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Schermbeck, 13. Mai

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Die Bruchstraße führte, vom Zentrum Gahlens aus gesehen, ins Grüne. Deulberger bewohnte die obere Etage eines Zweifamilienhauses. Das Summen eines Elektromagneten öffnete ihnen den Zugang zum Haus. Als die Polizisten die obere Etage erreichten, lehnte Deulberger in seiner Wohnungstüre, eine Tasse Kaffee in der Hand haltend. Das erste, was Knoop auffiel, war die übergroße Hakennase, die sein Gesicht zierte. Sein blondes Haar fiel in den Nacken seines Hemdes. Er trug Röhrenjeans, die trotzdem um seine Beine wedelten. Das karierte Hemd erinnerte an einen Kanadischen Holzfäller.

Das Arbeitszimmer des Freizeitjournalisten war eine Form organisierter Unordnung. An allen Wänden standen Regale. Dort, wo auf den Regalbrettern keine Ordner platziert waren, stapelten sich Broschüren oder Hefter in einer Höhe, dass sie kurz vor dem Umkippen standen. Überall, wo der Platz es erlaubte, gab es Stapel von Papierstößen. Auch der Schreibtisch verbrauchte mehr Platz als Lagerfläche, denn als Arbeitsplatz. Der Staub verriet, welche von den Stapeln noch genutzt wurden oder nur als Zwischenlager dienten. Deulberger war an den Ausführungen der beiden Polizisten äußerst interessiert. Immer wieder hatte er eine Frage und ließ sich haargenau erklären, worum es bei den Ermittlungen ging. Als Knoop ihm seinen Zeitungsartikel als Grund für ihr Erscheinen nannte, weiteten sich die Augen. Ohne auf die Frage von Knoop einzugehen, wollte er wissen, warum man gerade auf Bernhard Vanderstetten kam? Knoop wollte diese Frage ignorieren, aber Laurenzo bellte genervt von der Fragenstellerei dazwischen. „Mann, die Fragen stellen wir hier.“

'MaDe' schluckte, doch dann zog die Neugier wieder in seine Gesichtszüge. „Ja. Ja, ich weiß, aber in Schermbeck haben mehr Leute Dreck am Stecken, als Vanderstetten.“

„Woher wissen Sie das“, hakte Knoop nach.

„Na, das kann ich ihnen sagen. Vanderstetten ist großzügig, ein wahrer Samariter.“

Knoops Finger fuhr über einen Stapel Hefter und hinterlies eine Spur in der Staubschicht. Er schaute Deulberger in die Augen. „Das müssen Sie uns deutlicher erklären.“ Er hob eine Mappe hoch, auf der der Titel 'Hochzeitsjubiläen' stand.

Der Journalist nickte eifrig. „Gerne. Bitte bringen Sie mir nichts durcheinander. Auch wenn es so aussieht, alles ist wohl geordnet. Was hatten Sie gefragt? Übrigens! Kaffee? Tee?“

Beide Polizisten hoben abwehrend ihre Hände. „Danke, nein.“

"Ach ja, Wohltäter. Im letzten Jahr hat er eine Autolackiererei aufgekauft, die vor der Pleite stand. Alles nur, um Arbeitsplätze in der Gemeinde zu erhalten.“ Er reckte den zweiten Finger in die Luft. „Die Zeitmessanlage in unserer Sporthalle hat er gesponsert.“ Der dritte Finger wurde ausgestreckt. „Dank seiner Unterstützung feiern die Ehrenamtlichen der Schermbecker Vereine jedes zweite Jahre in einem Festzelt auf dem Rathausplatz. Einem Schießverein besorgte er ein Luftgewehr für die Jugend. Als die Orgel von Sankt Ludgerus repariert werden musste, war seine Spende die größte. Wollen Sie noch mehr?“ Er reckte demonstrativ seine ausgespreizte Rechte in die Luft.

Knoop schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Wir haben verstanden. Kommen wir auf Ihren Artikel zu sprechen. Doch zunächst. Was wissen Sie über diese Nomfunda Mafalele?

