Читать книгу Duell der Mörder - Volker Buchloh - Страница 12
Schermbeck, 11. Mai
ОглавлениеDie freundliche Frauenstimme legte dem Fahrer nahe, nun die Autobahn zu verlassen, wollte er zu seinem Ziel kommen. Knoop verließ die A31 und bog in Richtung Schermbeck ab. Schon nach zwei Kilometern wurde er aufgefordert, rechts abzubiegen. Er befand sich nun auf einem geteerten Landwirtschaftsweg. Holpernd näherte er sich einem Paar, welches hier wohl spazierenging. Der Mann schob einen Rollator vor sich her. Sie, weil besser zu Fuß, blieb an seiner Seite, so als befürchte sie Schlimmes. Knoop fuhr schneller, als der Rollator geschoben werden konnte, denn im Rückspiegel erblickte er einen zornigen alten Mann, der schneller mit einem Krückstock drohen, als die Gehhilfe bewegen konnte. Kurz darauf hieß es, nach rechts abzubiegen. Der Straßenbelag änderte sich. Auf dem Schotter begannen die Reifen seines Dienstwagens zu singen. Lange bevor die Stimme das Erreichen seines Zieles ankündigen konnte, sah er den Tatort.
Knoop hatte sich am Polizeipräsidium absetzen lassen. Auf seinem Schreibtisch lag eine Mappe, die nur aus einem Blatt bestand. Nur die dürftigsten Informationen waren hier handschriftlich vermerkt: Name des Opfers, vermutlicher Todeszeitpunkt, Zeitpunkt des Auffindens, Tatort. Mit der Leitung der Mordkommission hatte van Gelderen Ingrid Höfftner beauftragt. Sein Chef musste die Kollegin für diese Ermittlung zugeteilt bekommen haben. Mit der Nennung dieses Namens hatte sich in Mikael ein merkwürdiges Gefühl breit gemacht. Er kannte Ingrid von früheren MKs. Sie war eine der wenigen Frauen, zu der es ihm nicht gelang eine kollegiale Beziehung aufzubauen. Sie befand sich in einem permanenten Kampf gegen das männliche Geschlecht. Entweder fühlte sie sich von den Männern benachteiligt oder sie standen ihr bei ihrer persönlichen Karriereplanung im Wege. Unter Kollegialität verstand Höfftner immer den eigenen Vorteil. Hatte sie den Kollegen dienstlich in den Schatten gestellt, dann war sie freundlich, lieb und nett. Damit war sie für Mikael eine Alfa-Hündin, die jeden Konkurrenten wegbiss. Na, das konnte ja heiter werden. Von unterwegs auf der Rückreise hatte er telefonisch einen Dienstwagen bestellt. Den Schlüssel dazu hatte er sich bei der Wache des Haupteingangs des Präsidiums abgeholt.
Durch sein verspätetes Dazustoßen hatte er jede Menge Informationslücken. Weder wollte er als dummer Junge erscheinen noch als uninformiert. Deshalb hatte er beschlossen, sich erst einmal selbst ein Bild von dem Ort des Auffindens zu machen. Dazu hatte er sich einem Navi anvertraut. Schließlich lag diese Stelle irgendwo in einem großen Waldgebiet und Knoop hatte keine Lust, ziellos dort herumzuirren. Seine Befürchtungen erfüllten sich indes nicht. Das rot-weiße Absperrband mit dem Endlosaufdruck 'Polizeiabsperrung' war vom Wege her gut zu erkennen. Viel Mühe schien man sich bei dem Ablegen der Leiche nicht gemacht zu haben.
Als Knoop die Wagentüre öffnete, drang der Geruch von Harz und verwesendem Laub in seine Nase. Ein paar Mal atmete er tief durch. An Ort und Stelle befand sich keiner mehr von der Spurensicherung. Knoop erstaunte das nicht. Schließlich kam er ja einen guten Tag zu spät. Gleichzeitig war ihm klar, die Spurensicherung musste auch nicht viel Arbeit gehabt haben. Der Boden des Fundorts war aufgewühlt. Nicht sehr tief. Die Leiche konnte somit nicht sehr tief verbuddelt worden sein. War es ein Laie oder geschah die Tat unter Zeitdruck? Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Der Haufen Reisig, der wohl von der Technik kontrolliert und dann aufgeschichtet worden war, musste den Körper verdeckt haben. Eine Schleifspur war nicht zu übersehen. Als er näher kam, korrigierte er seine Vermutung. Die Tote war nicht gezogen, sondern transportiert worden. In dem weichen Waldboden waren die Eindrücke zwangsläufig tief, und waren gut zu erkennen. An mehreren Stellen hatte man mit Gips gute Abdrücke archiviert. Um Spuren zu beseitigen, musste die Person den gleichen Weg zurückgegangen sein und hatte mit einem Reisigbündel versucht, Informationen über sich zu verwischen. Man war dabei aber wohl nicht erfolgreich gewesen, denn Knoop erkannte an weiteren Stellen Gipsreste. Mal gespannt, was dabei herauskommen würde. Der Täter musste vom Waldweg gekommen sein, um den Körper abzulegen. Der mittels Schotter befestigte Weg mündete laut Karte wenig später in den Weg 'Zum dicken Stein'. Mehr Spuren waren nicht zu erkennen. Er hatte einen ersten Eindruck. Mal sehen, ob seine Kollegen sich noch in der Wohnung der Toten aufhalten würden. Er beschloss, sich nicht wie ein Laufbursche anzukündigen oder nachzufragen, wo man denn sei. Er lenkte den Wagen über den Weg zurück, den der Täter genommen haben musste. Die Gipsspuren am Wegesrand waren ein beredtes Zeichen dafür.
