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A2.1 Die Mutter Rahel Calderon

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Rahel Calderon wird 1864 in Belgrad geboren. Sie verbringt vermutlich nur einen Teil ihrer Kindheit in Wien. Sie wächst mit sieben Geschwistern auf. Ab wann konkret ihr Vater, der türkische Grosshändler Josef M. Kalderon, in Wien ansässig wurde, kann nur indirekt erschlossen werden. Erst 1877 wird anlässlich der Geburt der Tochter Junbula der Wohnsitz Wien angegeben.25 Die Geburt der Tochter Josefine Sultana 1872 wurde nicht in Wien verzeichnet, sodass der Lebensmittelpunkt der Familie in diesen fünf Jahren nach Wien verlegt worden sein muss. Veneziana Kalderon-Elias, die Mutter von Rahel Calderon, stammte ursprünglich aus Baden bei Wien.

Veza Taubners Mutter, Rahel Calderon, geht insgesamt drei Ehen ein. Mit 19 Jahren, im Jahr 1883, heiratet sie Heinrich M. Kalderon in Wien, in den Adressbüchern der Stadt Wien (Lehmann’s Adressbuch) wird er als Kalderon Heim (Heinrich M.) geführt. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist Heinrich M. Kalderon der Bruder von Rahels Vater.26 Heinrich M. Kalderon ist von 1882 bis 1892 in Wien als türkischer Grosshändler tätig, teilweise in einer Firma mit seinem Bruder Josef M. Kalderon, teilweise mit Schwiegersöhnen von Josef M. Kalderon (Cohen und Lewy). Von 1890 bis 1892 wird seine Einzelfirma an der Wohnadresse Schmelzgasse 9 verzeichnet. Die Ehe wurde 1893 gemäss Kürzel im Heiratsregister der Israelitischen Kultusgemeinde geschieden. Was zuerst stand, der Austritt aus der Firma oder die Trennung von Veza Taubners Mutter Rahel, ist unbekannt. Über den weiteren Verbleib von Heinrich M. Kalderon ist ebenfalls nichts bekannt, auf der Todesanzeige seines Bruders im Jahr 1908 ist er noch aufgeführt. Die Scheidung Rahel Calderons hatte zur Folge, dass sie vom Jahr 1893 an wieder bei ihren Eltern, in der Radetzkystrasse 13 wohnend, in den Matriken aufgeführt wird.27

Der zweite Ehemann Rahel Calderons ist der um 17 Jahre ältere Hermann Taubner. Tatsächlich ist der dritte Gatte, Menachem Alkaley, geboren 1848, ebenfalls 16 Jahre älter als Rahel Calderon, ihn überlebte sie allerdings nur um fünf Jahre. Ein genaues Heiratsdatum gibt es in den Matriken der Stadt Wien und bei der Israelitischen Kultusgemeinde nicht. Rahel Taubner-Calderon ist aber im Adressbuch der Stadt Wien (Lehmann’s Adressbuch) unter diesem Namen bis zum Jahr 1911 registriert, danach weder unter dem alten noch unter dem neuen Namen. Menachem Alkaley erscheint in diesem Adressbuch bis zu seinem Tod nie, obwohl nachweislich in Wien wohnhaft.28 Es ist anzunehmen, dass Rahel und Menachem von 1911 an verheiratet waren. Sie werden in den Matriken der Stadt Wien als Ehepaar bei ihrem Einzug in die Ferdinandstrasse 29 im Jahr 1911 geführt. Bei beiden ist der Umzug aus der Matthäusgasse 5 in die Ferdinandstrasse verzeichnet. Veza Taubner erhält also spätestens im Alter von 14 Jahren einen Stiefvater. Der Beruf des 63-Jährigen wird in den Matriken mit Privatier angegeben.