MaDe lehnte sich zurück. „Nicht viel. Sie wohnt im Heim für Flüchtlinge auf der Poststraße. Aber das wissen Sie bereits. Sie ist eine unauffällige Erscheinung, wie die meisten Flüchtlinge. Ich habe nur eine Sache gefunden.“ Er verschob ein paar Unterlagen und fand zielsicher einen Notizzettel. „Sie hat sich bei der Gemeindeverwaltung beschwert, weil der Hausmeister Werner Niedrighaus anzügliche Bemerkungen gegen sie gemacht habe. Die Sache zog Kreise bis zum Bürgermeister. Als dieser der Sache persönlich nachging, kam heraus, der Hausmeister hatte eine andere angebaggert. Weil sich diese aber nicht getraut hatte, sich zu beschweren, hatte Mafalele die Sache zu der ihren gemacht. Niedrighaus muss das wohl häufiger gemacht haben, denn er wurde abgemahnt. Seitdem ist es aber ruhig geblieben. Auf jeden Fall habe ich persönlich nichts mehr dergleichen gehört.“

Knoop nickte. „Was war das mit der Messerstecherei?“

Deulberger zog die Lippe an die Nasenspitze. „Also, ich war nicht dabei. Keiner war wohl dabei, außer Vanderstetten und die Angreiferin. So weit, wie ich mich informieren konnte, wollte Vanderstetten sich die Beine vertreten. Er macht dies häufiger. Den Ausfall einer Straßenlaterne nutzte wohl die Person aus. Sie griff ihn von hinten an. Der Stimme nach zu urteilen, war es keine Deutsche, denn sie redete während der Tat. Zudem trug sie einen Anorak und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Vanderstetten hatte Glück. Er hörte ein Geräusch hinter sich. Nur weil er instinktiv den Arm hoch riss, verfehlte das Messer sein Ziel. Durch die Abwehrbewegung verlor die Person die Waffe. So entschwand sie unerkannt. Sie rannte in Richtung Flüchtlingshaus. Es ist doch klar...“

Knoop unterbrach den Redefluss. „Woher ist man sicher, dass es sich A um eine Frau und B um Mafalele gehandelt hat?“

Deulberger schaute den Polizisten erstaunt an. „Das haben die Leute behauptet.“

„Und Vanderstetten?“

Deulberger zuckte mit den Schultern. „Der wollte zu der ganzen Angelegenheit nichts sagen. Ich habe ihn mehrmals darauf angesprochen, wenn ich ihn gesehen habe. Doch er wollte sich dazu nicht äußern. Das ist alles, was ich weiß.“

Laurenzo schaute in den wolkenverhangenen Himmel, der aber doch so viel Wärme durchließ, dass es angenehm warm war. Auf dem Weg zu ihrem Wagen warf Carlos den Autoschlüssel immer in die Höhe. „Komisch, da wird jemand mit einem Messer verletzt und dann unternimmt der nichts? Das muss ein komischer Kauz sein.“

„Und in den Akten der Staatsanwaltschaft ist die Angelegenheit sang- und klanglos eingestellt worden“, murmelte Knoop. „Wir gucken uns den Kerl mal an.“

Das Haus von Bernhard Vanderstetten auf dem 'Alten Postweg' war eine Festung. Eine drei Meter hohe Mauer aus Bruchmarmor verhinderte den Blick in das Anwesen. Durch das schmiedeeiserne Rolltor war nur ein Teil einer gebogenen Auffahrt erkennbar. Ein gewaltiger Buchsbaum wurde nur von einem mit braunen Dachziegeln bedeckten Giebel überragt. Als Laurenzo die Klingel betätigte, schwenkte eine Überwachungskamera in ihre Richtung.

Mikael Knoop sprudelte die Eingangsformalien herunter. Nachdem er seinen Polizeiausweis Richtung Kamera gehalten hatte, ermöglichte ein Elektromotor ihnen den Zutritt. Er winkte Carlos mit dem Wagen heran. Dann stieg er dazu. Mikael hatte eigentlich erwartet, man würde Vanderstetten für abwesend erklären, aber nichts dergleichen hatte die Mikrofonstimme verlauten lassen. Am Eingang erwartete sie eine männliche Person. Das konnte unmöglich der Hausherr sein, es sei denn, dieser bevorzugte eine uniformähnliche Bekleidung.