Die Vielzahl der Autos, die vor dem mehrgeschossigen Haus auf der alten Poststraße kreuz und quer geparkt waren, zeigten ihm, hier war er richtig und hier war richtig was los. Vor dem Gebäude, auf den Fluren und im Treppenhaus debattierte man in Gruppen. Ohne es genauer zu wissen, musste er sich in einer Flüchtlingsunterkunft befinden. So viele fremdländische Gesichter auf einen Haufen, das konnte kein Zufall sein. Knoop zeigte den beiden uniformierten Kollegen, welche das Gebäude zur Straße hin sicherten, seinen Ausweis. Der Fingerzeig des kleineren Polizisten besagte, er musste in die obere Etage. Wortlos schlängelte er sich durch die Wartenden. Keiner interessierte sich für ihn. Stellenweise musste er seine Schultern einsetzen, damit man ihm Platz machte. Ein undefinierbarer Geruch trat ihm von allen Seiten entgegen. Auf den Stufen gab es zwar keinen Müll, aber sauber waren sie auch nicht. Überall stand man herum und schwadronierte. Die ihm unbekannten Sprachfetzen unterstrichen seine Annahme, wo er sich befand. Das Zimmer der Ermordeten war leicht auszumachen, denn vor der Tür stand ein weiterer Polizist, der mit seiner Figur den gesamten Türrahmen ausfüllte. Knoops Ausweis ermöglichte ihm den Zutritt.
Der Raum war eng und lang. Die Wände hatte man in einfaches Weiß getaucht. An der rechten Wand befand sich ein dreistöckiges Bettgestell. Am Fenster gab es einen kleinen Tisch mit drei Stühlen. Davor, den Betten quasi gegenüber, ein gebrauchter alter Holzschrank. Weil dessen Türen offen standen, sah man, er diente als Kleiderschrank. In seine Querseite hatte man Nägel geschlagen, an denen Kleidungsstücke, Taschen und andere, meist weibliche Utensilien hingen. Das Gleiche galt auch für die Wände neben dem Schrank. In den vier Raumecken oder wo sonst noch Platz war, hatte man all das angehäuft, was anderswo nicht aufbewahrt werden konnte. Aber es gab dort auch Lebensmittel und Küchengeräte. Hier hatte jemand gesammelt, was er finden konnte.
Das erste, was Mikael auffiel, waren die vielen Personen, die sich in dem schlauchförmigen Raum aufhielten. Alle trugen Spurensicherungsanzüge. Aber nicht alle waren von der Kriminaltechnik. Man nahm Fingerabdrücke, tütete ver-dächtige Gegenstände in Plastikbeutel oder klebte Oberflächen ab. Eine Vermummte stürzte sich auf ihn: Rita Minkoleit von der Spurensicherung.
„Mensch Knoop, Sie beschädigen all unsere Spuren. Und das bei so einer Müllhalde.“ Sie griff nach einem Kunststoffanzug. „Marsch rein mit ihnen.“
Knoop hasste diese Spurensicherungsbekleidung. Sie war atmungsinaktiv. Nach einer Stunde Tragen schwitzte man wie in einer Sauna.
Eine Frau, mit dem Rücken zu ihm, hielt einen Gegenstand mit spitzen Fingern hoch, um das Teil in die bereitgehaltene Plastiktüte fallen zu lassen. Als sie sich umdrehte, erkannte er Ingrid Höfftner.
„Ach, der Herr Knoop! Auch schon da?“ Die Stimme klang unverhohlen ironisch.
