Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 28
B2. Universitätsbibliothek
ОглавлениеEin bevorzugter Arbeits- und Studierort Veza Taubners muss die Universitätsbibliothek Wien gewesen sein, wie Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen notiert: „Auf der Universitätsbibliothek, wohin sie oft lesen ging (…)“148. Elias Canetti weiss gleichwohl nicht genau, was sie dort alles gelesen hat: „Was sie aber auf der Universitätsbibliothek trieb, war ihr Geheimnis.“149 Erst in den Aufzeichnungen im Jahre 1970 notiert Elias Canetti, dem das konkrete Ausmass ihres Lesemarathons erst jetzt richtig bewusst zu werden scheint: „Die ‚Wahlverwandtschaften‘, die ich jetzt gelesen habe, gehören zu Vezas Büchern. Sie hat mir viele der grössten Bücher der Weltliteratur hinterlassen, die ich zu ihren Lebzeiten bloss darum nicht lesen konnte, weil sie immer von ihnen sprach. Es war wie eine Teilung unserer Gebiete: Sie sprach zu mir immer von ihren Romanen und Memoiren, ich erzählte ihr von Menschen und den ganz anderen Dingen, die ich las. Wenn ich jetzt ihre grossen Bücher lese, tue ich es mit Ehrfurcht und Staunen: Es war wirklich nur das Beste, das sie wieder und wieder las.“150
Drei Jahre später, 1973, äussert sich Elias Canetti ein weiteres Mal und diesmal präziser zum Lesen und der literarischen Bildung Veza Taubners zu Beginn ihrer Beziehung Mitte 20er Jahre: „Veza war mehrere Jahre älter als ich und viel reifer, von einer erstaunlichen literarischen Bildung, sie kannte nur das beste und las es immer wieder. Ich neigte anfangs dazu, sie als preziöse Ridikule zu sehen, weil sie nur in geistigen Dingen lebte und mit einem hinreissenden Überschwang darüber sprach. Ich empfand sie als ‚Ästhetin‘, in meinen Augen das grösste Schimpfwort. Dann stellte sich heraus, dass sie Aristophanes, Spinoza, Plato, Goethe, Hebbels Tagebücher und sogar, Wunder über Wunder, Lenins ‚Staat und Revolution‘ gelesen hatte. Ich strich beschämt die Segel und anerkannte ihre Überlegenheit. Englisch war ihr besonderes Gebiet. Shakespeare konnte sie halb auswendig. Sie liebte Stifter, gegen den ich mich sehr wehrte, und gab mir, um mich für ihn zu gewinnen, als erstes den Abdias. Sie liebte Stifters Freund Heine. Sie war wie ich von Karl Kraus gefangen, wir gingen zusammen in seine Vorlesungen, und las, im Gegensatz zu mir, der ich sehr fanatisch war, ruhig ihren Heine weiter.“151
Die Universitätsbibliothek Wien ist natürlich höchst interessant bezüglich des Netzwerkes von Veza Canetti. Leider gibt es aber nur indirekte Hinweise auf ein solches. Es lässt sich, beispielsweise was Viktor Kraft, Bibliothekar (Ausbildung und Gewerkschaft) und wissenschaftlicher Beamter der Universitätsbibliothek Wien, anbelangt, kein direkter Kontakt zu Veza Taubner nachweisen, weder im Nachlass von Elias und Veza Canetti noch im Nachlass von Viktor Kraft.152 Von Hermann Broch, einem Freund Veza Canettis, ist hingegen bekannt, dass er bei Viktor Kraft an der Universität Wien Vorlesungen besucht hat.153 Viktor Kraft war Mitglied des Wiener Kreises und wie viele andere Mitglieder auch in der Volksbildung tätig, zum Beispiel hat er in der Urania 1932/33 den Vortrag „Grundfragen moderner Weltanschauung“154 gehalten. Die an der Aspernbrücke – der Hauptverbindung zwischen Leopoldstadt und Innerer Stadt – gelegene Urania hatte sich ursprünglich an den dänischen Volkshochschulen orientiert und war bekannt dafür, dass sie in der Ersten Republik Volksbildung mit den modernsten Mitteln – wie Lichtbildvorträge und Film – betrieben hat.155 Viktor Kraft gehörte innerhalb des Wiener Kreises zum Schlick-Zirkel. Bei Viktor Kraft, der nach dem Zweiten Weltkrieg Generalstaatsbibliothekar wurde und 1947 Professor der Philosophie und Wissenschaftstheorie, hat Ingeborg Bachmann 1949 ihre Doktorarbeit geschrieben.156 Veza und Elias Canetti muss Ingeborg Bachmann schon 1951/52 mehrere Male in London besucht haben.157 Ob dieser Kontakt auf Viktor Kraft zurückgeht oder allenfalls auf
Ernst Schönwiese, einen alten Bekannten der Canettis aus der Volkshochschule Leopoldstadt, dem nachmaligen Chef Ingeborg Bachmanns beim Sender Rot-Weiss-Rot, ist nicht mehr festzustellen.