Über eine Berufstätigkeit von Rahel Calderon ist nichts bekannt, in den Matriken der Stadt Wien und der Israelitischen Kultusgemeinde wird sie als Private bezeichnet. Wenn man die Erzählung Geld-Geld-Geld von Veza Canetti autobiografisch liest, kann man davon ausgehen, dass Rahel Taubner-Calderon einen Teil der Wohnung – Matthäusgasse 5 – untervermietet hatte und dass sich ein neuer Untermieter auch als Stiefvater, der dem Mädchen das Herz der Mutter rauben würde, entpuppen konnte. Dass sich gewisse Untermieter – „Er war vierschrötig, mit grossen dunklen Augen.“29 – tatsächlich in unziemlicher Art und Weise der Ich-Erzählerin, dem noch nicht zwölfjährigen Mädchen, genähert haben müssen, beschreibt Veza Canetti mit folgenden Worten: „Der Mieter versuchte mich zu holen (wir hatten einen Mieter, wir waren arm, darum kam ja dieser Stiefvater), ich kehrte ihm den Rücken. Und es war noch nie ein Kind so unglücklich wie ich.“30

Ganz anders war es für das zwölfjährige Mädchen aber dann beim neuen Untermieter und potenziellen Stiefvater: „Und dann stieg jemand die Treppe herauf, ein hagerer Mann, lang und mager, mit einer riesigen Nase und er trug einen Pelz mit Nerzkragen und einen hohen Fez auf seiner Glatze, denn er war ein Türke aus Bosnien. Und er hielt einen Stock in der Hand und seine Augen waren nicht gross und dunkel, sondern klein und farblos, wie blind, aus den Wangen ragten weisse Stoppeln, und ich wusste, dass dies der Stiefvater war. Und plötzlich fiel alles ab: der Ekel, der Kummer, die Scham. Neugierig sah ich den hageren Greis heraufsteigen, immer mit dem Stock voran, und hinter ihm erschien jetzt jung und leichtfüssig meine Mutter, glitt auf mich zu, umarmte mich heftig und flüsterte: ‚Du kannst Papa zu ihm sagen oder Onkel.‘‘“31 Ganz anders gestaltet sich auch der Kontakt zu diesem neuen Stiefvater für das Kind: „Als mich der Stiefvater sah, öffnete er seinen zahnlosen Mund zu einem schwarzen Loch, schob die Zunge durch die Wange und sagte: ‚Aha!‘ Dann schlug er mit dem Stock auf mein Bein, es war seine Liebkosung. Die Magd und der Mieter lachten nicht, als sie den komischen Greis sahen, sondern sie traten ehrfürchtig zur Seite; denn er besass siebenundvierzig Häuser.“32 Schon am ersten Abend zeigt sich dem Kind aber der Geiz des neuen Stiefvaters: „Da mein Stiefvater siebenundvierzig Häuser besass, liess meine Mutter auch die beiden kleinen Stehlampen anzünden, denn das spielte jetzt keine Rolle. Ich betrachtete indessen seine lange krumme Nase und war plötzlich auf das viele Spielzeug neugierig, das mir die Magd in Aussicht gestellt hatte. Er schien mich zu erraten. Denn er griff schmunzelnd in die Tasche und entnahm ihr ein kleines Stück Papier. Umständlich packte er daraus ein angeklebtes Zuckerl und reichte es mir mit königlicher Noblesse zwischen zwei langen Fingern hin.“33

Bald aber sehnt sich das Kind nach der alten Ordnung. „Aber die sollte nicht wieder eintreten. Denn wir wussten wohl, dass der Stiefvater siebenundvierzig Häuser besass, aber wir wussten nicht wie er sie erworben hatte. Wir zogen nach einigen Wochen in eine grosse Wohnung mit elektrischer Beleuchtung, aber wenn es auch genügend Platz da gab, mussten wir doch alle im selben Zimmer leben, denn er duldete keine zweite Lampe im Haus. Zu Mittag sassen wir bei Tisch und meine Mutter häufte mir den Teller an. Aber wenn sie das winzige Stück Fleisch darauf legte, das ein Kind von zwölf Jahren braucht, bohrte er seine farblosen Augen auf das winzige Stück und sagte: ‚Fleisch bekommt sie!‘ Mochte mich jetzt meine Mutter noch so warm ansehen, das Fleisch brachte ich nicht hinunter und darauf schien er gewartet zu haben. Er spiesste es auf seine Gabel und legte es zufrieden auf seinen Teller.“34

