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Weilburg an der Lahn, 10. Mai
ОглавлениеDer Campingplatz 'Grüne Aue' lag direkt an der Lahn. Er hatte eine Größe von über 15 Hektar. Hecken parzellierten einzelne Flächen. Der Platz war zweigeteilt. In dem einem Teil parkten Wohnwagen und Wohnanhänger. Die meisten Stellplätze hier waren dauervermietet. Man erkannte dies daran, dass die Besitzer erfolgreich versuchten, ihren Stellplatz zu individualisieren. Der zweite, etwas kleinere Teil der Anlage war für Zelte aller Art vorgesehen. An diesem Wochenende gab es nicht viele davon. Zwei Zelte waren abseits des Hauptplatzes in Nischen aufgebaut worden, die zudem noch den Sichtschutz von einzelstehenden Sträuchern genossen. Man konnte glauben, dass hier Liebespaare nächtigten. Auf dem Hauptplatz war eine Wagenburg von Zelten errichtet worden. Bei dieser Anordnung legte man auf Gemeinsamkeit Wert. Die Zelte gehörten den Mitgliedern des VV Walsum. VV war die Abkürzung für Volleyball und Verein. Sie hatten sich hier zusammengefunden, um eine gemeinsame Freizeit zu unternehmen. Einmal im Jahr – und die Sache hatte schon langjährige Tradition - kam man an wechselnden Orten zusammen, um mal eine andere Sportart als das Volleyballspielen auszuüben. In diesem Jahr stand Bootfahren auf dem Vergnügungsplan. Man war einen Tag vorher angereist, hatte den heutigen Tag auf dem Wasser verbracht und nun genoss man den letzten Abend dieser Zusammenkunft. Morgen nach dem Abbau der Zelte ging es heimwärts. Das Zentrum dieser Wagenburg war eine Feuerstelle, die nun in Betrieb war.
Die Glut des Holzfeuers trieb die Wassertemperatur in den Kapillaren des Holzes nach oben. Immer, wenn das eingeschlossene Wasser dort den Aggregatzustand zum Dampf überschritt, wurden Holzteile weggesprengt. Die glühenden Funken segelten im hohen Bogen durch die Luft. Dort, wo sie im Gras landeten, versuchten sie einen neuen Brand zu legen. Weil aber die mitgebrachte Energie dazu nicht ausreichte, verpufften diese Versuche im taufrischen Boden.
Das Licht dieses Holzfeuers erleuchtete die Gesichter der Männer, die sich um den Brandherd gruppiert hatten. Während die ausgestrahlte Glut Gesicht und Brust angenehm erwärmte, kroch die Kälte der Nacht in die Rückseite der Versammelten. Kopf, Nacken und Rücken in dicke Decken gehüllt, schützte man sich so vor diesem Frösteln. Fast jeder dieser Männer hielt eine Bierflasche in den Händen. Einige drehten sie in den Fäusten, andere benutzten sie als Demonstrationsobjekt, so als wollte man das Gesprochene unterstreichen. Alle aber führten in unregelmäßigen Abständen die Flaschen zum Mund, um aus ihnen zu trinken.
Eine lange, hagere Gestalt erhob sich, warf die Decke über die Lehne seines Campingstuhles und verschwand aus dem Lichtkreis des Feuers. Im Halbschatten des Lagerfeuers sah man, wie er an einen Tisch herantrat, von ihm etwas herunternahm, um damit zum Feuerkreis zurückzukehren. Er schenkte ein Schnapsglas voll und hielt es dem Nächstsitzenden vor die Nase. Ohne sich dabei im Gespräch mit seinem Nachbarn irritieren zu lassen, ergriff dieser das dargebotene Glas und trank es mit einem Zug leer. Ohne hinzuschauen, hielt er das geleerte Pinneken in die Luft. Der Hagere ergriff dies, um es erneut zu füllen. Diesmal wurde dem Nachbarn daneben der gleiche Trunk angeboten. Der bemerkte nicht, wie ein Teil der Flüssigkeit auf seine Hose tropfte. Vorsichtig nippte er, um dann das Angebotene mit einem Ruck des Nackens im Munde verschwinden zu lassen. Ein Schütteln des Oberkörpers folgte. Er sagte aber nichts, sondern hörte seinem Gesprächspartner weiterhin aufmerksam zu. Er fand aber die Zeit, um durch ein Heben seiner Bierflasche seinen Dank für die Bewirtung auszudrücken.
