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B1. Englisch an der Universität Wien

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Eine kleine Sensation für die Forschung um Veza Canetti bildet das Zeugnis der Universität Wien für Venetiana Taubner im Nachlass von Elias Canetti.136 Hier werden „Fräulein Venetiana TAUBNER (…) gute Sprachkenntnisse“ in Englisch attestiert, „die sie befähigen, auch nicht ganz leichte Texte zu erfassen und sich mündlich und schriftlich ziemlich gewandt auszudrücken. Ihre Aussprache ist gut.“137 Nach Auskunft der Universität Wien war die „Ablegung dieser Sprachprüfungen“ nicht „an einen vorhergehenden Unterricht an der Universität gebunden, das Zeugnis erhält durch die Anwesenheit und Unterzeichnung des Dekans einen öffentlich beglaubigten Charakter.“138

Leider ist weder vonseiten Veza Canettis noch von Elias Canetti etwas über diese Prüfung und deren Vorbereitung bekannt. Die Universität Wien bestätigt, dass Veza Taubner „weder immatrikuliert gewesen sei noch als ordentliche oder ausserordentliche Hörerin für Lehrveranstaltungen an der Philosophischen Fakultät, an der die Sprachprüfungen abgelegt wurden, inskribiert“139 gewesen war. Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass Veza Taubner mit hoher Wahrscheinlichkeit eher ein Mädchenlyzeum besucht hat, das sie dann nicht zu einem Vollstudium berechtigt hat.

Das Zeugnis für Venetiana Taubner hat an der Universität Wien vonseiten des Englischen Seminars der „Prüfer (Professor)“ Karl Luick unterschrieben. Karl Luick hatte sich als neuer Professor für Englisch gegen seinen Konkurrenten Leon Kellner, den grossen Shakespeare-Kenner, durchgesetzt, der aus antisemitischen Gründen nicht gewählt worden war. Leon Kellner hatte bis zum Zusammenbruch der Donaumonarchie einen Lehrstuhl für Englisch in Czernowitz innegehabt.

Aufschlussreich ist, dass es im Leben Veza Canettis mehr Berührungspunkte mit Leon Kellner, dem abgewiesenen Kandidaten für die Professur in Englisch an der Universität Wien, gibt als mit Karl Luick.

Veza Taubner könnte nämlich tatsächlich schon in ihrer Lyzeumszeit mit Lehr- und Wörterbüchern Leon Kellners – der in diesem Bereich ein ausserordentlich grosses Renommee genossen hat, wie unter anderem seine Publikationsliste noch heute zeigt – in Kontakt gekommen sein, beispielsweise mit dem Lehrbuch der englischen Sprache für Mädchenlyzeen. Leon Kellner hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg viel in England aufgehalten und dort Forschung betrieben. Leon Kellners Ehefrau Anna, geborene Weiss, war als Übersetzerin aus dem Englischen tätig, wie auch deren Tochter Dora Sophie, die spätere Ehefrau von Walter Benjamin. Leon Kellner engagierte sich als einer der Ersten in der Volksbildung und hat, wie aus seiner Biografie bekannt ist, während seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor Weiterbildungsstätten für Juden in Czernowitz (nach dem Vorbild der englischen Toynbee-Hall) gegründet.140 Englandaufenthalte, Übersetzungen aus dem Englischen und Volksbildung sind Begriffe die auch – wie zu sehen sein wird – im Leben von Veza Taubner eine grosse Rolle spielen. Ganz abgesehen davon, dass Veza Taubner den kompletten Shakespeare „halb auswendig“141 gekonnt habe, wie Elias Canetti notiert.

Interessant ist zudem der Fakt, dass nach dem Tod von Leon Kellner dessen Ehefrau Anna Kellner 1930 den Band Meine Schüler aus der Feder ihres Mannes im Zsolnay-Verlag herausgibt. Darin beschreibt Leon Kellner, wie er mit einer durch und durch besonderen Form von Gerechtigkeit üben viel zur Entwicklung seiner Schüler beitragen kann.142 Genau diesen Schritt vom Lehrer, der Gerechtigkeit übt, zum Dichter, der über dieses Gerechtigkeit-Üben schreibt, macht der Lehrer Gustl in der Erzählung Der Dichter von Veza Magd mit Erstpublikation in der Wiener Arbeiter-Zeitung im Jahre 1933. Der Band Meine Schüler von Leon Kellner greift exemplarisch Geschichten und Erfahrungen rund um den Lernerfolg seiner Schüler auf, die Leon Kellner bekanntermassen vor seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor, als Professor an einem Realgymnasium in Wien, gemacht hatte. Leon Kellner hat zudem als Fremdsprachenkorrespondent der Präsidentschaftskanzlei in Wien gearbeitet, wie auch mehr als 100 Gutachten143 für den Zsolnay-Verlag erstellt. Für den Zsolnay-Verlag hat Veza Taubner unter dem Namen Dr. Richard Hoffmann vor dem Zweiten Weltkrieg mindestens ein Buch aus dem Englischen übersetzt. Eventuell hat Veza Taubner bereits in Wien überdies als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet, dafür gibt es bis jetzt keine direkten Beweise. Von Veza Canetti ist indessen bekannt, dass sie in der ersten Zeit im Exil in England Arbeit als Korrespondentin gesucht hat. Veza Canetti hat sich aber auch literarisch mit dem Milieu der Korrespondentin auseinandergesetzt. In der Erzählung Drei Viertel arbeitet Anna – das Mädchen ohne Gesicht – in einer Kanzlei und in der Erzählung Pastora übernimmt die Magd Pastora für ihren Geliebten Kanzleiarbeiten.