Schon mit dem Betreten des Gebäudes stellte sich der Eindruck ein, hier hatte jemand Geld, viel Geld. Geld, das man in Komfort und Gemütlichkeit gesteckt hatte. Mikael wäre nicht erstaunt gewesen, wenn der Marmor des Fußbodens nicht aus Italien importiert worden war. Die darauf liegenden Teppiche waren Sonderanfertigungen, welche der Raumgröße angepasst waren. Die Rundtüren waren nach dem Kassettenprinzip gefertigt und für dieses Haus extra hergestellt worden.

Der Raum, in den man sie führte, musste ein Rückzugsbereich des Hausherrn sein. Gemütlichkeit und Entspannung waren die Begriffe, die Mikael einfielen, als er sich umschaute. Die beigen Ledersessel luden geradezu zum Verweilen ein. Die Hausbar war zwar klein, schien aber reichlich bestückt. Der Geschmack Vanderstettens bewegte sich in Richtung abstrakter Kunst. An jeder Wand gab es einige Bilder davon. Knoop wäre nicht überrascht gewesen, wenn jedes ein Unikat gewesen wäre. Das Hobby des Bewohners stand in der Nähe eines überdimensionierten Fensters. Es war eine Billardplatte. Die Kugeln waren auf dem Spielfeld verstreut, so als hätte man gerade das Spiel unterbrochen. Laurenzo ergriff nach einiger Wartezeit eine farbige Kugel und rollte diese in Richtung der weißen. Nach ein paar Versuchen gelang es ihm, das Ziel zu treffen.

„Sie müssen mit der weißen Kugel spielen.“ Vanderstetten war durch eine andere Türe gekommen, als sie erwartet hatten. Vor ihnen stand ein unscheinbares Männeken. Ein Wohlstandsbäuchcsken verriet die Distanz zum Sport. Er hatte dichtes Haar, welches er nach vorne gekämmt trug. Damit überspielte er den Beginn sich ausbreitender Geheimratsecken. Die blaue Hose und der dazugehörige Pullover waren geschmackvoll und bestimmt teuer gewesen. „Was führt Sie zu mir, meine Herren?“

Knoop wollte noch einmal zu seinem Ausweis greifen, aber eine lässige Handbewegung unterbrach dies. Knoop schluckte, weil sein Hals sich trocken anfühlte. „Wir ermitteln in dem Todesfall Mafalele. In diesem Zusammenhang hat man uns mitgeteilt, es habe einen Angriff von ihr auf Sie gegeben.“

Das Gesicht des Hausherrn hielt seinen freundlichen Ausdruck bei. „Ist das die Tote, die in der Zeitung stand?“

Knoop und Laurenzo nickten gleichzeitig.

„Ach, ja, so hieß diese Frau wohl! Aber ich begreife den Zusammenhang noch nicht.“ Vanderstetten setzte sich in einen Ledersessel, und machte eine Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen.

„Ob hier ein Zusammenhang besteht, wissen wir auch noch nicht, aber wir haben alles zu untersuchen, was mit der Toten zusammenhängt. Und ein Messerangriff könnte hier bedeutsam sein.“

Der Kopf bewegte sich bedächtig mehrmals nach vorne. „Verstehe. Zu dem Vorgang möchte ich keine Angaben machen. Ich habe bei der Dunkelheit nichts gesehen und ich will keinen fälschlich beschuldigen.“

„Aber man hat Sie doch mit einem Messer angegriffen?“ Laurenzos Oberkörper schnellte aus den Tiefen des Polsters hervor.