Der beschriebene Wohnungswechsel in der Erzählung Geld-Geld-Geld erklärt zudem, weshalb nach den Matriken der Stadt Wien nicht nur die Mutter von Veza Taubner, Rahel Taubner-Calderon, sondern auch der Stiefvater, Menachem Alkaley, als aus der Matthäusgasse 5 nach Ferdinandstrasse 29 umgezogen, gemeldet wurden. Erst mit dem Umzug von 1911 ist Rahel Taubner-Calderon unter dem Namen Alkaley verzeichnet. Da die Heirat an sich weder bei der Israelitischen Kultusgemeinde noch bei der Stadt Wien als solche registriert ist, kann davon ausgegangen werden, dass Menachem Alkaley und Rahel Taubner-Calderon womöglich in Bosnien – zum Beispiel in Alkaleys Heimatort Sarajewo – geheiratet hatten. Veza Canetti erzählt dann auch, wie die Mutter, nachdem sie den neuen Stiefvater heimgebracht hatte, „müde von der Reise, in die Küche ging und Pasteten buk.“35 In dieser Erzählung vernimmt der Leser zudem, dass die Verwandten die Mutter der Ich-Erzählerin zur Heirat gedrängt haben müssen und sogar so weit gingen, vom Kind zu verlangen, gefügig und gütig zum Stiefvater zu sein,36 aber auch dies erweist sich als Bumerang. Nachdem das Mädchen dem Stiefvater mit seinen Ersparnissen einen Uhrenständer gekauft hat, den er zuerst entzückt in Augenschein nimmt, kürzt er der Mutter das Wirtschaftsgeld mit folgender Begründung: „Ihr müsst viel Geld haben, dass ihr Geschenke machen könnt.“37

Ob der kolossale Reichtum von Menachem Alkaley – wie von Elias Canetti beschrieben – eine Existenz sicherte, die auch noch in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg genug gross war, um ein Leben ohne Sorgen zu führen, ist bis anhin nicht mit weiteren Quellen gestützt nachweisbar. In der Erzählung Geld-Geld-Geld beschreibt Veza Canetti die Krisenjahre und die Geldentwertung folgendermassen: „Und dann kamen die Kriegsjahre. ‚Tausend Kronen hab’ ich dir (der Mutter der Ich-Erzählerin, Anm. va) gegeben, weisst du, was das heisst, tausend Kronen!‘ Sein langer Finger zitterte vor Aufregung, als er ihn beschwörend auf die Stirn legte. Er sah aus wie ein gefangener Machthaber, den man mit Forderungen erdrosselt.“ Der Stiefvater kann aber nicht verstehen, dass die tausend Kronen nicht einmal eine mehr wert sind. „Wir aber hungerten. Bei meiner Mutter verschlimmerte sich infolge dieser Not ein Leiden und sie lag schwerkrank im Bett.“38 Des Stiefvaters hohe Einkünfte hingegen „lagen bei einem Bankier, der mit der Zeit damit seine Bank vergrösserte. Denn er benützte das Geld zu Spekulationszwecken und sandte erst die entwerteten Scheine jeweils den Kindern. Die hatten mit ihren Besitztümern zu viel zu tun, um das planmässige dieses Betreibens zu durchschauen.“39 Die Krankheit der Mutter hingegen wird vom Stiefvater mit folgender Bemerkung quittiert: „‚Aha!‘ sagte der Stiefvater. ‚Aha! Krankheit ist Faulheit! Auf! Auf! Arbeite etwas!‘ Und er schlug mit dem Stock zu ihrem Bett hinüber.“40 Veza Canetti erzählt weiter: „Es war ihm nicht beizukommen. Wir waren nur die unbezahlten Helfer in seinem Dienst. Wir darbten und er schwelgte. Sein Verwalter brachte ihm jeden Monat die Abrechnung über Aktien, die er im Laufe der Zeit erworben hatte, und es bereitete ihm einen grossen Genuss zu kalkulieren, welche Zinsen sie trugen.“41 Die Mutter der Ich-Erzählerin hält sich von da an nicht mehr an ihre „strengen Begriffe von Pflichterfüllung, sondern begann jeden Nachmittag auszugehen.“42

