Читать книгу Die verschwundene Welt des James Barkley - Uwe Woitzig - Страница 15

31.12., 10.00 Uhr GMT, Edinburgh, Schottland

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Dr. Donald McBride betätigte den roten Knopf auf seinem Labortisch. Sofort hörte er das vertraute Geräusch der langsam ausfahrenden Teleskopantenne, die im Boden des Nachbarraumes versenkt war. Ein schriller Signalton ertönte, als sie in voller Länge einrastete. Er drückte den grünen Knopf auf seinem Tisch. Die weiße Bürowand teilte sich automatisch und gab eine dahinter liegende schalldichte Panzerglaswand frei. Durch die Panzerglaswand sah er den Körper eines nackten Mannes, der mit Lederriemen auf einem Operationstisch festgebunden war.

Proband Nummer Vier öffnete die Augen. Zunächst nahm er nichts wahr außer einer undurchdringlichen weißen Wand und einen riesigen Spiegel, der die Hälfte der anderen Wand bedeckte. In ihm sah er sich selbst nackt auf dem Labortisch liegen. Von seinem kahlrasierten Kopf führten zahlreiche Drähte, die an seinem Kopf angeklebt waren, zu einem Computer, der am Kopfende des Tisches stand, auf dem er festgeschnallt war. Er befand sich in einem Raum, der weder Fenster noch Türen hatte. Das Licht wurde nicht etwa von Lampen abgegeben, sondern strahlte direkt und gleichmäßig von den Wänden ab.

Er lag eine Zeit lang da; er wusste nicht, wie lange. Eine neue Empfindung erwachte in ihm. Hunger. Diese Empfindung war nicht angenehm. Er begann, unruhig zu werden und fing an, zu schreien.

Und tatsächlich, das Schreien schien eine Wirkung zu zeitigen. Die Luft in dem Raum ohne Fenster und Türen begann zu flirren, und ein untersetzter Mann mit Brille erschien aus dem Nichts. Der ganz in weiß Gekleidete bewegte sich auf den schreienden Probanden zu und schaltete den Computer ein. Seine Finger berührten den Touchscreen-Bildschirm des Computers, und er gab routiniert eine Reihe von Befehlen ein. Der Proband spürte auf einmal ein angenehmes Sättigungsgefühl, das von einem tiefen Wohlbehagen begleitet war. Er hörte sofort auf zu schreien, lächelte glücklich und schloss die Augen. Vor seinem geistigen Auge erschien wie auf einer Kinoleinwand eine blumenübersäte Bergwiese, die von weißbedeckten Berggipfeln umgeben war. Kühe grasten friedlich, nur das melodische Läuten ihrer Glocken unterbrach die harmonische Stille. Am Rand der Wiese tauchte ein in eine Tiroler Tracht gekleidetes blondes Mädchen auf, das fröhlich lachend auf ihn zu kam und ihn umarmte.

Dr. Peter Frampton, der untersetzte Mann in Weiß und Kollege von Dr. McBride, löste einen Mechanismus an der Wand aus und griff nach dem nun erscheinenden Gegenstand. Es war ein Kabel mit einer Art Steckverbindung am Ende. Er betastete die Nackenregion des Probanden, nickte zufrieden und drückte den Stecker mit entschlossenem Blick und einem gehörigen Kraftaufwand durch die Haut des Mannes. Es knackte, gut vernehmbar.

Der Proband verzog leicht das Gesicht, reagierte aber sonst nicht. Er merkte nichts von dem Ding in seinem Nacken, denn er lag in den Armen der blonden Tirolerin, fühlte ihren weichen Körper und atmete den Duft der Blumenwiese.

Als Dr. Frampton einen Schalter in der Wand umlegte und die Verbindung zwischen der Empfangsantenne im Nebenraum und dem Gehirn des Probanden herstellte, fiel dieser in eine gnädige Bewusstlosigkeit. Er merkte nicht, wie sich sein Gehirn mit Wissen füllte und seine Hemmschwellen und Tabus weggewaschen wurden wie ein Tintenfleck im Platzregen.

Dr. McBride blickte kurz von seinem Monitor auf und schaltete sein Mikrofon ein, um seinen im Nachbarraum arbeitenden Kollegen über dessen Headset zu informieren.