Höfftner war Hauptkommissarin so wie er. Ihre Art, sich zur Schau stellen, was bekannt. Höfftner reichte ihm bis zur Schulter und füllte den ganzen Spurensicherungsanzug aus. Ihr Busen und ihr Becken waren sprichwörtlich. In dem Spurensicherungsanzug erinnerte ihn die Frau an einen riesigen Schneemann, den er als Kind immer gebaut hatte. Ihre breiten Lippen gaben ihrem Aussehen einen gewöhnlichen Ausdruck. Aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Ingrid war gewitzt und feinfühlig.
Mikael schluckte und schluckte dabei die Erwiderung mit runter, seit wann es denn Anzüge in Größe S gebe. „Kannst du mich auf den Stand der Dinge bringen, Ingrid? Wo ist das Bett der Toten?“
Höfftner zeigte nach oben. Sie beherrschte sich, ihr Gesicht zu verziehen. Sie kannte diesen Knoop von einigen MKs. Aber dies lag schon lange zurück. In letzter Zeit waren sie sich manchmal irgendwo auf den weitläufigen Fluren des Polizeipräsidiums begegnet, hatten knapp 'Tag' gesagt. Sie mochte ihn wohl immer noch nicht. Dabei konnte sie nicht sagen, warum. War es sein Wesen, seine Einstellung, die Bemerkungen, die er machte? Und nun mussten sie zusammenarbeiten! Ihre Unbehaglichkeit stellte sie unverholen zur Schau. In ihrer Gefühlaufwallung hätte sie bald seine nächste Frage nicht verstanden.
„Warst du bei der Sektion der Leiche dabei?“
Sie nickte mit dem Kopf. „Ja, heute in der Früh. Wir wissen inzwischen, die Frau hieß Nomfunda Mafalele. Sie war 39 Jahre alt. Kenianerin. Sie...
„Kenianerin?“, unterbrach Knoop sie. „Das heißt, sie ist...“
„...eine Dunkelhäutige. Richtig!“ Sie unterbrach Knoop genauso, wie sie selbst unterbrochen worden war. „Sie hatte Asyl beantragt und wartete auf den Bescheid.“
„Asylbewerberin, ach so.“ Knoops Gesicht war nicht zu entnehmen, ob er sie auf den Arm nehmen wollte.
Unbeirrt sprach Höfftner weiter. „Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten. So.“ Sie machte mit der Hand eine Bewegung, um den Vorgang nicht beschreiben zu müssen. „Der Fundort ist wohl nicht der Tatort. Wir kennen ihn noch nicht. Man hat den Körper getragen. Aber die Sache ist noch nicht endgültig geklärt. Warst du schon draußen?“ Sie machte eine Pause.
Knoop nickte. „Wer hat sie gefunden?“
Höfftner schaute ihn ungehalten an. Sie liebte es wohl nicht, unterbrochen zu werden. „Es war ein Spaziergänger. Genauer gesagt sein Hund, ein Retriever, glaube ich. Der kam plötzlich mit einem Unterarm der Toten an. Der Hundebesitzer muss kurz vor einem Herzinfarkt gestanden haben. Offensichtlich hat er mit der Tat nichts zu tun. Laurenzo hat ihn vernommen.“
„Ach, Carlos ist auch hier? Das ist aber schön. Hat er ein Telefon, das wir abhören können?“
„Laurenzo?“ Höfftner quittierte mit einem Lächeln Knoops ungenaue Frage.
„Nein, der Hundebesitzer.“
„Frag Laurenzo.“ Sie zeigte auf einen Mann, der am Boden kniete und in einem Holzkasten wühlte. „Laurenzo, kommst du mal? Wir haben Besuch für dich.“
Laurenzo erhob sich, dabei murmelte er etwas, weil er sich in der Arbeit gestört fühlte. Als er Knoop erkannte, glitt ein Lächeln über seine Züge. Carlos Laurenzo war Kriminalkommissaranwärter. Krause, schwarze Haare rahmten sein rundes Gesicht ein. Sein fetter, massiger Körper verriet seine Abneigung zu aktivem Sport. So stöhnte er dann auch, als er sich überschnell aufrichtete und auf Knoop zustürmte. Er war etwas kleiner als Mikael. Die beiden umarmten sich.
„Hallo Mickey, wie geht’s? Ich dachte, du bist auf deinem Sportwochenende.“
Knoop winkte ab. „Man hat mich dienstverpflichtet.“
„Mickey?“ Ingrid Höfftner mischte sich in die Unterhaltung der beiden Männer ein. „Ist mir neu, wie man dich so ruft. Übrigens, Laurenzo hat inzwischen die beiden Mitbewohner des Zimmers und die Nachbarn einvernommen. Aber sag mal: Woher kennt ihr euch so gut - so als Bruder unter Brüdern?“
Laurenzos Gesicht verfärbte sich. Er blähte die Backen aus und wollte lospoltern. Knoops abwertende Handbewegung ließ ihn aber verstummen.
„Lass!“, beruhigte er seinen Kollegen.