„Das habe ich auch nie geleugnet. Wie sollte ich auch. Ich musste mich ja im Weseler Krankenhaus behandeln lassen.“ Er zog den rechten Ärmel seines Pullovers zurück, löste den Knopf der Manschette. Als das Hemd den Unterarm freigab, wurde ein länglicher Verband sichtbar. Er zog sich wieder an. „Mir geht es ums Prinzip. Ich beschuldige niemanden, es sei denn, ich habe ihn gesehen.“

„Und warum bringt man den Namen Mafalele mit diesem Überfall in Verbindung?“

Vanderstetten versank fast in den beigen Lederpolstern. Durch die randlose Brille wurden die Augen leicht vergrößert. Sie fixierten Knoop und er hatte das Gefühl, abgeschätzt zu werden. „Was weiß ich? Die Leute reden halt.“

„Aber die kommen doch nicht ohne Anlass zu solch einer Geschichte?“

Die Polster schluckten den größten Teil des Achselzuckens. „Ich habe nur einmal mit dieser Frau wissentlich Kontakt gehabt. Eine unerfreuliche Angelegenheit, wie ich zugeben muss.“

Knoop nickte.

„Es war an einem Samstag vor drei Wochen. Ich hatte meiner Frau versprochen, Kleinigkeiten einzukaufen. Als ich langsam aus der Parklücke herausfuhr, berührte ich wohl den Einkaufswagen dieser Frau. Ich betone: b-e-r-ü-h-r-t-e! nur den Einkaufswagen. Als ich ausstieg, begann die Frau lautstark zu meckern. Ja, sie begann richtiggehend zu keifen. Man konnte sie nicht beruhigen. Ich verstand auch kein Wort, was sie sagte. Es war eine fremde Sprache, die ich nicht kannte. Nach und nach bildete sich eine Menschentraube. Mir war die ganze Angelegenheit peinlich. Ich konnte nichts sagen. Alle redeten durcheinander. Keiner hörte mir zu. Dann hörte ich Stimmen, die behaupteten, die Furie käme aus dem Flüchtlingsheim. Ich hatte auf einmal den Gedanken, mit einem Zwanziger etwas Gutes zu tun und gleichzeitig die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Ich muss zugeben, das war ein Fehler. Mit einer theatralischen Geste warf sie mir den Schein vor die Füße und verschwand zeternd. Glauben Sie, das erklärt einen Messerangriff?“

„Du hast den Herren noch nicht einmal etwas zu trinken angeboten.“ Die Stimme war gedämpft und enthielt einen Hauch von Vorwurf.

In den Raum war unbemerkt eine Frau getreten, die sofort eine besondere Aura verbreitete. Lange, blonde Haare fielen auf ein blaues Samtkleid. Der Saum an Fußknöcheln, Hals und Ärmeln war mit silberfarbigen Ornamentstreifen verziert. Ein einzelnes Ornament wiederholte sich auf der linken Hüfte der Frau. Schau mal an, dachte Knoop, Bernhard Vanderstetten steht auf großbusige Blondinen. Als diese ihm aber die zierliche Hand reichte, kam ihm dieser Gedanke als Frevel vor. Er war entgeistert. So stammelte er einige Worte, die er teilweise auch noch verschluckte. Er ärgerte sich über sich selbst. Krampfhaft bemühte er sich, seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen.

Die Erscheinung ignorierte mögliches Fehlverhalten. „Ich bin die Dame des Hauses. Eliza Vanderstetten“, stellte sie sich selbst vor. „Ich lasse Ihnen was bringen.“ Dann schritt sie durch den Arbeitsraum.

Erst jetzt bemerkte Knoop einen Dalmatiner, der ihr folgte. Der Hund vermittelte eine unerklärliche Wirkung. Seiner Herrin gegenüber war er untertänig. Gleichzeitig registrierte er alles, was um sie herum geschah. Seine Muskeln signalisierten ständige Einsatzbereitschaft, jederzeit aufmerksam, sich auf den zu stürzen, auf den die Geste seiner Herrin wies. Knoop hatte der Erscheinung wohl zu lange nachgestarrt, denn er fühlte sich vom Hausherrn beobachtet. Um die Peinlichkeit zu überbrücken, bemerkte er trocken:

„Ein schönes Tier.“

„Da sagen Sie was. Jezebel ist der Augapfel meiner Frau. Sie ist stolz darauf. Ohne ihn macht sie kaum einen Schritt. Wenn Eliza ihn irgendwo ablegt, dann seien Sie sicher, er bekommt alles mit. Nähert sich ihr dann jemand, sehen Sie förmlich, wie sich die Muskeln anspannen. Aber kommen wir auf den Zweck Ihres Besuches zurü...“

In diesem Moment betrat der Uniformierte, der sie am Eingang empfangen hatte, das Zimmer. Er balancierte ein Holztablett vor sich her. Kaffee, Mineralwasser und Orangensaft standen zur Auswahl. Während Carlos den O-Saft wählte, entschied sich Mikael für den Kaffee. Er wurde nach all seinen Wünschen für die Zutaten gefragt, erst dann wurde die fertige Tasse vor ihm hingestellt. Vanderstetten brauchte nur zu nicken, dann stand die gewünschte Kaffeekreation auch vor ihm.