Mikael Knoop streckte seine Füße dem Feuer entgegen. Er war ein sportlicher Mann mit breiten Schultern. Gerne wäre er statt seiner Einseinundachtzig einen Kopf größer gewesen. Dann wäre das Abblocken am Netz nicht so mühsam. Aber es war ja Sport. Was ihm an Länge fehlte, mussten seine Wadenmuskeln halt ausgleichen. Er liebte das Volleyballspiel. Mit diesem Verein war er hier. Einmal im Jahr machte man einen solchen Ausflug, der aber immer an anderen Orten stattfand. Diesmal war es die Lahn. Rudern auf der Lahn war das diesjährige Motto. Knoops dunkles, krauses Haar begann an vielen Stellen hell zu werden, aber Gottseidank nicht lichter. Mikael hatte eine Daunenjacke angezogen, deren dick gepolsterter Kragen auch seinen Nacken vor der Kälte schützte. Die Daunenfütterung blähte seinen Oberkörper mehr auf, als es die Muskeln vermochten. Er liebte den Geruch verbrannten Holzes und genoss das Zusammensein mit seinen Volleyballern. Er hatte rechts neben sich einen Gesprächspartner sitzen, der ihm vom Umbau seines Hauses berichtete. Josef redete nur von Renovierung, denn bei ihm gab es jede Menge zu renovieren. Wer sich neben ihn setzte, der musste mit solchen Gesprächen rechnen. Mikael hielt von solchen Arbeiten recht wenig. Handwerkliches Geschick fehlte ihm. Notwendige Tätigkeiten erledigte er zwar, aber Spaß an Renovierungsarbeiten empfand er beileibe nicht. Aber es war immer gut, solche Leute zu kennen. Und die kollegialen Bande waren hilfreicher als ein gekaufter Handwerker, jedenfalls für kleinere Arbeiten und wenn es mal eben schnell gehen musste. Als das Schnapsglas vor seinen Augen auftauchte und seine Nase berührte, schrak er zusammen.
„Was ist das, Jürgen?“
Wie der Hagere das Wort „Bommelunder!“ aussprach, sagte viel über den angetrunkenen Zustand des Kellners.
Knoop runzelte die Stirn. „Mag ich nicht. Haben wir nicht auch...“ Wie das Glas zum nächsten in der Runde geschwenkt wurde, zeigte Mikael, man hatte seine Frage überhaupt nicht verstanden. Er erhob sich, legte dem Hobbywerker zur Entschuldigung die Hand auf die Schulter, dann wankte er in Richtung Tisch. Eigentlich hatte er schon genug, aber ein guter Trester gehörte einfach zum Bier. Außerdem würde er morgen lange schlafen können und- was auch wichtig war - er brauchte nicht zu fahren. Man hatte Fahrgemeinschaften gebildet und ihn zu dieser Wochenendfahrt mitgenommen. Das Etikett seiner Hausmarke erkannte er erst, als er die Flasche zum Feuerschein drehte. Wohlig ließ er den Schnaps über seinen Gaumen gleiten.
„Säufst du immer alleine?“ Es war Herbert Timpel, der Kassierer des Vereins. Er war über Einmetersiebenundachtzig groß und überragte Knoop um etliche Zentimeter. Er hatte die Decke über seinen Kopf gezogen und sah darin aus, wie ein mittelalterlicher Dorfbewohner. Nur die Nase und ein Teil des Drei-Tage-Barts wurden durch den Schein des Feuers beleuchtet.
„Eigentlich nicht. Willst du auch einen?“
„Ist der von Hucki?“
Mikael nickte. Hucki hieß eigentlich Werner Huckenberger und arbeitete in der Kunststoffverarbeitung. Hucki hatte Beziehungen zur Mosel und brachte zu den Sportausflügen immer eine Flasche Trester mit.
„Trester?“, wollte Timpel wissen und griff nach der Flasche.
Unwillig zog Mikael die Pulle an sich. Er füllte das Glas erneut und hielt es Herbert hin. „Ist desinfiziert!“
Herbi schüttete den Inhalt in seinen Rachen, wie er jeden Schnaps in seinen Rachen schüttete. Dabei schüttelte er sich demonstrativ, als nähme er bittere Medizin zu sich. Dann hielt er Mikael das Glas hin. „Noch einen, damit man sich an dieses Sauzeug gewöhnt.“
„...sagte ein Alkoholiker zum anderen.“ Mikael grinste und schenkte nach. „War ein schöner Tag heute. Das Wetter war heiß und auf dem Wasser war es kühl.“
„Ich finde es gut, dass wir jedes Jahr eine solche Tour machen. Rudern auf der Lahn, das ist doch wirklich ein Erlebnis. Ich glaube, wir machen solche Touren schon zum achten Male. Nicht wahr? Egal! Ich war bei jedem Mal dabei.“ Er setzte sein Glas auf dem Tisch ab.
„Ja, ja, ich kann nicht jedes Mal dabei sein. MK, du weißt?“ Mikael seufzte. „Aber dieses Mal habe ich keine Mordkommission. Deshalb hat es geklappt. Hast du auch Muskelkater in den Oberarmen?“
Herbi lachte. „Im Gegensatz zu dir Sesselfurzer gehöre ich zur arbeitenden Bevölkerung. Da gehört Handarbeit zur täglichen Plage.“
Die beiden Männer lachten. Herbi griff Mikael an den Oberarm und drückte ihn zusammen. Nur mit Mühe konnte dieser den Schmerzensschrei unterdrücken.