Carlos atmete tief durch. „Ich bin noch nicht durch. Ich habe nur mit denjenigen gesprochen, die Deutsch konnten. Das waren nicht viele. Das Bild ist ziemlich uneinheitlich. Fest steht, die Tote soll 'plemplem' sein. Hatte Geisterbesuche oder Ähnliches. Sie sprach auch mit ihnen. Hokus Pokus, du verstehst?“ Er machte wischende Handbewegungen vor seinem Kopf. „Das ist die Aussage verschiedener Personen.“
„Ich nehme an, dies hier ist nicht der Tatort?“ Mikael wiederholte die Handbewegung von Höfftner.
Carlos nickte. „Wie, du weißt?“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung seiner Kollegin.
„Und das Alibi der anderen Zimmerbewohner?“
Laurenzo schüttelte den Kopf. „Das wird schwierig. Sie haben etwas gegen Polizei, haben leider keine Uhr, wenn sie mich denn überhaupt verstehen. Sie sind alle hier im Gebäude gewesen. Mehrere haben die beiden Zimmergenossinnen zur Tatzeit gesehen. Auch andere Heimbewohner bestätigen dies. Man hat da draußen vor der Türe gequatscht und gealbert. Das sagen unabhängig von einander mehrere Zeugen.“ Laurenzo warf einen Blick in seine Aufzeichnungen. „Die Zimmernachbarin aus diesem Raum hat sogar behauptet, Mafalele habe ihren nahen Tod vorausgesagt. Einer Spur müssen wir noch nachgehen. Ein Bewohner aus der unteren Etage hat behauptet, die Tote gehöre zum horizontalen Gewerbe. Es ist aber bisher nur eine singuläre Aussage.“
„Prostituierte?“, staunte Knoop.
„Weiß ich noch nicht. Kann sein, kann aber auch Eifersucht sein. Der Zeuge hat nach anderen Aussagen die Tote gemocht. Wir müssen hier noch weiter...“
„Meine Herrn Kollegen. Könnte der Freier vielleicht Benjamin Schnittler sein?“ Ingrid Höfftner wedelte mit einer Ansichtskarte.
In der Tat hatte ein Benjamin Schnittler Urlaubsgrüße aus Borkum an die Tote geschickt. Nach wenigen Minuten wussten die drei Kommissare, dass es eine Person solchen Namens gab und dass diese in Schermbeck wohnte.
„Wenn wir hier fertig sind, dann werden wir ihn besuchen.“ Höfftners Ironie wechselte zu einem dienstlichen Sprachgebrauch.
Einer von der Spurensicherung kam mit einer Einkaufstüte und hielt sie ihnen geöffnet hin. Es war Krimskrams, bunte Figuren und abstruse Gegenstände, Kakteenstacheln steckten in Stoffteilen. Knoop drehte seine Nase weg. Es roch stärker noch als Pferdeurin. Die Sammlung unterstrich jedoch, was Carlos bei der Befragung herausgefunden hatte. Der Hang zum Okkulten war naheliegend.
Es war Laurenzo, der hinten auf dem Kleiderschrank einen flachen Karton fand. Höfftner bestand darauf, die Schachtel zu öffnen. Obenauf lag eine Kinderpuppe. Es handelte sich um einen Mann. Mitten durch die Brust hatte man diesem einen Holzstab gespießt. An den ausgestreckten Armen baumelten Bilder von Waffen, wie Kinder sie zu malen pflegen. Darum hatte man bunte Steine und Trockenobst garniert. Der Fotograf musste seine Arbeit unterbrechen, um das Leeren des Inhalts zu dokumentieren. Als Höfftner die erste Lage vorsichtig herausnahm, kamen alte, vergilbte Fotografien zutage. Sie zeigten mehrere Brustbilder eines alten Mannes, der immer die gleiche bunte Strickmütze trug. Im V-Ausschnitt seines mit bunten, geometrischen Mustern gestalteten Hemdes baumelte eine Vielzahl von Ketten. Teils waren dies aufgereihte Muscheln, teils hatte man daran Zähne verschiedener Tierarten zusammengebunden. Weitere Bilder zeigten ein Kind, welches ein Äffchen auf dem Arm hielt. Waren diese ersten Fotos Farbbilder, so kamen darunter noch solche in schwarzweiß zum Vorschein. Vor einer kugelförmigen Hütte stand ein Ehepaar. Das Bild war unscharf, so dass man die Gesichter der Personen nicht genau erkennen konnte. Es handelte sich aber zweifellos um Mann und Frau, vielleicht ein Ehepaar. Auffallend war, die Frau stand einen Halbschritt hinter dem Mann.
„Wir werden wohl nie erfahren, welche Bedeutung diese Fotografien für die Tote hatten“, murmelte Carlos.