„Die Implementierung der Programmroutinen läuft. Er wird mit einer komplett neuen Identität aufwachen, und sein Gewissen wird ausgelöscht sein.“

Er erwähnte es fast beiläufig. Dieser ganze Vorgang war Routine für die beiden Wissenschaftler, die diese Prozeduren schon so oft koordiniert und überwacht hatten, dass sie seit einiger Zeit damit aufgehört hatten, sie zu zählen. Der andere der beiden Wissenschaftler verzog leicht angewidert das Gesicht.

„Sag nicht jedes Mal „er“ oder „sie“ zu den Probanden“, zischte er wütend in sein Headsetmikrofon. „Du weißt genau, dass das von unseren Auftraggebern nicht gern gesehen wird! Sie nennen unsere Probanden Zombies, und es darf keine Vermenschlichung der Zombies geben, die wir hier erzeugen. Jegliche Entscheidung, alles Wissen und alle Motive ihrer Handlungen rühren ausschließlich von der durch uns durchgeführten Implementierungsroutine her.“

„Ja, ich weiß. Du musst mich nicht jedes Mal darauf hinweisen“, entgegnete Dr. McBride „Ich hab das ganze schon hunderte Male gelesen, und Du erinnerst mich fast jeden verdammten Tag daran. Ich kann es inzwischen auswendig: 2007 wurde eine einst wegen der ethischen Problematik ad Acta gelegte Technik wieder eingeführt – das Manipulieren des ventromedialen Kortex, jenes Teils des Gehirns, der für die Moral des Menschen zuständig und der Sitz seines Gewissens ist. Unsere Probanden hier erhielten ein ideologisch aufbereitetes Wissen, dass sie zu treuen Anhängern der Ideologie der nordkoreanischen Regierung werden ließ und zu einem genau festgelegten Konsumverhalten zwang. Dieses Wissen und das gesamte implementierte Bewusstsein hielten aber technisch bedingt nur wenige Stunden. Deshalb haben wir die letzten Jahre mit Hochdruck an der ständigen Verbesserung der Speicherung dieses implantierten Wissens gearbeitet und haben uns schließlich als Speichermodul für Nanochips entschieden. Diese speziellen Nanochips haben wir hier mitentwickelt. Während einer weltweiten Schutzimpfung gegen Schweinegrippe im letzten September wurden diese Nanochips weltweit jedem Menschen auf diesem Plantet implantiert. Die Chips können von unseren gerade ihre Umlaufbahnen erreicht habenden Satelliten jederzeit aktiviert werden. Symbolträchtig werden wir am Neujahrstag mit unserem New Yorker Sender den ersten unserer Satelliten mobilisieren, der mit seinen Hochfrequenzwellen weltweit die Nanochips stimulieren wird, damit sie ihre Elektroimpulse an die zu manipulierenden Gebiete der Gehirne aller Menschen senden werden. Unser Testsender in New York wird pünktlich um 6 Uhr abends Ortszeit zu senden beginnen. Aber kümmere du dich um den Probanden hier, er ist der letzte, mit dem wir heute experimentiert haben.“

Dr. McBride schaltete das Mikrofon seines Headsets ab und bereitete einige abschließende Schaltungen an den komplizierten Computeranlagen vor. Was er seinem Kollegen verschwiegen hatte, war folgendes: Bereits bei den letzten drei „Zombies“ vor dem Probanden auf dem Tisch hatte er die Programmierung „leicht“ abgewandelt. Die Zombies bekamen von ihm längst nicht mehr nur das von der Loge vorgegebene Wissen eingepflanzt, der Regierung ihres Landes zu dienen, ausschließlich die Produkte bestimmter Hersteller zu kaufen und gewissenlos ohne Hemmungen jeden Mitmenschen brutal aus dem Weg zu räumen, der ihnen bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse im Weg stand. Er hatte ihnen heimlich auch den Befehl implementiert, sich den gegen die Regierungen kämpfenden Rebellen anzuschließen und ihnen zu helfen, die Machthaber zu stürzen. Dann hatte er ihnen sein gesamtes Wissen über die Machenschaften der Loge des Northern Cross eingetrichtert, die das Institut finanzierte, in dem er arbeitete. Als letztes hatte er versucht, ihnen den Wunsch nach individueller Freiheit einzupflanzen.

