Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 37
C2.1 Sport versus Selbstmord
ОглавлениеVon den Felonen wird berichtet, dass ihre Interessen nicht nur auf Politik und Kultur fixiert waren, sondern sportliche Wettkämpfe und Bergwanderungen auf Ötscher und Rax sowie Badevergnügen an der Donau dazugehörten.246
Auch Veza Taubner muss sich oft auf der Raxalp erholt haben, immer dann, „wenn die Atmosphäre in der Wiener Wohnung so gespannt war“, dass Vezas Mutter um das seelische Gleichgewicht ihrer Tochter gefürchtet habe.247 Hier traf sie sich mit ihrer Freundin Lucile, wahrscheinlich das ehemalige Kindermädchen von Elias aus Die gerettete Zunge, wie ein kleiner Schibboleth in den Unpublizierten Lebenserinnerungen den Sachverhalt beweist. Lucile muss sich da von den Strapazen bei der Pflege ihres todkranken Ehemannes erholt haben, eines Philosophen, der sich mit den Segnungen des Todes auseinandergesetzt hatte. Noch mehr habe sich die Lucile aber mit Rainer Maria Rilke beschäftigt, der ihr Briefe geschrieben habe.248 Mit Lucile könnte die 1901 geborene Geigerin Lucie Wedekind-Simon gemeint sein, der Rainer Maria Rilke 1924 das Gedicht Musik gewidmet hat, das offenbart, wie man mit Musizieren die Toten erreichen kann. Lucie hatte jung die Schwester und Freundin verloren.
Folgender Satz aus einem Brief von Veza Taubner an Elias aus dem Jahre 1926/27 vom Knappenhof Raxalp muss ihn – auch 60 Jahre später aufs Neue – enorm beschäftigt haben, wie aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen hervorgeht: „Nichts macht auf mich nur annähernd solchen Eindruck als die Millionen uralte Tote aus welchen die Rax besteht. Sie machen mich erstarren und ziehen mich mächtig an.“249 In immer neuen Anläufen versucht Elias Canetti dieser Periode im Leben Veza Taubners in irgendeiner Form sprachlich gerecht zu werden. Vieles in dieser Auseinandersetzung erinnert an Rainer Maria Rilkes Aussage zu den Ideen des Kosmikers Alfred Schuler in einem Brief von 1915 „(…) von einer intuitiven Einsicht ins kalte kaiserliche Rom her, eine Welterklärung zu geben unternahm, welche die Toten als die eigentlich Seienden, das Toten-Reich als ein einziges unerhörtes Dasein, unsere Lebensfrist aber als eine Art Ausnahme davon darstellte: dies alles gestützt durch eine unermessliche Belesenheit …“250 Lakonisch schreibt Elias Canetti, er hätte darauf bestanden, dass Veza sich von Lucile zurückziehe: „Ich müsse wissen, was ihr wichtiger sei: der Tod oder ich. Sie verstand meine Forderung und nahm sie mir nicht übel. Sie entschied sich für mich. Vielleicht hatte sie sich eine Befreiung von Lucile gewünscht. Sie verzichtete aber nicht auf den Knappenhof und fuhr manchmal noch hin, ohne ihre Freundin dorthin einzuladen, aber auch ohne mich. Rilke starb acht Monate später, im Dezember.“251
Gut bekannt sind den Lesern von Elias Canettis Lebenserinnerungen die Bergferien. Mit Veza Taubner hat er in den Ferien täglich Homers Odyssee gelesen, in den Wanderferien mit Hans Asriel im Karwendelgebirge spielte das Schweigen eine grosse Rolle. Dass da auch mit anderen Mitgliedern der Felonen gewandert worden ist, scheint plausibel, hat aber keinen Niederschlag in literarischen Zeugnissen gefunden.