Höfftner legte die Fotos beiseite und holte danach einige handbeschriebene Blätter hervor. Die Handschrift war ungelenk. Der Schreiber hatte sich wohl Mühe gegeben, war aber offensichtlich des flüssigen Schreibens nicht sehr mächtig.
„Was ist das denn für eine Sprache?“ Höfftner fluchte.
„Kenn´ ich auch nicht. Es ist aber bestimmt kein Spanisch“, bemerkte Carlos.
„Darf ich mal sehen?“ Knoop griff nach den Aufzeichnungen.
Widerwillig gab Höfftner sie aus der Hand. „Oh, der große Schriftexperte der Kripo.“ Sie wollte ihren Spott nicht verbergen.
Knoop strich mit der Hand durch sein dunkles, krauses Haar, welches sich schon stichelartig weiß verfärbte. Er überflog den Text, dann blätterte er langsam durch die Aufzeichnungen. Als er am Ausgangsblatt angekommen war, grinste er. „Das ist Suaheli.“
„Suaheli? Was ist das denn?“ Carlos hatte Augen wie Scheunentore.
Ingrid Höfftner sperrte nur ihren Mund auf.
„Suaheli ist neben Englisch die Hauptsprache in Ostafrika. Mafalele kommt doch aus Kenia, oder?“
Die Kommissarin nickte widerwillig.
„Ich bin vor ein paar Jahren in Kenia gewesen. Strandurlaub in Verbindung mit einer Safari. Da habe ich mir Mühe gemacht, ein paar Worte Suaheli zu lernen. Völkerverständigung – ihr versteht? Ich kann euch den Text nicht übersetzten, aber einige Worte Suaheli kann ich entziffern. 'Sana' ist 'schwer', 'Mtoto heißt 'Kind'. Und..." Er blickte auf den Bogen und blätterte. „'Ni' bedeutet 'Es sind'. Nein, für mich ist das eindeutig Suaheli. Carlos, kannst du das ans LKA schicken und übersetzen lassen?“
Laurenzo und Höfftner nickten. Laurenze lächelte dabei, während seine Kollegin die Stirne in Falten zog.
Knoop schien es an der Zeit, etwas gegen die angespannte Atmosphäre zu unternehmen, die zweifellos spürbar war. „Soll ich euch einen Kaffee besorgen?“
Carlos nickte erfreut.
Höfftner hielt ihren abweisenden Gesichtsausdruck bei. „Nee, trinke nur Pfefferminztee.“ Sie begann, den Kleiderschrank von der Wand zu rücken.
Der anderer Teil des Erkennungsdienstes vor Ort war draußen damit beschäftigt, von Personen die Fingerabdrücke einzuscannen. Einem davon hatte Knoop einen Becher Kaffee abgeschwatzt. Carlos bedankte sich überschwänglich. Während er trank, wischte er den Schweiß von der Stirn.
„Es gab leider keinen, der Pfefferminztee dabei hatte“, vermittelte Knoop.
Höfftner murmelte etwas Unverständliches, während sie alle Poster von der Wand abnahm.
Nach einer ergebnislosen Suche, die nur Zeit kostete, aber keine neuen Erkenntnisse brachte, brach man die Untersuchung des Zimmers ab. Höfftner schälte sich aus dem Sicherungsanzug. Ihre Zivilkleidung kam zum Vorschein. Sie trug Rock und Pullover. Das mit dem blauen Rock, das ging ja noch, aber der gelb-schwarze Ringelpullover war für Mikael das Letzte. Die Farben passten zwar zu der des Rocks, aber sie betonten übermäßig die Proportionen des weiblichen Körpers. Ein breiter Rettungsring umspannte ihre Bauchpartie. Er hatte wohl nur die Aufgabe, die beiden gewaltigen Brüste vor dem Herunterfallen zu stützen. Dieser Unterbau wurde verstärkt durch einen Bauch, der nicht ganz den Umfang des Rettungsrings hatte. Höfftner schüttelte ihre Haare. Dabei rutschten ihre glatten, leicht fettigen Haare nach vorne. Die Frisur sah aus, als hätte der Friseur als Hilfsmittel einen Topf benutzt. Auch die Korrektur am Handspiegel brachte keine wirkliche Änderung des Aussehens.
„Also, ab zu Benjamin Schnittler“, kommandierte Höfftner.