Der Hund des verstorbenen Sprachforschers in der Erzählung Ein Kind rollt Gold trägt den Namen eines anderen grossen, allerdings deutschen Sprachforschers, nämlich Grimm. Der Hund Grimm erhält nach dem Tod seines Herren im Hause der Bedienerin Adenberger sein Gnadenbrot, wo er die Verhaltensregeln einer solidarischen Gesellschaft schneller lernt als die Erwachsenen. So beschützt er den Goldfund des Kindes Hedi sehr wirkungsvoll. Ob Grimm etwas mit dem Sprachwissenschaftler Leon Kellner zu tun hat, bleibt offen.

Da Veza Taubner mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne offizielle Einschreibung Vorlesungen in englischer Sprache an der Universität besucht hatte, lohnt sich ein Blick auf die Verhältnisse an der Universität Wien vor ihrer Englischprüfung am 14. März 1918. Ein aufschlussreicher Kurzbeschrieb der Verhältnisse an der Universität Wien während des Ersten Weltkrieges findet sich in den Lebenserinnerungen von Käthe Leichter-Pick: „Ein seltsamer Körper war diese Universität im Krieg. Geblieben waren die alten Professoren. Die jüngeren, die Dozenten namentlich, waren eingerückt. Die Hörer aber waren vorwiegend Frauen. Was an männlichen Hörern da war, war dienstuntauglich, aus besonderen Gründen enthoben, oder es waren Urlauber, die nach wenigen Vorlesungen ein Kriegsexamen machten. Es gab wohl auch welche, die bei irgendwelchen Kriegsämtern in Wien beschäftigt waren und nebenbei studierten. (…) Sicherlich war gerade in den weiblichen Hörern, die sich das Studium zumeist mit grösseren Mühen erkämpft hatten, die schon wegen der so viel schwierigeren Gymnasialmatura eine gewisse geistige Auslese darstellten, denen auch vom Elternhaus noch öfter Schwierigkeiten gemacht wurden ein starker und ehrlicher Drang zur Wissenschaft.“144

Käthe Pick, spätere Leichter, wird 1918 in Heidelberg bei Max Weber promovieren, da in Wien für eine Frau die Promotion in Sozialwissenschaften noch nicht möglich war. Käthe Leichter und Veza Canetti verbindet, dass sie die gleiche Thematik – Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen – mit unterschiedlichen Mitteln untersucht haben, die eine als Wissenschaftlerin, die andere als Schriftstellerin.145 Ebenso haben beide in der Arbeiter-Zeitung publiziert, oft zeitnah zum gleichen Thema. Ein direkter Kontakt der beiden Frauen kann jedoch bis anhin nicht belegt werden, dafür verschiedene gemeinsame Bekannte. Auch Käthe Picks späterer Ehemann Otto Leichter schliesst 1920 sein Studium an der Universität Wien ab. Die beiden Leichters haben ähnliche Jahrgänge wie Veza Taubner (1895 und 1897) und sind ebenfalls in Wien geboren und aufgewachsen. Otto Leichter ist zudem von 1925 bis 1934 Redakteur der Arbeiter-Zeitung.

Spannend bezüglich Veza Taubner ist zudem der Doktorvater von Käthe Leichter-Pick, nämlich Max Weber. Hatte dieser doch an der Universität Wien 1917 seine Lehrtätigkeit aufgenommen, die aber nur ein Jahr dauern sollte. Bemerkenswerterweise findet Veza Taubners Englisch-Prüfung im Frühling 1918 präzise in dem Jahr statt, als Max Weber an der Universität Wien dozierte. Die stark frequentierten Vorlesungen des damals schon recht berühmten Sozialwissenschaftlers und Nationalökonomen können ihr kaum entgangen sein. Die Ehefrau von Max Weber, Marianne Weber, schreibt in Max Weber. Ein Lebensbild von den ausserordentlich gut besuchten Vorlesungen und Kollegs ihres Mannes in Wien. „Er redete über das religions-soziologische Thema meist 2,5 Stunden hintereinander, bis es dunkelt in dem schönen getäfelten Raum. (…) Die Gedankenführung erreicht fast jedesmal einen Punkt, von dem aus das Entfernte plötzlich ein neues Licht wirft auf die allen vertrauten Gegenwartsprobleme. So etwa, wenn er darstellt, durch welche religiösen Vorstellungen das indische Kastenwesen die antirevolutionäre Gesinnung erzeugt, und dann die entgegensetzten Glaubenshintergründe des modernen europäischen Sozialismus danebenstellt.“146 Genau diese Gedankenführung vom weit Entfernten zu den Problemen der Gegenwart greift Veza Canetti im Roman Die Schildkröten, der im Jahr 1938 spielt, auf, das heisst: „Die Linie vom altindischen Glückssymbol, nämlich der Swastika, zur christlichen Symbolik, dem Kruzifix mit dem blutenden Jesu, und weiter zu den mit rotem Blut gefärbten Fahnen des Sozialismus, bis zum faschistischen Hakenkreuz der Nazis (…) in permanenter Revolution drängt sich die Farbe der altindischen Swastika, nämlich das Rot, das auch die Symbolfarbe der Sozialisten ist, immer wieder über das faschistische Emblem, bis sich das Rot als das Blut Jesu am Kreuz offenbart.“147 Verpackt ist diese Beleuchtung des Weges vom Entfernten zum Gegenwartsproblem in eine anekdotische Erzählung um die Fahne eines Weinbauern (Sch 10), die nicht nur diesem, sondern gerade auch den Nazis viel Ärger bereitet.

Veza Canetti zwischen Leben und Werk

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