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C1. Die Asriels und Fredl Waldinger
ОглавлениеFredl (Alfred) Waldinger (1905–1991), mit dem Elias Canetti 1970 wiederum Kontakt sucht, vielleicht gerade auch, um sich etwas genauer der mehr als 50 Jahre zurückliegenden Zeit, die er autobiografisch zu bearbeiten gedachte, nähern zu können, gehörte ebenfalls zu den Freunden des Hauses Asriel.
Elias Canetti notiert in den Unpublizierten Lebenserinnerungen. „Bei Frau Asriel lernte ich Fredl Waldinger kennen, der mir für einige Jahre zu einem Gesprächspartner wurde, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann.“211
Wie Elias Canetti weiss auch Fredl Waldinger, wie er in einem Brief von 1977 schreibt, nicht mehr präzise, wie er ins Haus Asriel gekommen war, erzählt aber in einem Interview von 1970, dass seine Familie, die im Quartier Neubau wohnte, schon immer den sephardischen Tempel in der Leopoldstadt besucht habe, sein Vater sei sehr fromm gewesen.212
„Mir ist es aus dem Gedächtnis geschwunden, wie ich die Bekanntschaft von Alice Asriel gemacht habe, ich nehme jedoch an, durch ihren Sohn Hans, der sich eng an mich anschloss, offenbar meiner bedurfte, der Arme.“213
Später nach der Publikation von Die gerettete Zunge schreibt Fredl Waldinger an Elias Canetti, was dessen Autobiografie bei ihm ausgelöst habe: „Auch die Erzählungen von Deinem Grossvater haben starke Erinnerungen geweckt, und zwar an Alice Asriels Berichte über ihren Schwiegervater, der ja noch am Praterstern ein Haus wie ein mohammedanischer Gewaltherrscher geführt hat. In ihren Geschichten hat Asriel senior seine Söhne noch als Erwachsene mit dem Pantoffel geschlagen und die einzige Schwester, die spätere Frau Farchi, konnte sie von Strafen freibitten. Ganz wie in orientalischen Geschichten. Man könnte viel miteinander über diese Dinge sprechen. Schade dass wir so weit von einander leben.“214
Völlig anders ging es in der Familie von Fredl Waldinger selbst zu und her. Theodor Waldinger, der Bruder von Fredl, schreibt in Bezug auf die Vorfahrin Blume Waldinger, die Grossmutter väterlicherseits. „Grossmutter Blume war eine ‚Zadike‘, eine Gerechte. Wenn sie später zu uns nach Wien zu Besuch kam, um sich zu vergewissern, dass alles nach jüdischem Recht und Gesetz zuging, sahen ihre neugierigen Enkelkinder, wie sie aus ihrem Gepäck als allererstes ihr blütenweisses Totenkleid und ein Säckchen mit Erde aus ‚Erez Israel‘ nahm und es sorgfältig verstaute, denn, so sagte sie, man kann nie wissen, ob man nicht morgen schon ins Jenseits abberufen wird. In ihrem Herzen war Jerusalem, und dem Kommen des Messias sah sie mit unerschütterlicher Zuversicht entgegen.“215
Veza Canetti nun lässt in verschiedenen Texten aus den 30er Jahren bekanntlich Reflektorfiguren auftreten, die das Geschehen in den Erzählungen kommentieren, wie die Rote oder eben die Weiss. Das wichtigste Kriterium der Kommentare der Figur mit dem Namen Weiss ist die Gerechtigkeit. „Frau Weiss schritt energisch aus und sah sich gerecht nach allen Seiten um.“ (GSt 80) Dabei rekurriert die Weiss aber keineswegs explizit auf die Religion wie Grossmutter Blume, die Zadike, im Hause Waldinger, sondern auf einen Gerechtigkeitsbegriff, der eher aus dem Menschenrechts-Diskurs stammt.216 Kulturhistorisch spannend ist, dass im Drama Der Oger, das aus dem gleichnamigen Kapitel im Roman Die Gelbe Strasse heraus entwickelt wurde, der Doktor der Psychiatrie die Funktion des Gerechtigkeitsübens der Frau Weiss übernimmt, er bringt die Problematik folgendermassen auf den Punkt. „Es gibt Verbrecher, die im Gesetzbuch nicht vorgesehen sind.