Knoop schüttelte unwillig den Kopf. „Nein, ich halte es für sinnvoller, wenn wir hier erst das Umfeld durchkämmen. Der Schnittler läuft uns nicht davon.“
Das Kinn von Ingrid Höfftner sackte nach unten. Die Mundwinkel folgten dem Kinn. Ihr Gesicht glich dem eines Nussknackers. Der Knoop war und blieb doch ein arrogantes Arschloch. Van Gelderen, ihr Chef, hatte sie zwar mit der Leitung der Untersuchung beauftragt, ihr aber nicht die Disziplinargewalt über ihre Kollegen gegeben. Und jetzt war dieses Gummibärchen auch noch ein guter Freund dieses Laffen. Das konnte ja heiter werden. Sie entschloss sich, die Zügel der Ermittlung fester in die Hand zu nehmen. Die bislang vorliegenden Ergebnisse schienen in die richtige Richtung zu weisen. Dies war ein Fall ganz nach ihrem Geschmack. Morde mit Prostituierten klärten sich schnell auf. So viele Möglichkeiten gab es ja auch nicht. Entweder es war der Streit um die Bezahlung oder um die Ausführung der Dienstleistung. Sie war sich sicher, diese Angelegenheit in ein paar Tagen vom Tisch zu haben. Eine solche Sache stemmte sie, Ingrid Höfftner, ratzfatz. Sie trippelte den beiden Männern hinterher, bemüht, das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand zu geben.
Mikael Knoop hatte vor der Zimmertüre noch ein paar freundliche Worte mit dem Polizisten gewechselt. Sie hatten die Durchsuchung beendet. Die Sicherung des Zimmers war nicht mehr notwendig. Erfreut grinste der Uniformierte und begab sich nach unten. Als Höfftner erschien ging Knoop voran. Er drehte sich zu Carlos um.
„Charley, gibt es hier einen Sicherheitsdienst oder so was?“
Laurenzo schüttelte den Kopf. „Die hier in Schermbeck kommen mit einem Hausmeister aus.“
„Dann will ich mit dem Hausmeister sprechen.“
Während Laurenzo sich umschaute, wo sich der Hausmeister aufhielt, trat Höfftner unruhig auf der Stelle. „Mensch, das riecht hier wie auf einem Basar.“
Knopp lächelte zu ihr herunter. „Wenn Menschen aus dem Orient hier leben, dann riecht es hier auch wie im Orient. Wie sonst?“
Die spitze Stimme seiner Kollegin verstummte. Ihre Mundwinkel sanken wieder nach unten. Sie entgegnete aber nichts. Nach einiger Zeit tauchte Carlos mit einem Mann auf, der ihn zwei Köpfe überragte. Sein Kopf war kahl rasiert und entblößte dadurch eckige Konturen seiner Knochen. Im linken Ohr trug er ein Steckerchen. Laurenzo stellte ihn als Werner Niedrighaus vor. Niedrighaus trug eine schlabberige Jeans und ein Holzfällerhemd. Er wechselte die Zigarette und streckte dem Polizisten seine gelben Finger entgegen. Als Knoop ihm die Hand gab, lächelte der Hausmeister.
„Wenn man diesen Job hier macht, dann bekommt man nicht von jedem die Hand. Was kann ich für Sie tun?“
Knoop grinste. „Was für Leute sind hier untergebracht? Nationalitäten meine ich.“
Niedrighaus atmete tief durch. Dann bewegte er bei der Nennung jeden Namens einen Finger seiner rechten Hand. „Iraker, Syrer, Eritreer und Afghanen. Wir hatten auch mal Somalier hier, aber die sind nun in Wesel. Die haben sich immer mit den Eritreern gefetzt. Weiß der Teufel warum. Die Restlichen sind aber friedlich.“
„Ist doch klar“, mischte sich Höfftner in das Gespräch ein. „Die beiden Länder befinden sich im Kriegszustand.“
Keiner ging aber auf ihre Bemerkung ein.
„Können wir eine Liste aller Bewohner haben?“
Werner Niedrighaus kratzte an seinem Mongolenbart. „Welche wollen Sie?“
Knoop zog seine Stirne in Falten. „Ich verstehe nicht. Können Sie...“
„Wissen Sie. Wir haben hier Betten für 40 Personen. Aber es kann sein, dass sich hier mehr Personen aufhalten. Es handelt sich um Fremdschläfer, wie wir sagen. Das können Freunde, Bekannte oder Familienangehörige sein. Die kommen aus anderen Heimen. Weiß der Teufel, wie die hier an Ihre Adressen kommen. Es kann aber auch sein, dass sich hier nur 15 Menschen aufhalten.“
„Und wie viele haben sich in den letzten Tagen hier aufgehalten?“ Die Stimme gehörte zweifelsfrei Höfftner.
„Das kann ich nur schätzen. Im Moment könnten es 45 sein. Genau weiß ich es nicht. Das immer zu kontrollieren wäre ein zu großer Aufwand.“ Niedrighaus zuckte mit den Schultern. „Ich bin hier alleine. Tut mir leid, ehrlich.“
„Geld?“, mutmaßte Ingrid Höfftner. Sie unterstrich mit einer zählenden Handbewegung ihre Worte.