„Habe ich ein Mordmotiv? Brauche ich ein Alibi?“ Bernhard Vanderstetten nippte an seiner Tasse mit Goldrand.

Knoop, der auch einen Schluck trinken wollte, setzte seine Tasse vorher ab. „Nein, das glaube ich nicht. So wie Sie den Vorgang geschildert haben, sehe ich momentan keinen Zusammenhang mit unseren Ermittlungen.“ Knoop lächelte, bevor er trank, um dann die Tasse abzusetzen. „Man glaubt irrtümlich, die Polizei sucht nur nach Motiven und Alibis von Tätern. Unsere Hauptarbeit besteht darin, Fakten auszuschließen. Nur so nähern wir uns den Tatverdächtigen.

Ingrid Höfftner hatte ihren Jetta auf einen Wanderparkplatz an der Üfter Mark gelenkt. Sie hatte so viele Fakten ermittelt, dass sie befürchtete, diese zu vergessen. Zudem wollte sie sich über das weitere Vorgehen klarer werden. Sie war unzufrieden mit der arbeitsteiligen Ermittlungsleitung. Sie hielt van Gelderen für einen typischen Patriarchen, der das Fortkommen von Frauen behinderte. Frauen waren für ihn zu Führungsaufgaben ungeeignet. Das war nichts Neues. Sie hatte in ihrer Laufbahn schon viele solcher Typen getroffen. Es galt halt, Fakten zu setzen, damit dieser Knoop in die zweite Reihe zurücktrat. Sie mochte ihn nicht. Die Art und Weise, wie er sich gab, stieß sie ab. Er hatte zwar ein Gespür für Zusammenhänge, die andere nicht sahen. Aber das hatte sie auch. Sie sah sich näher am Geschehen als dieser Knoop. Für sie gab es nur Fakten. Verschwörungstheorien, wie Knoop sie ständig produzierte, lehnte sie vehement ab. Sie war sich sicher, dass sie in Kürze die alleinige Leitung dieser Ermittlungen übernehmen würde.

Sie kramte einen Notizblock aus ihrer Handtasche. Für´s erste hatte sie einen theoretischen Kreis um das Haus von Dieter Wehrkamp gezogen und dadurch neun Nachbarn ausgemacht, die innerhalb dieses Gebietes lagen. Drei von denen konnte sie offensichtlich streichen, weil sie keine Landwirtschaft mehr betrieben. Sie bewohnten Restbauern-höfe. Hier gab es keine Kooperation der Nachbarn mit landwirtschaftlichen Geräten oder Unterstützung bei Arbeiten, die man nicht alleine erledigen konnte. Das besagte zwar nicht viel, aber es war ja nur ein vorrübergehendes Ausschlussmerkmal. Dann gab es einen Lohnunternehmer. Der arbeitete mit vielen in der Gegend zusammen. Bei den anderen Nachbarn wusste man von Wehrkamps Beziehung zu einer Dunkelhäutigen, allerdings nur vom Hörensagen. Wie gut, dass die Leute gerne über andere quatschten.

