Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 23

A3.2 Alice Asriel

Оглавление

Im Haus der Familie Asriel in der Heine-Strasse am Praterstern in unmittelbarer Nähe der Ferdinandstrasse lernte Elias Canetti bei seinem ersten dreijährigen Wienaufenthalt 1915 im Alter von zehn Jahren, selbst ebenfalls wohnhaft in der Leopoldstadt, Josef-Gall-Gasse 5, den fast gleichaltrigen Sohn Hans Asriel kennen. Laut den Lebenserinnerungen wird er dort im Jahr 1924 beim zweiten Wienaufenthalt der Familie Canetti zum ersten Mal den Namen Vezas hören.98 Viele Freundschaften von Veza und Elias Canetti haben ihren Ursprung im Hause der Asriels. Elias Canetti schreibt dazu in Die gerettete Zunge:

„Die interessanteste Freundin der Mutter war Alice Asriel, deren Familie aus Belgrad stammte. (…) Sie lebte in der Wiener Literatur der Periode, das universale Interesse der Mutter ging ihr ab. Sie sprach von Bahr und von Schnitzler, in leichter Art, ein wenig flatternd, nie insistent (…) Gespräche waren ihr Leben, Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten, am liebsten hörte sie zu (…).“99

Mit der Vorliebe von Alice Asriel einerseits für Hermann Bahr (1863–1934), einen der wichtigsten Literatur- und Kulturtheoretiker der Jahrhundertwende mit einer grossen Offenheit für neue Strömungen in Literatur und Kunst, und andererseits für Arthur Schnitzler (1861–1931), Arzt und Dichter mit einem Blick für die psychologischen Nuancen des gesellschaftlichen Geschehens, wird bereits ein Wiener Kosmos aufgefächert, der in der Zwischenkriegszeit an Bedeutung zunehmen wird. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass Elias Canetti bei seinen vielen Besuchen bei den Asriels mit den Kindern Literarisches Quartett gespielt hat.100 Über Alice Asriel schreibt Elias Canetti: „Sie hat in meinem Leben eine Rolle gespielt“101, und führt weiter nicht aus, was dies genau gewesen sein könnte. Eine kleine Randbemerkung in den Lebenserinnerungen Theodor Waldingers Zwischen Ottakring und Chicago offenbart Profunderes: „Einer meiner ersten Pariser Wege führte mich zu Alice Asriel, einer bemerkenswerten Frau, die mir aus Wien flüchtig bekannt war. Die Asriels waren Freunde von Veza Taubner.“102 Die Freundschaft der Familie Asriel mit Veza Taubner kann schon sehr früh entstanden sein, da Alice Asriels Schwester, Sarina Levy, bereits 1900 Vezas Onkel Jacques J. Calderon geheiratet hat. Zudem ist für Alice Asriel bezeugt, dass sie in Paris Mitte der 30er Jahre Sprachunterricht erteilt haben muss103, was sie zur Berufskollegin Veza Taubners macht.

Über eine quellengestützte Begegnung zwischen Elias Canetti und Veza Taubner in diesen ersten Wienjahren der Familie Canetti zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist äusserst wenig bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass es zu diesem Zeitpunkt seit langem mehr enge Kontakte zwischen den Familien Calderon und Canetti gegeben haben muss, als dokumentiert ist. Dies betrifft nicht nur die sehr nahen Wohnorte von Veza und Elias beziehungsweise die Nähe zu dem den Sepharden gemeinsamen türkisch-jüdischen Tempel, sondern insbesondere auch die Tatsache, dass Vezas Mutter Rahel Calderon und Mathilde Canetti ebenfalls mit Alice Asriel freundschaftlich verbunden waren.104

Ein kleines Schibboleth in den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gibt zudem einen Hinweis darauf, dass das dort so eindrücklich beschriebene Kindermädchen Fanny möglicherweise Veza Taubners Freundin gewesen sein könnte. Wie bei anderen Namensverschiebungen innerhalb des Familienkosmos auch muss Elias Canetti für die Freundin Veza Canettis hier zwei verschiedene Namen eingeführt haben, in einem Manuskript wird sie Fanny genannt werden, in einem anderen Manuskript wird die gleiche Person Lucile heissen: „Name von Vezas Freundin: B 1.3.: Lucile. A 6: Fanny“.105 Da Fanny in einer Arbeitsnotiz Elias Canettis in den Unpublizierten Lebenserinnerungen als Freundin Vezas auftaucht, aber dann als Figur mit Konnotat Freundin Vezas nirgends dargestellt wird – weder in den Publizierten noch Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis –, ist anzunehmen, dass Fanny106 tatsächlich das Kindermädchen von 1915 ist. In den Publizierten Lebenserinnerungen kündigt das Kindermädchen seine Stelle bei den Canettis mit der Begründung, der Bub schlafe schlecht. Mutter und Sohn hatten mit dramatisch inszenierten Lesungen am Abend und mit Elias’ dramatischen Parodien des Verhaltens des Kindermädchens das Fass zum Überlaufen gebracht.107

Zur ersten Fahrt mit Fanny – der mutmasslichen Freundin Vezas – in der Grottenbahn im Prater notiert Elias Canetti in Die gerettete Zunge: „Ich setzte mich eilig ins Gefährt, eng an sie gedrückt, damit auch für die Kleinen Platz sei.“108 Zuvor hatte ihm Fanny über das Maul der Hölle, das den Eingang der Grottenbahn verziert, erzählt, es hätte genug Platz in der Hölle, „um die ganze Stadt Wien und all ihre Menschen zu verschlingen.“109

Veza Canetti zwischen Leben und Werk

Подняться наверх