Der Hausmeister schüttelte seinen Kopf. „Nein, wir sind kein Gefängnis. Wir haben hier keine 24-stündige Zugangskontrolle. Auch Asylanten dürfen sich frei bewegen. Wenn auch nur in einem angeordneten Kreis. Residenzdingsbums heiß das. Nee, wer will das denn kontrollieren? Wir kontrollieren auch nicht das Geld unserer Bewohner. Ich weiß, dass man hier Zigaretten klaut, auch gibt es hin und wieder kleinere Diebstähle. Meist werden die Sachen dann versilbert. Aber von mir haben Sie das nicht.“ Werner Niedrighaus legte seine zigarettenfreie Hand auf den Mund.
„Wie sieht es hier mit Gewalttätigkeiten aus“, wollte Knoop wissen?
Niedrighaus zog die Enden seines Mongolenbarts lang. „Das ist nicht einfach zu beantworten. Meist geschieht hier nichts.“
„Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass hier die friedlichste Asyl-Unterkunft Deutschlands ist.“ Höfftners Stimme wurde lauter.
Der Hausmeister räusperte sich. „So war das nicht gemeint. Ich dachte hier eher an Mord und Totschlag. Aber Schlägereien nach einer Sauferei, das gibt es hier schon.“
„Können Sie Namen nennen?“ Diesmal war es Laurenzo, der sich einmischte. Er hielt dem Mann im grauen Kittel dabei sein Smartphone hin, bei dem er die Sprachaufzeichnung eingeschaltet hatte. Der Angesprochene überlegte. „Also, ich kann nur etwas sagen über Zusammenstöße, bei denen ich eingreifen musste. Es sind immer Männer, die randalieren. Mir fällt da Bozam Kharadel ein, ein irakischer Sunnit.“ Bozam ist ein lieber Kerl, wenn er keinen Alkohol intus hat. Er will nicht warten, bis Allah ihm die Jungfrauen zuführt. Er will sie jetzt, jetzt gleich und in doppelter Menge.“ Ein Hustenreiz unterbrach die Schilderung. „Aber an Frauen kommt er wohl nicht ran. Aus Frust säuft er. Dann war da ein Apan Okolele mit beteiligt. Apan kommt mit seinen zwei Frauen und fünf Kindern aus Somalia. Beide, also Bozam und er, haben sich mit Stuhlbeinen verdroschen. Worum es bei solchen Streitigkeiten geht?“ Niedrighaus zuckte mit den Achseln. „Man versteht ja nicht, worum es sich dabei handelt. Ich gehe einfach dazwischen. Vor mir haben die Respekt.“ Er zeigte seinen Bizeps, während er erneut hustete. „Dann hören die schon auf, wenn ich die am Genick habe. Wenn die Köpfe knallen, dann werden sie alle friedlich.“
„Gibt es sonst noch jemanden, der gewalttätig ist?“ Es war wieder Ingrid Höfftner, die sich einmischte.
Niedrighaus spitzte die Lippen. „Ja, - da war noch ein Vorfall. Er ist aber schon über eine Woche her. Abdul, Youssef und Aiman hatten eine Schlägerei. Abdul, er heißt eigentlich Abdulbaki Kiryiaki, hatte den Fernseher des Raumes aus dem Fenster geworfen. Er hat den anderen beiden vorgehalten, schweinische Filme zu sehen. Man muss dabei wissen, Abdul ist ein gläubiger Schiit aus Syrien.“ Während er sich erneut eine Zigarette ansteckte, hustete er mehrfach in die Hand, die das Feuerzeug hielt. „Entschuldigung! Er betet fünfmal am Tage und schaut nur saubere Sender, was immer das zu bedeuten hat. Youssef und Aiman haben die Vorwürfe natürlich bestritten. Sie behaupteten, Abdul erlaube ihnen nicht, Sportübertragungen zu sehen. Wenn beim Fußball ein Spieler sein Trikot auszieht, dann sieht Abduhl rot. Youssef ist Libanese und ein moderater Moslem. Aiman, der Iraker, ist da strenggläubiger, wenn auch nicht so schlimm wie Abdul. Sonst ist nichts. Bis auf das tägliche Geblöke beim Duschen, Kochen und Toilettengang.“
„Was können Sie uns über Nomfunda Mafalele sagen?“ Mikael Knoop hatte wenig Interesse an Tratsch, aber hier gehörte das dazu. Er trat gegen einen Kieselstein, der über die Bordsteinplatten humpelte und in einem Rasenstück verschwand.
„Nomi meinen Sie?“
Knoop nickte.
