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1 »Ich habe mir den Weg freigeschossen.«

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Nicolas Eichborn

Ich war jetzt seit sieben Monaten nationaler Sicherheitsberater des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. Und konnte es noch immer nicht fassen.

Natürlich hatte ich mich intensiv mit Helen und Patrick unterhalten, bevor ich Schranz die Zusage gab, den Posten zu übernehmen. Aber auch die beiden hatten keine Ahnung, auf was für einen Höllentrip ich mich da einlassen würde.

Es fing damit an, dass ich urplötzlich den Rang eines Ministers innehatte und auch noch dem Bundessicherheitsrat vorsaß.

Dieser hatte mit mir zehn Mitglieder.

Bundeskanzler Schranz, dessen Kanzleramtschef sowie die Minister der Verteidigung, des Auswärtigen, des Inneren, der Finanzen, der Justiz, der Wirtschaft und der Entwicklung.

Mehr ging nicht.

Davon hatte mir Bundeskanzler Schranz zuvor nichts gesagt.

Auch, dass ich mir nicht selbst meine Sekretärin aussuchen durfte, hatte ich nicht gewusst.

Als ich an meinem ersten Arbeitstag im Kanzleramt erschien, hatte sie mir am Eingang aufgelauert und mich sehr lange und sehr intensiv von oben bis unten gemustert.

»Sie wissen schon, dass Ihre Position hier der eines Viersternegenerals entspricht?«, fragte mich meine Sekretärin mit hochgezogenen Augenbrauen, nachdem sie sich vorgestellt hatte.

»Ich bin froh, überhaupt mein Büro gefunden zu haben, also werde ich mir später Gedanken darüber machen. Darüber hinaus stehen Uniformen mir nicht sonderlich. Aber wenn es Sie beruhigen würde, könnte ich mir ja ein paar Orden an die Jacke kleben.«

»Sie können sich glücklich schätzen, dass man Sie überhaupt ins Gebäude gelassen hat. So, wie Sie angezogen sind«, erwiderte sie eisig.

»Haben Sie nicht die Schreie gehört? Ich habe mir den Weg freigeschossen«, brummte ich ungehalten. »Wo ist mein Büro?«

»Folgen Sie mir«, sagte sie kurz angebunden, drehte sich herum und lief voraus.

Ich trottete ihr hinterher. Während wir zu meinem Büro gingen, erzählte sie mir, was alles auf meinem Terminkalender, den ich nicht kannte, stand.

Es war viel.

Verdammt viel.

Auch von den Grabenkämpfen, die mich schon recht früh erwarteten, hatte Schranz mir nichts verraten. In der außenpolitischen Abteilung des Kanzleramtes arbeiteten im Wesentlichen Berufsdiplomaten. Aber sie wirkten dort unter anderen Bedingungen und in einer anderen Umgebung als ihre Kollegen im Auswärtigen Amt oder in den deutschen Botschaften, gewissermaßen Seite an Seite mit Innenpolitik-Spezialisten, PR-Leuten und Redenschreibern. Das politisierte und aktualisierte die Tätigkeit.

Viel mehr als im traditionsbewussten und manchmal recht beschaulichen Langfrist-Apparat des Außenministeriums hatte sie Task-Force- und Feuerwehr-Charakter, konzentriert auf die schlagzeilenträchtigen Themen, die für den Regierungschef eine politische Chance oder eine politische Gefahr bedeuten könnten.

Sie alle hielten sich für ungemein wichtig und unentbehrlich.

Als Schranz während des Wahlkampfes verkündet hatte, dass er plante, den Posten des nationalen Sicherheitsberaters einzuführen, hatte jeder Einzelne von ihnen am nächsten Tag seine Bewerbung hinterlegt.

Nachdem Schranz gewählt worden war und ich ihm schließlich zugesagt hatte, machte er seine Entscheidung, wer den Posten des nationalen Sicherheitsberaters bekleiden sollte, öffentlich. Das Geschrei der Personen, die sich sicher gewesen waren, den Posten zu bekommen, war natürlich riesengroß gewesen. Die Presse hingegen hatte seine mutige Entscheidung gelobt. Aber dann hatte jemand der schreibenden Zunft gesteckt, dass es sich bei mir um einen äußerst fragwürdigen Charakter handeln würde. Und schon hatte sich die Boulevardpresse auf die alten Geschichten gestürzt.