Zum Schwimmvergnügen in der Donau hingegen gibt es in Elias Canettis Unpublizierten Lebenserinnerungen eine Stelle, wo klar wird, dass Schwimmen nicht nur eine harmlose Betätigung gewesen sein musste. „Schon vorher, er war noch in Wien, war es zweimal zum Bruch zwischen uns (mit Hans Asriel, Anm. va) gekommen, äusserlich immer von ihm provoziert. Das erstemal bei einem Ausflug in der Wachau, wo er wortlos immer weiter in die Strömung der Donau hinausging – er wusste, dass ich nicht schwimmen konnte – und mir auf diese Weise schweigend mit Selbstmord drohte.“252 Ob Veza Taubner an den Schwimmvergnügungen teilgenommen hat, ist nicht bekannt. Eine Stelle in der autobiografisch konnotierten Erzählung Drei Viertel thematisiert ganz sarkastisch, wie der Erfolg als Schwimmerin und der Erfolg bei Männern nicht zwingend zusammenhängen müssen, wenn es sich beim Mann um einen Künstler handelt. Die schöne Britta äussert sich gegenüber Bent, dem Maler, folgendermassen: „Ich bin schrecklich froh, dass ich als schönste Schwimmerin den Preis bekommen habe, ich würd mich sonst nicht mit Ihnen im Trikot ins Boot traun, Maler sind so kritisch. Sie müssen durch Ihre Modelle schrecklich verwöhnt sein, da kann man nicht genug glänzen.“ (DF 70) Als Modell zieht der Maler Bent jedoch eindeutig das weniger Perfekte vor. Beispielsweise stellt er eines seiner liebsten Modelle, Anna, das Mädchen ohne Gesicht, so dar, „als hinge sie mit einer Schnur am Hals von der Decke herunter.“ (DF 65) Eifrig erklärt der Maler der enttäuschten Anna, dass ihr Gesicht nur so aussehe, weil ihr Porträt die erste Sonne des Jahres nicht ertrage. Der dargestellte Selbstmord hingegen scheint im Gegensatz zum fehlenden Gesicht kein Thema zu sein.
Dass indessen nicht nur Hans Asriel mit Selbstmord drohte, sondern explizit auch Elias Canetti – ob als Spiel oder nicht –, enthüllt eine Passage in Eduard März’ Abrechnung mit diesem in der Wiener Zeitung von 1987, wo er ein Ereignis in einem weiteren linken Freundeskreis, dem von Hans Schwarz, beschreibt: „Schwarz, ein ‚ewiger Student‘ aus sehr wohlhabendem Haus, enorm belesen und kultiviert, aber ein wenig naiv, hatte Canetti in vielleicht etwas spöttischer Art gefragt, was er denn als Schriftsteller bisher geschrieben habe. Canetti spielte daraufhin eine ‚grosse Szene‘. Er erklärte, er schreibe, um gegen schwerste seelische Störungen anzukämpfen, und sei in ständiger Versuchung, Selbstmord zu begehen. Um die Dramatik dieser Störungen zu illustrieren, zog er aus der Hosentasche eine Schnur und behauptete, sie stets bei sich zu tragen, um sich bei Bedarf daran aufzuknüpfen. Schwarz war tiefbetroffen und beschwor Canetti, doch diese Schnur wegzuwerfen; er stelle ihm seinen Papierkorb zur Verfügung. In gespielter Empörung wandte sich Canetti an Fritz Jerusalem, warum denn dieser als Arzt ihm noch nicht die Lösung mit dem Papierkorb angeboten habe. Dieser ging auf den Scherz ein und meinte, das wäre ja nur eine Symptombehandlung, und Gelegenheiten, Selbstmord zu begehen, gäbe es ja auch sonst genug – worauf sich Canetti in gespielter Verzweiflung an Schwarz wandte und ihn um einen besseren Rat fragte. So ging es noch eine Weile weiter, und die ganze Gesellschaft konnte bereits das Lachen kaum mehr zurückhalten. (…) Die Szene endete übrigens in einem Eklat, als der Verhöhnte endlich doch das Theaterspiel Canettis durchschaute.“253
Einiges in Bezug auf Selbstmord muss aber bei Elias und Veza Canetti gleichwohl im Schwange gewesen sein, wie ein Textausschnitt aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen zeigt: „Vorher, im ersten Grinzinger Jahr kam das Erscheinen der ‚Blendung‘, meine erste wirkliche ‚Öffentlichkeit‘ sozusagen und unmittelbar danach die schreckliche Enttäuschung über unsere materielle Lage, die eine verzweifelte war. Es kam zu Vezas ‚System‘: Sie fasste geheim den Plan, durch Selbstmord auf meine verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Während Wochen setzte sie Briefe auf an Leute wie Thomas Mann, aber auch an nahestehende Freunde und Bekannte, in denen sie erklärte, was sie vorhabe und darum bat, dass man mich schützen und für mich sorgen möge. Sie hatte einen kleinen blauen Koffer, in dem sie alle Entwürfe zu solchen Briefen beisammen hielt. Den Schlüssel dazu trug sie immer bei sich. Ein kleiner ovaler Stein lag unter den Papieren, er stand für sie, für das Türmchen, wie ich ihren Kopf nannte. An einem furchtbaren Tag kam das Ganze heraus, ich wurde misstrauisch und erbrach den Koffer und las das Ganze. Noch einige wenige Tage und sie hätte ihren Vorsatz ausgeführt. In ihrem kleinen Grinzinger Holzzimmer brach sie zusammen und gestand mir den ganzen Plan. In meinem tödlichen Entsetzen nahm ich sie in die Arme und wir weinten wie zwei Kinder.“254
