Читать книгу Wer ist dein Gott? - Vitus Seibel - Страница 21
ОглавлениеDas sich entäußernde Geheimnis
Gott war für mich immer – und so ist es noch heute – ein liebender Vater mit auch mütterlichen Zügen. Doch durch welche Art von Beziehung ist dieses Bekenntnis gefüllt? Im Rückblick weiß ich, dass die Beziehung zu Gott viele Jahre die Beziehung zu meinen Eltern in idealisierter und ins Unendliche projizierter Form (gewesen) ist. Ich fühlte ihn in der Beziehung, kannte ihn, erwartete von ihm, was ich ebenso von meinen liebevollen und fürsorglichen Eltern erwartet habe. Länger allerdings blieb mir verborgen, dass ich auch den Leistungsanspruch meiner Eltern an mich in Gott hineinprojiziert habe. Mein Gott und Vater war de facto ein Leistungsgott, der entsprechend bedient werden wollte, ohne Rücksicht auf seinen Gläubigen. Die Entlarvung dieses Gottes brauchte länger: Er saß mir quasi in jeder Körperzelle, und ich konnte sowohl meine jesuitische Spiritualität als auch die vielen Vorbilder und Imperative im Neuen Testament nur als Leistungsanspruch verstehen, so dass diesem Leistungsgott ständig neue Nahrung zugeführt wurde. Es bedurfte einer langen Phase des Nicht-mehr-Könnens und irgendwann so auch Nicht-mehr-Weiterwollens, um zu verstehen, dass die »Leistungen« Jesu und der Heiligen nicht zuerst ihrem Willen und eigener Kraft entspringen, also nicht Gewalt gegen sich selbst sind, sondern eine Frucht des Wirkens Gottes, so dass sie das Wenige, was zu tun war, von Gott empfingen und in einer gewissen Leichtigkeit, Gelassenheit und Absichtslosigkeit (Indifferenz) in ihm ausführen konnten.
Lebenskrisen auf der einen und das Gebet auf der anderen Seite haben mich gelehrt, dass Gott in ganz anderer Weise liebender Vater ist, als meine Eltern es waren. Ohne ein halbwegs treu durchbetetes Leben wird es schwierig sein, das Vorschussvertrauen und die Vorschusshoffnung aufzubringen, die es ermöglichen, alles, was das Leben bringt, Gutes und eben auch Schlechtes, anzunehmen und zu durchleben. Das bedeutet, auch die Gefühle, die z.B. Verluste, Enttäuschungen, Scheitern, Krankheiten usw. mit sich bringen, im Bewusstsein da sein zu lassen, soweit möglich weder in Verdrängung noch in Ablenkung zu fliehen noch Pseudolösungen zu inszenieren: Einen solchen nicht gesuchten Gang durch das »finstere Tal« (Ps 23) dessen, was das Leben einem zumutet, verstehe ich als Kreuzesnachfolge im Sinne Jesu. Ein solcher Weg läutert jedoch das Herz, reinigt den Geist von seinen verkehrten (Gottes-)Vorstellungen und Erwartungen und lehrt ein Wissen auch von Gott, das anders nicht zu erlernen ist; er gründet die Identität eines Menschen neu als Kind Gottes; Glaube, Hoffnung und Liebe bekommen Leben, denn die Person wird angeschlossen an die Trinität, die in ihr Wohnung nimmt.
Zwei Grundzüge Gottes, dieses Inbegriffs der Liebe, der »seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,45), sind für mich immer mehr in den Vordergrund getreten: Das eine ist die Entäußerung, das Leerwerden von sich selbst, die Dahingabe seiner selbst; sie gehört zum Innersten jenes Gottes, den Jesus als Vater allen offenbart, die sich auf dem Weg des Kreuzes zur Auferstehung führen lassen. Das andere: Gott bleibt das unergründliche Geheimnis. Das Wissen über ihn, sofern es aus Erfahrung kommt und nicht nur gedacht ist, bleibt nichtwissend. Das Große, das er uns auf dem Wege des Leerwerdens schenkt, hat kein Auge gesehen und kein Ohr gehört, es ist keinem Menschen in den Sinn gekommen (1 Kor 2,9). Gott ist weiterhin der, den kein Mensch je gesehen hat (Joh 1).
Bertram Dickerhof SJ, Hadamar-Oberzeuzheim, geb. 1953