“ (O 94) Mit einer Kombination aus Psychologie und Recht gelingt es ihm, Draga vom Wahnsinn, in den sie von Iger getrieben wurde, zu heilen und ihr zu ihrem Recht, das heisst einer Scheidung, zu verhelfen. Der Psychologe und Arzt ist jedoch auch ein Erzähler, der heilt, wenn er erzählt: „Jetzt gehe ich hinein und erzähl meiner kleinen Patientin ein Märchen. Wenn sie dabei einschläft, ist sie geheilt. Der Schlaf heilt.“ (O 79) Gesunde Luft alleine genüge nicht, es sei die Atmosphäre, auf die es ankomme. (O 79)
Auch Elias Canetti selbst ortet im Kosmos des Hauses Asriel viel Wichtiges für sein späteres Leben. Er schreibt dazu 1977 einen Text, den er im zweiten Teil der Lebenserinnerungen zu publizieren gedenkt, in dieser Form dann aber wieder verworfen haben muss: „Dieser Beginn der 2. Wiener Periode ist sehr reich. Die ersten anderthalb Jahre vom Frühjahr 1924 bis zum Herbst 1925 enthielten alles Spätere: Den Beginn des Buches über die Masse, die Begegnung mit Veza, die Begegnung mit Karl Kraus.
Im Grunde findet sich das meiste schon in der Wiederbegegnung mit den Asriels (so ausgezeichnet auch im Transkript, Anm. va) beisammen.
Sie wohnten in der Heinestrasse gleich beim Praterstern. Alice lebte nun schon seit langem ohne ihren Mann. Er war mit dem Dienstmädchen zusammengezogen, sie betrieben ein Fahrradgeschäft in der Wiedner Hauptstrasse. Alice hatte ihre drei Kinder bei sich, Walter, der zurückgeblieben war, Hans, etwa ein Jahr jünger als ich, und Wunni, die Jüngste.
Hans, nicht mehr so hübsch wie als Kind, war noch viel schmaler geworden. Er hatte alles in sich aufgenommen, wovon ein junger Mensch in Wien damals hören konnte. Seine Mutter war immer von jungen Intellektuellen umgeben, Hans hatte denselben Anspruch auf Besserwissen, der uns als Kinder zum Wetteifer angespornt hatte. Es ging nun schon um geistige Dinge, trotzdem war unsere Haltung scheinbar genau die gleiche geblieben. Im Anfang hatte er ein leichtes Spiel, er nannte Namen, von denen ich nie etwas gehört hatte: wie Weininger, wie Karl Kraus. Als ich das erstemal aus seinem und seiner Mutter Munde zugleich den Namen Karl Kraus hörte, war ich sicher, dass es sich um etwas Lokales und völlig Unwichtiges handeln müsse. Der Name war mir nicht nur unbekannt, er klang mir nach nichts, selten ist mir ein Name so unbedeutend erschienen. ‚Kraus‘ war in Wien sehr häufig und ‚Karl‘ natürlich noch häufiger. Zusammen waren sie wie aus einer Schulzeitung. Man erzählte mir begeistert von den Vorlesungen, deren keine von den Asriels je versäumt wurde. Es sei so voll, dass man oft keinen Platz bekomme. Sogar wenn Kraus im grossen Konzerthaussaal lese, was natürlich seltener der Fall war, war es ganz voll, aber sie würden schon dafür sorgen, dass ich auch eine Karte bekäme. Sie redeten mir sehr zu, ich wehrte mich, ich wollte es noch verschieben. Diesmal galt die Abwehr nicht nur dem Anspruche von Hans, der seine momentane Überlegenheit auch von Karl Kraus herleitete, sondern sie war auch gegen den unsäglich banalen Namen gerichtet.“217