Wenn man diese unpublizierte Passage von Elias Canetti in Beziehung setzt zu Eduard März’ Erinnerungen Der grosse Auftritt mit der Schnur, fällt auf, dass Selbstmord für Elias Canetti ein Spiel sein konnte, bei dem der Selbstmörder oder die Selbstmörderin als Spielfigur aufmerksam macht auf seine/ihre Situation, sie als Druckmittel für sein Umfeld verwendet. Dass hinter dieser Inszenierung des Selbstmorddarstellers weit mehr sein kann, beschreibt Veza Taubner in der 1933 veröffentlichten Erzählung Der Kanal. Einerseits wird das schlecht vermittelbare Dienstmädchen Emilie Jaksch von der Dienstbotenvermittlerin Hatvany direkt dazu aufgefordert, sich doch umzubringen; andererseits weiss die Emilie nicht recht, wie das gemeint sein könnte, muss indessen feststellen, dass es um nichts, das sie trägt, schade ist – die Jacke, die Tasche, alles alt. „‚Und was das Leben anlangt, das man wagt, so kann sich ein armes Mädchen es eben nicht leisten so weit zu denken‘“, so der Kommentar als Zitat aus dem Off. (GSt 114) Gezielt springt Emilie dann tatsächlich vor den Augen des Wachmannes ins Wasser. „Emilie stak im Wasser, hilflos, rettungslos, wehrlos, sie hielt die Hand nach oben und winkte, aber gleichzeitig war sie sich bewusst, dass kein Mensch sie sehen würde, dass kein Mensch sie jetzt beachtete, wo sie fast tot war, wenn man sie doch früher nicht beachtet hatte, da sie noch lebte.“ (GSt 114) Emilie wird durch den Wachmann gerettet und kommt wie andere Dienstmädchen, die einen Selbstmord verübt hatten, auch ins Dienstbotenheim. Der Wachmann stirbt an Verkühlung, der korrupten Hatvany wird die Dienstbotenvermittlung geschlossen, da sie Dienstmädchen in den Tod getrieben habe. Der Selbstmordversuch hat aber nicht nur negative Folgen, wie es wiederum ein Kommentar aus dem Off auf den Punkt bringt, dieses Mal nicht als Zitat: „Ja, so geht es zu. Wer das Leben wagt, bekommt Kost und Quartier, und wenn’s gut geht, auch noch einen Posten.“ (GSt 116)
Einen vollkommen anderen Verlauf nimmt das Sich-Umbringen beim Dichter in der erst posthum publizierten Erzählung Veza Canettis Die Flucht vor der Erde. Die Enttäuschung über die Partnerin, über die Solidarität unter Menschen und über die Gesellschaft als Ganzes bringt den Wissenschaftler und Erfinder dazu, sich unter dem Deckmantel der Erforschung des Weltraumes den Bau einer Rakete finanzieren zu lassen, mit der er sich sein geheimes Ziel erfüllen kann, „(…) jedem Wiederwerden auf ewig zu entrinnen.“ (DF 47) Der Bau dieser Maschine oder Rakete wird von der Erzählerin als „raffinierteste Form der Selbstvernichtung“ bezeichnet. Gleichzeitig kommentiert auch hier eine Stimme aus dem Off – gleichsam aus psychologisch ironisierender Perspektive: „Möchte mit Beendigung des fürchterlichen Meisterwerks auch sein Wahn zu Ende sein.“ (DF 47) Der sogenannt krankhafte Wahn, aus dem der Protagonist sich befreien möchte, ist die Empathie. Die Erzählerin kommentiert: „Dieser Unglückliche quälte sich nicht nur mit seinem eigenen Dasein ab, sein kranker Geist zwang ihn, sich in alle Daseinsformen vom kleinsten Meerestier bis zum Menschen hineinzuversetzen und alle Martern zu ertragen, die jedes einzelne Dasein zu gewärtigen hatte.“ (DF 45) Die Rakete als Mordinstrument wird gewählt, weil der Wissenschaftler – ohne Ziel frei ins Universum hinausgeschossen – die Möglichkeit erhält, nach seinem Tod nie mehr auf der Erde wiedergeboren zu werden. „Und so gewährte ihm auch der Gedanke an den Tod keinen Trost, weil er sich mit grausamer Logik erklärte, wie er nach seinem Tode immer wieder in einer Form auf Erden zu sein verdammt sein würde, obwohl das Dasein ihm verhasst war.“ (DF 45 f.) Ob der Wissenschaftler allenfalls Buddhist ist, ein Indiz dafür wäre seine Furcht vor der Wiedergeburt, erfährt der Leser nicht.