Aber diese heimlichen Implantationen hatten bei den anderen Zombies Panik und totale Verwirrung ausgelöst. Alle drei hatten ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt, indem sie sich die Pulsadern aufschnitten oder sich erhängten, weil sie der Konflikt zwischen ihrer Sehnsucht nach Freiheit und ihrem Leben als eingesperrte Versuchstiere wahnsinnig gemacht hatte.

Um das bei Nummer vVer, so wurde der aktuelle Zombie offiziell genannt, zu verhindern, hatte er ihm als kleines „Bonbon“ eine klare Zukunftsperspektive gegeben und ihm das Wissen um einen möglichen Fluchtweg aus dem Labor in ein freies Leben implementiert. Die Welt da draußen musste von dieser ganzen Schweinerei erfahren! Und dazu hatte er ihm mit Zustimmung des ahnungslosen Höchsten Meisters der Loge einen ganz besonderen Pawlowschen Reflex einprogrammiert, der ihn zu einer tickenden Bombe machte, die immer wieder explodieren würde. So konnte er sicher sein, dass der Zombie nach seiner gelungenen Flucht auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich ziehen würde. Der Gedanke daran ließ ihn maliziös lächeln.

„Der Ladevorgang ist abgeschlossen. Unser Zombie ist fertig präpariert. Du kannst ihn losbinden und die Kabel von seinem Kopf entfernen“, informierte Dr. McBride seinen Kollegen über dessen Headset. Dann schaltete er die Alarmanlage aus.

Routiniert entfernte Dr. Frampton die Elektroden vom Kopf des Zombies, zog den Stecker aus seinem Hinterkopf und öffnete die Ledermanschetten.

Der Proband auf dem Tisch wusste. Das Wissen war wie ein Tsunami in sein gerade erst neu erworbenes Bewusstsein eingedrungen, und hatte alles fortgespült, was existierte. Das neue Wissen war anders, nicht vergleichbar mit der tumben Glückseligkeit der ersten Momente. Allem voran stand die Gewissheit, eine neue, andere Zukunft zu haben. Er hatte eine Bestimmung. Er war Nummer Vier, und er würde die bislang der Welt unbekannten Manipulationen an ihm und seinen Kollegen beenden! Schwach echote noch eine verblassende Gewissheit in ihm, er dürfe seine Existenz der herrschenden Elite, den Mitgliedern der Loge des Northern Cross, widmen, und er meinte, sich erinnern zu können, dass diese Gewissheit ihm höchste Glücksgefühle verschafft hatte.

Jetzt war alles ganz anders. Ihm war klar, dass er nur als willenloses Werkzeug für eine Gruppe von Menschen dienen sollte, die schon vor vielen Jahrhunderten aus reiner Hab- und Machtgier jede Moral und Menschlichkeit über Bord geworfen hatten. Sie wollten ihm und vielen anderen ihr freies Leben rauben und ihnen das Recht auf eigene Entscheidungen verwehren. Er konnte, er durfte das nicht zulassen!

Ihm war plötzlich bewusst, dass er das Gebäude verlassen oder zumindest eine Botschaft nach außen hin senden musste. Ein konkreter Plan tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Nummer Vier beschloss, auf seine Chance zu warten.

Er ließ sich von Dr. Frampton führen, der nach wie vor wortlos zu Werke ging. Dr. Frampton packte Nummer Vier am Arm, sagte mehr zu sich selbst: „Na, dann mal los“, und zerrte den vermeintlich Willenlosen ruppig in das andere Labor.

Nummer Vier befand sich jetzt in einem Raum, in dem es nur eine Holzbank gab, der aber ein Fenster und eine Tür hatte. Diese war nicht einmal verschlossen, und durch das Fenster erkannte er das alles überragende Castle und den Himmel von Edinburgh. Am Himmel sah er den Umriss eines Flugzeugs.