Nicolas Eichborn, der Rebell.

Nicolas Eichborn, der mit einer Serienkillerin Sex hatte.

Und so weiter und so fort.

Schranz riet mir, nicht darauf zu reagieren.

Und er hatte mir auch verraten, wer für diese Gerüchte verantwortlich war.

Eben die Typen, die er nach deren eigener Überzeugung übergangen hatte, indem er mich zum Sicherheitsberater machte.

Ein Outsider. Jemand, der überhaupt nicht begriff, wie der Laden lief.

Und sie alle wollten mit mir reden, um mir genau das deutlich zu machen.

Um mir zu verdeutlichen, wie wenig ich wusste und wie sehr ich auf sie angewiesen wäre.

Auf Deutsch hieß das, sie alle hatten sich in den letzten Jahren enorme Komfortzonen erarbeitet und befürchteten durch die Neuschaffung meiner Position Machtverlust.

Sie ahnten ja nicht, wie recht sie damit hatten.

Aber ich war nicht die einzige umstrittene Entscheidung des neuen Bundeskanzlers.

Im Wahlkampf hatte er versprochen, mit den alten Konventionen zu brechen, die vorsahen, dass Politiker Minister wurden, die einfach mal an der Reihe waren.

Er versprach, jedes Ministeramt mit einer Person zu besetzen, die tatsächlich etwas von dem Ressort verstand, dem sie oder er vorstand.

Das sorgte natürlich für Kopfschütteln.

Vor allem bei den Politikern, die sich Hoffnung auf einen Posten im Kabinett gemacht hatten. Aber Schranz zog sein Ding tatsächlich durch. Verteidigungsminister wurde ein Viersternegeneral. Finanzminister ein ehemaliger Investmentbanker. Justizminister ein Bundesrichter. Und so weiter und so fort.

Schranz hatte sich durch dieses Vorgehen viele Feinde gemacht.

Aber das war ihm egal.

Als wir mein Büro erreichten, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und sah Frau Möller an. »Streichen Sie alle Termine.«

Sie hob kunstvoll ihre Augenbrauen. »Alle?«

»Na ja, den mit Bundeskanzler Schranz nicht.«

»Aber alle anderen schon?«

»Jepp. Und in Zukunft machen wir die Termine selbst. Wir entscheiden, mit wem ich rede, und mit wem nicht. Einverstanden?«

Sie lächelte. »Ich bin sehr einverstanden.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Frau Möller?«

Sie drehte sich wieder um. »Ja?«

»Was stimmt mit meinem Outfit nicht?«

Ich trug Jeans, ein weißes Hemd und eine Lederjacke.

»Ein Anzug wäre Ihrer Position angemessen. Sie müssen, wenn Sie keine Termine haben, nicht zwingend eine Krawatte tragen.«

»Ich werd’s mir merken.«

Sie verschwand und ich bereitete mich auf das Gespräch mit Bundeskanzler Rainer Schranz vor. Es hörte sich immer noch merkwürdig an. Ich kannte Schranz seit sehr langer Zeit. Er war mein Vorgesetzter gewesen, als ich noch Zielfahnder des BKA gewesen war. Ich war immer davon ausgegangen, dass er mich nicht mochte …

Dann, nachdem ich im Jemen angeschossen worden und mein Bild durch die Medien gegangen war, war es mit meiner Karriere in der Position vorbei. Unabhängig davon, dass Schranz alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um mich mit einem Privatflieger in eine Spezialklinik zu bringen, was mir wohl das Leben gerettet hatte, verdonnerte er mich später, als ich wieder dienstfähig war, dazu, Seminare abzuhalten.

Da war ich mir sicher, dass er mich nicht mochte.

Auf meinem ersten Seminar hatte ich Helen kennengelernt.