Am Ende seines Lebens fängt dieser Stiefvater in seinem Wahn an, in grösserem Stil Geld zu vernichten: „Noch ehe ich mich ihm genähert hatte, nahm mein Stiefvater die Banknoten und warf sie blitzschnell in die Glut. (…) Mit der Zeit schwand ein Päckchen nach dem andern, ohne dass wir es hindern konnten, denn er trug Geld Tag und Nacht bei sich.“43 Auf dem Sterbebett die Hand seines aus der Ferne herbestellten jüngsten Sohnes haltend, wird der sterbende Stiefvater noch einmal der Alte: „Er dachte befriedigt, dass meine Mutter nichts bekam und als er den Blick hob, stachen ihm noch die hellen Möbel in die Augen. Sein Gesicht wurde hungrig. ‚Nimm ihr die Möbel weg‘, sagte er zu seinem Sohn. ‚Alles werde ich ihr nehmen‘, versprach dieser und bat meine Mutter mit dem Blick um Entschuldigung.“44

Zu den in der Erzählung Geld-Geld-Geld gemachten Milieuschilderungen passen auch die durch Elias Canetti in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen gemachten Aussagen zu Alkaleys Tod.

„Während dieser Zeit hatten sich die äusseren Umstände ihres Lebens verändert. Ihr Stiefvater, der uralte Altaras, starb, was eigentlich nach all seinen Erfahrungen mit Ärzten niemand mehr für möglich gehalten hätte. Er blieb bis zum Schluss der gleiche und es gelang ihm, für eine Überraschung in seinem Sinne auch nach seinem Tod zu sorgen. Alles was er an Reichtümern (Banknoten) aufzustapeln pflegte, war verschwunden. Er muss Mittel und Wege gefunden haben, sich von diesem Geld, an dessen Gegenwart er so hing, zu trennen. Vielleicht hatte er es, als er spürte, dass es zu Ende ging, allmählich fortgetragen und in den …kübel (?) geworfen. Vielleicht war es ihm doch noch unbemerkt gelungen, einiges davon zu verbrennen. Nichts davon fand sich nach seinem Tode (war da), aber damit nicht genug, er hatte bei dem Besuche seines Sohns, in aller Heimlichkeit, durchgesetzt, dass der Frau für den Fall seines Todes eine stark reduzierte Rente ausgesetzt wurde, die wohl für ihren Lebensunterhalt, aber keineswegs für Ersparnisse reichte. Er hatte verfügt, dass diese Rente nur so lange nachzuzahlen sei, als seine Witwe lebte. Mit ihrem Tod erlosch sie, für Veza war nicht gesorgt, seine späte Rache für den Kampf, den sie um die Lebensluft ihres Zimmers gegen ihn geführt und gewonnen hatte.“45

In der Fackel im Ohr wird Alkaley zu Mento Altaras und damit auf die rein anekdotisch-sarkastischen Elemente reduziert.

Rahel Calderon überlebt ihren dritten Mann nur um fünf Jahre und stirbt mit 70 Jahren am 13. Oktober 1934; drei Tage später, am 16. Oktober, findet die Beerdigung statt.46

37 Jahre haben Mutter und Tochter zusammen gewohnt, im letzten Jahr von Rahel Calderon wohnt auch Elias Canetti da. Mutter und Tochter müssen sich zeitlebens sehr nahegestanden sein, was verschiedene Quellen bezeugen, zum Beispiel schreibt Veza Canetti an ihren Schwager Georges Canetti in einem Brief vom 20. Dezember 1934: „Ich bin lebensmüde. Ja. Denn meine Mutter war wirklich gut und sie war mein guter Trottel, der sich von mir quälen liess und mich abgöttisch liebte. Jetzt bin ich ganz verlassen.“ (BaG 27)

Kurz vor ihrem eigenen Tod schreibt Veza Canetti am 2. März 1963: „Ich kann nicht nach Wien, so gern ich auch das Grab meiner Mutter besuchen würde, mein Herz ist schon einmal gebrochen, wie ich weg musste, noch einmal hält es das nicht aus.“47

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