„Hey Mickey, ist das nicht dein Mobiltelefon, das da klingelt?“ Irgendjemand aus dem Kreis der Kumpel musste dies gerufen haben. Erst jetzt hörte Mikael die bekannte Tonfolge, die nichts Gutes verhieß. Es musste sich um eine dienstliche Angelegenheit handeln. Er trat mit dem Telefon beiseite, bis er sicher war, dass keiner ihn hören konnte. Dann drückte er die Taste, um das Gespräch anzunehmen. Das Display verriet, um wen es sich handelte. Es war sein Chef.
„Knoop.“
„Van Gelderen hier. Ich brauche Sie in einer MK. Wann können Sie kommen?“ Die Stimme klang, als verkündete sie das Selbstverständlichste der Welt.
Knoop war perplex. “Ich habe getrunken.” Gleichzeitig verspürte er keine Lust, den gastlichen Ort zu verlassen.
„Können Sie nicht fahren?“ Die Aufforderung seines Chefs war eigentlich eine Frechheit. Es war die Aufforderung zu einer strafbaren Handlung.
„Nein, ich glaube nicht.“ Knoop betrachtete die feuchten Fußspitzen, weil Feuchtigkeit durch seine Socken drang.
„Dann nehmen Sie einfach eine Taxe. Also, wann?“ Der Ärger des Anrufers war nun deutlich zu bemerken.
„Ich kann nicht kommen, weil ich in Weilburg bin.“ Knoop ärgerte sich, über die Trägheit seiner Gedanken.
„Weilburg? Wo zum Teufel ist Weilburg?
Knoop schluckte, um einem Versagen seiner Stimme vorzubeugen. „An der Lahn.“ Es war Zeit einem solchen Verhalten seines Vorgesetzten zu begegnen. „Ich habe mich doch im Dienstplan für dieses Wochenende freistellen lassen. Oder?“
„Das weiß ich doch, aber der Kollege Schmittbaur ist wegen eines Blinddarmvorfalls ausgefallen. Und in Notfällen wie heute kann ich... also, wann können Sie hier sein?“
Knoop atmete tief durch. Schlagartig war aller Alkohol aus seinem Kopf verschwunden. Sein Chef hatte wohl keine Ahnung, wo sich die Lahn befand. „Die Fahrt dauert bestimmt zwei Stunden. Zahlen Sie das Taxi?“
„Ich?“
Knoop hielt das Smarty vom Ohr weg, weil die Stimme ihn schmerzte. „Dann schicken Sie mir einen Streifenwagen.“
„Sind Sie Bundeskanzler oder was?“, tönte es aus der Hörmuschel. „Ich schick doch keinen...“ Van Gelderen begann zu begreifen, was er von Knoop forderte.
„Ich bin auch nicht mit meinem Wagen hier. Und mein Fahrer hat auch getrunken. Vielleicht mehr als ich.“ Knoop stampfte mit den Füßen. Einmal, weil seine Füße kalt wurden. Außerdem hoffte er, so die Feuchtigkeit besser fern halten zu können.
„Gut, wann können Sie morgen hier sein?“ Die Stimme klang auf einmal einige Grade freundlicher. „Zehn Uhr?“
Sind wir jetzt auf einem Basar, dachte Knoop? „Das kann ich nicht sagen. Wie ich ihnen schon sagte, bin ich Mitfahrer. Im Übrigen sind wir zu Dritt. Und was die anderen beiden wollen, das kann ich jetzt beim besten Willen nicht sagen. Was ich zusagen kann ist, ich werde nüchtern sein und sofort kommen, wenn ich wieder in Duisburg bin.“
Sein Chef hatte wortlos die Verbindung getrennt.
Knoop trat wieder in den Kreis des Lagerfeuers. Er suchte in den schattierten Gesichtern den Fahrer, der ihn mitgenommen hatte. „Äh, Paul, du musst mich sofort nach Duisburg bringen. Ich habe seit fünf Minuten Dienst.“
Pauls Mund öffnete sich ungläubig. Seine Bierflasche kippte nach vorne. Ohne es zu bemerken, floss Bier auf den Boden und spritzte auf seinen rechten Schuh. „Bist du bescheuert? Hast du zu viel getrunken? Trink noch einen, dann geht dieser Anfall schnell vorbei.“ Er wendete sich wieder seinem Gesprächspartner zu.
Knoop lächelte. Paul hatte recht. Auf diesen Schreck musste er noch einen heben. Wenn alles normal ablief wie immer, dann würde er frühestens morgen Nachmittag in Duisburg sein. Bis dahin konnte er sein Versprechen auf Nüchternheit spielend einhalten. Es wurden dann aber doch zwei Trester. Aber im Laufe der nächsten Stunde merkte er, wie sein Durst nachließ. Van Gelderen hatte ihm den restlichen Abend verdorben.