiram, der ein erfolgreicher Tennisprofi war und blendend aussah, tanzte unaufhörlich mit Karen, die es sehr genoss, sich katzenhaft an seinen austrainierten Körper zu schmiegen.

„Ein schönes Paar, die beiden.“

Fionas rauchige Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Wollen Sie mit mir tanzen, James?“

„Momentan nicht, danke. Ich warte auf Karen.“

„Das tue ich auch“, hatte Fiona erwidert. Und in der Tat, als Hiram sie an ihren Tisch zurückbrachte, hatte Fiona Karen aufgefordert, die sofort mitging. Der nächste Song war „Nights in white Satin“. James hatte rasend vor Zorn beobachtet, wie Fionas Körper sich an Karen schmiegte und ihre Hand Karens wohlgeformte Pobacken streichelte.

Um Mitternacht ging das Licht aus und wieder an. Die Band intonierte „Auld Lang Shine“. Jeder stand auf, fasste seinen Nachbarn an der Hand und sang je nach Trunkenheitsgrad laut und falsch mit.

James schenkte sich den letzten Rest Whisky aus seiner zweiten Flasche Scotch ein und schaute sich suchend nach Karen um. Er wurde stocknüchtern. Karen, Hiram und Fiona waren verschwunden.

Eine nie gekannte Wut erfasste ihn. Er trank sein Glas auf ex, verabschiedete sich von seinen Tischnachbarn und ging an Deck. Dort starrte er gedankenverloren in den sternklaren Himmel und ließ sich die kalte Meeresluft um die Nase wehen, ohne dass sein Hass auf Karen sich spürbar verringerte.

„Und diese Nacht war sozusagen meine Anrufung.“ Cupido hatte seine Gedanken mitgelesen. „Von da an beobachtete ich dich und die Larve, die du damals erzeugt hast. Eine Larve kann gefährlich für meine Existenz werden, deshalb musste ich sie im Auge behalten. Seit damals nährt sie sich von deinem Hass, der seinen Höhepunkt erreichte, als du später in der Nacht Karen und Fiona nackt und graziös ineinander verschlungen schlafend im Bett eurer Kabine fandest. Es war Fionas Hand, die selbstgefällig auf Karens Hüften ruhte, die dich zur Weißglut brachte, nicht wahr?“

Die Erinnerung an diesen Anblick durchfuhr James wie ein Stromschlag. Noch einmal erlebte er das Gefühl der Fassungslosigkeit, das sich erst in maßlose Enttäuschung und dann in rasende Wut verwandelt hatte. Er massierte sich kräftig die Stirn und versuchte die erneute Panik wegzuwischen. Er wurde sich bewusst, dass Cupido auch seine Gefühle beliebig manipulieren könne.

„Wieso kann eine von mir erzeugte Larve gefährlich für deine Existenz werden?“ fragte er.

„Weil ich deine Zwillingsseele bin. Alles, was dir widerfährt, hat auch Auswirkungen auf mich. Und eine von deinem Hass und deiner Eifersucht derart wohlgenährte Larve kann einer empfindlichen Person wie dir leicht zum Verhängnis werden, weil sie viele Geistesstörungen wie Verfolgungswahn und Neurosen auslösen kann, die dich in den Selbstmord treiben können. Und dein Selbstmord gefährdet auch meine Existenz. Deshalb bin ich hier, um dich aber auch deine Welt zu schützen. Ich bin in dich eingedrungen, weil ich deinen Körper als Hülle und Schutz für mein empfindliches Selbst benötige, das in dieser dichten Atmosphäre nicht existieren und im gewohnten Maß über seine geistigen Kräfte verfügen kann.

Doch es geht mir nicht nur um die Erde und um dich. Es geht um sehr viel mehr.

Meine Welt ist genauso ernsthaft bedroht wie deine, weil unsere Welten verschiedene Ebenen desselben Universums sind.“

James runzelte die Stirn.

„Wieso sind meine und deine Welt bedroht? Was heißt das?“

Er fühlte Cupidos Ungeduld.

„Das führt jetzt zu weit. Die vollständige Antwort hierauf wirst du im Laufe unserer gerade begonnenen Reise erhalten. Vorab dies:

Unsere beiden Welten besitzen dieselbe Persönlichkeitsmatrix – wie das Muster einer Schneeflocke, die im ganzen Kosmos einzigartig ist – weil sie Zwillingsplaneten sind. Deshalb wird jede Energie, die ein Planet aussendet, mit diesem spezifischen Muster geprägt. Der Zwillingsplanet empfängt diese Energie, und wegen der Kongruenz der Matrix kommt es bei ihm zu mehr oder minder heftigen Reaktionen.

So entscheidet der Bewusstseinszustand des einen Planeten darüber, ob die von ihm ausgesendete Energie, die gemäß dem Gesetz der gegenseitigen Anziehung gleicher Dinge immer zu seinem Zwillingsplaneten fließt, dem Zwillingsplaneten auf dem Weg zur Ganzheit hilft oder ihn hemmt. Dasselbe gilt für die Zwillingsseelen. So, das reicht fürs Erste. Konzentriere dich auf das Lenken dieses stinkenden Fahrzeugs, das anscheinend von vermoderten Bäumen und Pflanzen angetrieben wird."

Die verschwundene Welt des James Barkley

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