„Na, ja. Das erste, was mir einfällt, die glaubte an Geister und so´n Scheiß. Schwafelte von einem Gespenst, das sie häufig aufsuchte. Die hat doch glatt verlangt, ein anderes Zimmer zu bekommen. Als ob wir hier im Hotel wären und man sich die Zimmer aussuchen kann?“ Die Stimme klang entrüstet. „Die hatte so eine Puppe, aus Stroh meine ich, die wurde immer mit Nadeln traktiert.“ Er hustete anhaltend, inhalierte dann mehrmals wieder tief. „Was mir noch einfällt: Selbstbewusst war sie, sehr selbstbewusst. Sie ließ sich nichts gefallen. Bei den zwei Mitbewohnerrinnen auf dem Zimmer hatte sie das Sagen. Ja, die hatte ihre Mannschaft im Griff. Regelte aber für die auch alles. Wenn ich ein Problem habe, ääh ich meine hatte, dann habe ich immer sie angesprochen.“
Carlos schaute auf das Display, um es dem Wart erneut hinzuhalten. „Was ist mit Prostitution?“
Niedrighaus grinste schmierig. „Das habe ich auch gehört, aber nie gesehen. Hier im Haus geht so was überhaupt nicht. Also, müsste sie Hausbesuche gemacht haben oder wie die Karnickel im Busch.“ Er lachte laut über seine eigene Wortwahl. „Man sagt, Sie machte es wohl für Geld. Aber sie machte es nicht mit jedem. Habe ich jedenfalls gehört.“
„Das müssen Sie uns erklären.“ Ingrid Höfftner zog mit den Fingerspitzen ihre fettigen Haare lang. Dabei richtete sie ihren Blick auf das Gesicht des Angesprochenen.
Werner Niedrighaus räusperte sich. „Na ja, sie machte es wohl für Geld. Aber sie suchte sich die Männer aus. Man könnte sagen, ´ne Edelnutte, wenn sie nicht schwarz wäre.“ Er grinste wieder. „Mehr weiß ich aber auch nicht.“
Es trat eine Pause ein. Knoop überlegte, ob er etwas auf die Verunglimpfung antworten sollte, ließ es dann aber bleiben. Seine beiden Kollegen legten eine Denkpause ein. Es war Höfftner die den Faden wieder aufnahm.
„Wo ist denn das Geld? Wir haben nichts auf Ihrem Zimmer gefunden.“
Der Hausmeister zuckte mit den Schultern. „Ich habe auch nie gesehen, dass sie Geld hatte. Für sich hat sie es jedenfalls nicht ausgegeben. Man munkelt, es gäbe da einen Zuhälter. Habe den aber nie gesehen.“
Laurenzo spielte die Sprachaufzeichnung noch einmal ab, bevor er sie ausschaltete. „Wen nehmen wir uns denn jetzt vor? Ich schlage vor, wir fangen bei dem Syrer an. Meint ihr nicht auch?“
Knoop schüttelte den Kopf. „Das bringt uns nicht weiter. Wir haben nichts in der Hand außer einem Streit mit Schlagwaffen. Glaubst du Abdulbaki Kiryiaki gibt den Mord zu, wenn du ihm den vorwirfst? Wir brauchen vorweg Fakten. Wir fahren ins Präsidium und checken mal die Namen auf deiner Aufzeichnung.“ Er drehte sich zu dem Hausmeister um. „Danke erst mal für Ihre Mithilfe. Wie können wir sie erreichen?“
Laurenzo tippte die Telefonnummer ins Adressbuch.
Werner Niedrighaus verschwand zu seinem Arbeitsplatz.
Kaum hatte Niedrighaus sich entfernt, da zischte Höfftner: „Typisch Männer! Ich werde wohl gar nicht gefragt? Wie? Die Herren bestimmen wohl alles alleine.“
Knoop zuckte mit den Achseln, „Du kannst ja gerne die fünf Figuren einvernehmen.“
Um zur Wohnung von Benjamin Schnittler zu gelangen, musste man auf die andere Seite der Gemeinde. Höfftner fuhr voraus, Laurenzo und Knoop folgten. Die Navigationshilfe führte sie kreuz und quer durch enge Straßen. Als die Computerstimme das Ziel ihrer Fahrt ansagte, befand sich der Konvoi inmitten eines Neubaugebietes. Benjamin Schnittler wohnte im oberen Stockwerk eines Zweifamilienhauses mit dunklem Klinker. Man ließ der Frau den Vortritt. Aber je drängender Höfftner klingelte, um so stiller waren die Geräusche in der Wohnung. Nachdem Ingrid den Finger auf dem Klingelbalken beließ, meldete sich die Bewohnerin der Parterre. Aber sie wusste nicht, wo Schnitter sich momentan aufhielt. Knoop war froh, als die beiden anderen dem Abbruch dieser Aktion zustimmten.