Schließlich wurde das Amt für Innere Sicherheit gegründet und Schranz wurde deren Chef.

Er holte Helen und mich dazu.

Später dann wurde Schranz Innenminister und ich der Leiter des Amtes.

Inzwischen hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis, was ich zuvor nicht für möglich gehalten hätte.

Und jetzt war er Bundeskanzler.

Und ich sein Sicherheitsberater.

Und wir hatten ein gemeinsames Ziel: Die Typen zur Rechenschaft zu ziehen, die vor nicht einmal einem Jahr die Bundesrepublik Deutschland ins Chaos stürzen wollten.

Wir wussten mehr oder weniger, wo sie zu finden waren.

Aber wir kannten deren Identität nicht.

Wir wussten auch, wo einer der Mitverschwörer saß.

Im Oval Office …

Was dem Ganzen eine besondere Note gab …

Aber meine Tätigkeit begann natürlich nicht in Washington, sondern hier in Berlin.

Als Erstes hatte ich einen Nachfolger für den ausgeschiedenen BKA-Präsidenten gesucht. Meine Wahl fiel auf Johannes Kernberger, Leiter der Behörde für Innere Sicherheit.

Diese Entscheidung traf ich, da ich ihm blind vertrauen konnte. Axel Scholl, sein Stellvertreter, übernahm die Leitung an seiner statt.

Als Nächstes widmete ich meine Aufmerksamkeit dem Bundesamt für den militärischen Abschirmdienst.

Was ich hier vorfand, spottete jeder Beschreibung.

Ich hätte so was nie für möglich gehalten.

Wie kann man einem externen Beratungsunternehmen den Auftrag erteilen, einen deutschen Geheimdienst auf Herz und Nieren zu überprüfen, um Optimierungspotential zu lokalisieren, um so Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten?

Zumal dieser Dienstleister dadurch auch Zugriff auf sensible Daten erhalten hatte, die strengster Geheimhaltung unterlagen. Erschwerend, aber keinesfalls überraschend kam hinzu, dass eben dieser externe Dienstleister zu den Unternehmen gehörte, die laut Wittgenstein Drahtzieher der Verschwörung waren.

Wittgenstein. Einflussreicher Geschäftsmann, einer der Köpfe des versuchten Umsturzes in Deutschland. Hingerichtet von einem Einsatzkommando der wahren Drahtzieher. Von ihm hatte ich damals, kurz bevor sie ihn erschossen hatten, eine Menge Infos erhalten. Informationen, die mir zeigten, in welche Richtung meine Nachforschungen würden gehen müssen. Nämlich zu ganz bestimmten, global tätigen Unternehmen. Und eben so eines hatte für den militärischen Geheimdienst als externer Dienstleister gearbeitet.

Als mir die Leiter der Behörde erklärte, dass der Dienstleister selbstverständlich eine Vertraulichkeitserklärung unterschrieben hatte, waren bei mir die Sicherungen durchgebrannt.

Natürlich hatte der Präsident des BAMAD nicht gewusst, wen er sich da ins Haus geholt hatte. Zumal der Auftrag damals ja eh aus dem Kanzleramt gekommen war.

Selbstverständlich in Kooperation mit dem Ministerium für Verteidigung.

Das machte mich neugierig.

Ich holte mir von Kanzler Schranz das Okay, um hier tiefer zu graben.

Anschließend versendete meine Sekretärin an alle Ministerien die Aufforderung, mir binnen zwei Wochen eine detaillierte Aufstellung aller Beraterkosten zukommen zu lassen.

Das Ergebnis war zum Fürchten.

Im letzten Halbjahr des vergangenen Jahres gaben die einzelnen Ministerien weit über zweihundertfünfzig Millionen Euro für externe Berater aus.

Spitzenreiter waren das Verteidigungs- und das Innenministerium gewesen.

Jetzt wollte ich wissen, in welchen Bereichen hier beraten worden war.

Das Innenministerium antwortete sehr schnell.

Das Verteidigungsministerium gar nicht.

Ich schüttelte benommen den Kopf.

Wo zum Teufel war ich hier bloß reingeraten?

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