Ingrid war aufgefallen, es waren vor allem die Nachbarfrauen, die sich in diesem Metier der Geheimnisse, die weiß Gott keine waren, auskannten. Man konnte sie nicht als Zeugen vernehmen, weil all das ja nur Hörensagen war. Aber sie wussten von heimlichen Treffen der beiden in der Natur. Helga Kraft wusste sogar von einem Têt a´ têt im Ehebett. Sie war natürlich nicht dabei gewesen. Man redete ja nur drüber. Als sie dies äußerte, hatte Ingrid den Eindruck, als vernähme sie bei Frau Kraft ein bedauerliches Stöhnen. Auf ihre Nachfragen, was seine Frau denn zu einem solchen Verhältnis sagen würde, bekam sie immer die gleiche Antwort: Die ist doch blind. Die will das nicht wahrhaben. Einen Moment drängte sich bei der Kommissarin der Verdacht auf, Eifersucht als Motiv einzubeziehen. Aber hier sprachen zwei Fakten dagegen. Frau Wehrkamp fehlte sowohl die körperliche Kraft, Mafalele zu beherrschen, und zudem war der Ablauf dieses Mordes nicht frauentypisch.

Zwei andere Nachbarn hatten behauptet, bereits Besuch von einem anderen Polizisten bekommen zu haben. Höfftner maß aber auch diesen Aussagen keine besondere Bedeutung zu. Sie blieb bei ihrer Meinung: Es konnte sich nur um einen findigen Reporter handeln, der auf diese Weise an Informationen kommen wollte. Knoops Verschwörungstheorie hielt sie für typisch maskuline Spinnerei. Aus diesem Grunde würde sie in ihren Berichten nichts darüber verlauten lassen.

Bei dem Nachbarn im Osten - sie schaute in ihre Aufzeichnungen - richtig, das war Gustav Brettschnieder, bekam sie eine genauere Aussage. Brettschnieder hatte Dieter natürlich nicht beim Geschlechtsakt beobachten können, aber wenn zwei sich treffen, die eine mit dem Rad von links kommend, der andere mit dem Trecker von rechts kommend, um dann im Gebüsch zu verschwinden, dann „haben die doch keine Beeren gepflückt“, wie er grinsend bemerkte. Die Reifen waren das zweite Indiz des heutigen Tages. Der hatte nämlich schon sehr gut angefangen. Als sie zum Wehrkamp-Hof kam, war dort keine Menschenseele anzutreffen gewesen. Sie nutzte die Gelegenheit und inspizierte die weitläufigen Gebäude auf dem Hofgelände. Es war eine Scheune, die wohl anderweitig nicht mehr gebraucht wurde. Es gab in ihr mehrere Einstellplätze für Autos. In einem davon stand ein hellgrüner Astra. Eine Kontrolle mit den Aufzeichnungen ihres Smartys über den Reifentyp in der Nähe des Tatorts brachte einen Treffer. Das waren zwar nur Indizien, aber sie würden an Bedeutung gewinnen, falls man bedeutendere Beweise fand. Das bedeutendste Indiz zu notieren, hatte sie sich zum Schluss aufgespart. Sie startete ihren Wagen. Über die Formulierung würde sie während der Fahrt nach Duisburg nachdenken.

Auf dem Weg zur B 58 hatte Knoop den Dienstwagen - man hatte ihm heute einem Ford Mondeo zugeteilt - zu einem Landgasthof gelenkt. Sie waren mit Ausnahme von zwei Pärchen die einzigen Gäste. Der wolkenverhangene Himmel hatte zwar die Temperaturen auf ein angenehmes Maß heruntergekühlt, aber der permanent wehende Wind lud nicht dazu ein, sich in den Biergarten zu setzen. So suchten sie einen weitentfernten Platz. Carlos verlangte Kaffee und Kuchen. Er hatte aber nur die Wahl zwischen einer Sahneerdbeertorte und einer Erdbeertorte mit Sahne. Mikael wollte ein Wasser.

„Was hältst du von Vanderstetten?“

Carlos spielte mit einem der Bierdeckel, die haufenweise auf dem Tisch herumlagen. „Ist der verdächtig?“

Mikael lächelte. „Du kennst doch den Trick: Man gibt ein kleines Vergehen wie einen Streit zu, um aus dem Verdacht bei dem großen Ding zu geraten. Wir werden sehen. Im Moment sehe ich ihn nicht in der ersten Reihe der Verdächtigen. Er ist aber ein knallharter Hund. Er weiß, was er will, und er weiß, wie er das durchsetzt. 'Brauche ich ein Alibi?', hat er gefragt. Eine typische Vorwärtsverteidigung, wenn du mich fragst.“

„Warum hast du von ihm keine Speichelprobe gefordert?“ Carlos hob den heruntergefallenen Bierdeckel vom Boden hoch.