Dr. Frampton erschien mit einem Bündel Kleider auf dem Arm. Er befahl ihm barsch, sich anzuziehen. Nummer Vier zog sich folgsam Unterwäsche, eine Jeans, ein weißes T-Shirt und weiße Turnschuhe an. Dr. Frampton beobachtete ihn gelangweilt. Anschließend würde er den Zombie wie immer zum Operationsraum im anderen Gebäudetrakt des Institutes führen, in dem die Organentnahmeapparatur auf ihn wartete. Ihm war gesagt worden, dass der Zombie als Nierenspender für eine bedeutende Persönlichkeit dienen solle.

Normalerweise würde er jetzt mit dem willenlosen Geschöpf über die Straße laufen, um die unterirdischen Katakomben zu vermeiden, die die beiden Gebäudetrakte miteinander verbanden. Aber das hier nichts mehr normal war, wurde Dr. Frampton in dem Moment klar, als der Zombie aufsprang und ihm einen harten Schlag ins Gesicht verpasste. Der Wissenschaftler ging zwar nicht zu Boden, sondern taumelte nur kurz benommen, aber diese Zeit reichte Nummer Vier vollkommen.

Er griff nach dem Metallmülleimer, rannte zu dem Fenster und schleuderte ihn mit aller Kraft dagegen. Mit einem lauten Klirren zersplitterte die Fensterscheibe. Als Nummer Vier auf die entstandene Öffnung zu rannte, wurde er von Dr. Frampton angesprungen und zu Boden gerissen. Voller Panik und plötzlich in ihm aufsteigender Wut schlug er mit der Faust wuchtig in das Gesicht Dr. Framptons. Das Nasenbein des Wissenschaftlers brach mit einem knirschenden Geräusch und sein Griff löste sich. Sein Körper erschlaffte und fiel zu Boden. Nummer Vier sprang auf die Füße und sah, wie sich langsam eine Blutlache auf dem weißen Laborboden um den Kopf Dr. Framptons herum ausbreitete, der leise wimmerte. Mit einem brutalen Lächeln auf den Lippen sprang er mit geschlossenen Füßen auf den Schädel Dr. Framptons, dessen Wimmern sofort verstummte. Eine merkwürdige Melodie summend, sprang er immer wieder wie ein Boxer beim Seilspringen mit seinem vollem Körpergewicht auf den Kopf Dr. Framptons, bis dieser sich in einen Brei aus Blut, Knochen und Gehirn verwandelt hatte, der ein rotgraues expressionistisches Bild auf dem weißen Laborboden formte.

Nummer Vier beendete sein makabres Hüpfen und stieg teilnahmslos über den regungslosen Körper Dr. Framptons. Die durch das zerstörte Fenster hereindringende kalte Luft ließ ihn frösteln. Er bemerkte einen weißen Kittel, der an einem Wandhaken hing, ergriff ihn und zog ihn sich über seine Jeans und sein T-Shirt.

Ohne sein Opfer eines weiteren Blickes zu würdigen, sprang Nummer Vier aus dem Fenster, das sich im ersten Stock eines roten Backsteingebäudes am St. Andrew Square befand. Er landete weich auf dem gepflegten Rasen vor dem Gebäude, federte hoch und lief leichtfüßig um die Ecke des Hauses. Als er merkte, dass ihm niemand folgte, verlangsamte er seinen Lauf, knöpfte seinen weißen Kittel zu und ging gelassen die David Street entlang, die in die Princess Street mündete. Keiner der ihm begegnenden Passanten bemerkte, dass seine ehemals weißen Turnschuhe mit Blut voll gesogen waren und er rotverschmierte Fußabdrücke auf dem Pflaster des Bürgersteigs hinterließ. Aber wer schaut schon jemandem auf die Füße.

Dr. Donald McBride hatte die brutale Hinrichtung Dr. Framptons und die gelungene Flucht von Nummer Vier auf den Überwachungsmonitoren mit angesehen und zündete sich zufrieden lächelnd eine Zigarette an.

Er schaltete die Alarmanlage wieder ein, griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Zentrale vom New Scotland Yard in London. Dr. McBride nannte einen Namen und wurde sofort weiter verbunden. Eine mürrisch klingende Stimme raunzte unfreundlich:

„Chiefinspektor Paul Fryer. Was gibt es?“

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