Knoop wippte mit dem Stuhl zurück. „Das kommt noch. Heute hätte er sich hinter seinem Rechtsanwalt verkriechen können. Wenn die Fremd-DNA aus der Scheide vorliegt, dann schicken wir unseren türkischen Staatsanwalt zum Haftrichter, um...“

„Cem Konac?“

„Genau! Dann ordern wir Proben von allen, die Kontakt mit der Toten hatten. Wenn sich dann Vanderstetten beschwert, dann können wir sagen, das falsch verstanden zu haben. Aber dann wissen wir, der Bursche muss Dreck am Stecken haben.“

Laurenzo nickte. „Okay! War´s das?“ Er packte seine Unterlagen in eine gelbe Mappe. Demonstrativ stuckste er die Blätter darin zurecht. „Ich würde jetzt gerne für heute Schluss machen.“

„Jetzt schon?“, feixte Mikael. Er schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr. „Mensch, es ist doch noch keine Neun.“

Laurenzo verzog enttäuscht sein Gesicht. „Aber...“

Knoop lachte. „Klar doch! Ich weiß doch, deine Einladung. Mensch, hau bloß ab. Du musst mich nur zu Hause absetzen.“

Ingrid Höfftner stoppte ihren Wagen vor einer Feldzufahrt. Mit einem Blick in den Rückspiegel kontrollierte sie Makeup und Frisur. Die Bürste verschwand wieder im Seitenfach der Fahrertür, nachdem sie ihre Haare gekämmt hatte. Dann griff sie zu ihrem Notizblock. Den Namen Heiner Siltrim hatte sie mit Genugtuung in ihr Notizbuch eingetragen. Wo wohnte er noch einmal? Siltrims Gehöft lag nordöstlich von Wehrkamps Anwesen. Siltrim hatte zwei Stunden vor der Tatzeit Wehrkamp auf seinem Acker pflügen sehen. Diese Fläche lag keinen Kilometer vom Tatort entfernt. Und nun kam´s. Nach Siltrims Einschätzung hatte sein Nachbar noch mindestens drei Stunden benötigt, um die Fläche zu bearbeiten. Und am anderen Morgen war sie fertig bearbeitet. Für ihre Ermittlungen bedeutete das, Wehrkamp musste zur Tatzeit auf dem Trecker gesessen haben. Ob er abgestiegen war, um dieser schwarzen Tussi den Hals durchzuschneiden, musste noch bewiesen werden. Leider konnte Siltrim dazu nichts Weiteres sagen. Er wusste aber um die Gerüchte von Dieter und einer Schwatten, hatte die Frau aber an diesem Freitag nicht zu Gesicht bekommen.

Ingrid Höfftner hatte auf der A 31 schon Dorsten passiert, da meldete ihr Smartphone eine Textnachricht. Kurzerhand verließ sie die Autobahn und steuerte dann eine Feldeinfahrt an. Die Kriminaltechnik hatte zwei weitere Spuren. Trotz Schwierigkeiten durch Verschmutzung hatte man die Täter DNA bestimmen können. In den Fahndungsdateien war sie nicht registriert. Man wusste aber, dass es sich um einen Osteuropäer handeln musste. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war der Täter ein Weißer. Die zweite Nachricht überraschte Höfftner nicht. Dieter Wehrkamp war derjenige, der mit der Toten Geschlechtsverkehr gehabt hatte. An der Abfahrt Movie Park verließ sie die Autobahn, um in die Gegenrichtung wieder aufzufahren. Über Funk orderte sie polizeiliche Unterstützung nach Schermbeck.

Mikael Knoop hatte gerade begonnen, seiner Tochter AnnaLena etwas aus dem Buch „Lisa und der schwarze Hengst“ vorzulesen. Staunend musste er dem Lautsprecher entnehmen, dass der Mordfall Mafalele als gelöst zu betrachten war. Erstaunt stellte er fest, dass seine Anwesenheit im Präsidium erst morgen früh notwendig war. Keiner freute sich darüber mehr als AnnaLena.

Duell der Mörder

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