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C3. Die Asriels und die Mahler-Kreise

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In den Briefen Fredl Waldingers, des bekennenden Buddhisten aus dem Kreis der Felonen, die sich im Nachlass Elias Canettis erhalten haben, ist nie direkt die Rede von Veza Canetti. Das Thema scheint irgendwie tabu zu sein. Eine Ausnahme bildet Fredl Waldingers Bemerkung, dass er von Veza her noch wisse, dass er, Elias Canetti, nur ungern Privatbriefe schreibe. Eine möglicherweise indirekte Kritik an der Tatsache, dass Veza Canetti in den Publizierten Lebenserinnerungen wenig Raum einnimmt, ist aus folgender Passage aus einem Brief von 1984 aber herauszuhören: „Ich habe verstanden, warum Du in Deinen geschriebenen Erinnerungen nichts über Fritz Jerusalem geschrieben hast und auch keinen Versuch gemacht hast die Geschichte der Familie Asriel zu beginnen, aber es wundert mich, dass Du die Schwester von Alice, Tony Wely (früher natürlich Levy) die Du gewiss in ihrem Hause trafst und auch anderswo, in Coffeehäusern z. B. wo wir uns nach Chorproben und Concerten trafen und über Musik u. a. disputierten, nicht erwähnst. Sie verdient es erinnert zu werden. Sie war trotz ihrem Klumpfuss eine interessante, irgendwie an Veza erinnernde Schönheit, ein spanisches Gesicht mit einer etwas grossen jüdischen Habsburgernase. Soweit ich wusste, hat sie bevor ein Unfall ihr den Klumpfuss einbrachte, schon am Burgtheater gespielt und wurde, vielleicht durch ihn, in einem primitiven aber echten starken Sinn christlich fromm. Sie hat uns, Alice, Hans und mich, in den philharmonischen Chor Bruno Walters eingeschrieben; sie selbst war dort, weil sie gut singen konnte im Madrigalchor. Ich weiss nicht ob Du auch dabei warst bin aber sicher, dass Du an den Gesprächen über Musik und dortige Erfahrungen Anteil genommen hast. Ich bin dieser Tony Wely noch jetzt dankbar, weil sie in der Hitlerzeit meinen zwei älteren Schwägerinnen in Manchester Arbeit verschafft hat. Sie lebte dort mit einer anderen Schwester von Alice, Sarina Calderon. Wir sangen jedes Jahr in der Matthäuspassion und immer in Mahlersymphonien, Walter war ja sein naher Freund.“273

Tony Wely/Levy oder Wally Levy/Loew scheint auffallend vieles mit Veza Canetti gemeinsam zu haben: Sie ist trotz Behinderung eine Schönheit, sie bewegt sich beruflich und privat im musischen Bereich – Schauspielerei und Musik – und sie diskutiert gerne darüber in Kaffeehäusern. Zudem ist sie wie Veza Taubner direkt sozial engagiert. Tony Wely/Wally Levy erinnert entfernt an Mary K. in Heimito von Doderers Strudlhofstiege, was durchaus in Betracht kommt, weil Heimito von Doderer zum Bekanntenkreis der Canettis gehört, wie ein Eintrag Elias Canettis in den Aufzeichnungen von 1957 sichtbar macht: „Doderer war bei mir zu Besuch und wollte Näheres über die Gedankengänge von ‚Masse und Macht‘ hören.“274

Spannend ist auch die Erwähnung Fredl Waldingers, dass die Tony Wely im Exil in Manchester mit ihrer Schwester Sarina Calderon, der Ehefrau von Veza Canettis Onkel Jaques, zusammengelebt haben soll. Aus der Quelle Theodor Waldinger ist zudem bekannt, dass Sarina Calderon, die „reiche Schwester“, noch vor dem Zweiten Weltkrieg ihre arme Schwester Alice Asriel und Familie in Paris unterstützt haben muss.275

Mit Fredl Waldingers Erwähnung der Bekanntschaft Tony Levys mit Bruno Walter276, dem Assistenten Gustav Mahlers und Nachfolger als Kapellmeister an der Wiener Hofoper, und dessen Engagement für das Werk von Gustav Mahler über dessen Tod hinaus wird ein weiterer Kreis von Menschen an das Haus Asriel herangerückt, nämlich die Kreise um Alma Mahler, die Witwe von Gustav Mahler. Bis anhin ging man in der literaturwissenschaftlichen Forschung davon aus, dass sich die Mahler-Kreise für die Canettis erst mit deren Freundschaft zu Anna Mahler anfangs der 30er Jahre erschlossen hatten. Mit dem sehr frühen Kontakt zu den Mahler-Kreisen im Zusammenhang mit den Asriels lassen sich verschiedene Lücken in der Biografie Veza Canettis, aber auch der von Elias Canetti provisorisch schliessen. Fredl Waldingers Einschätzung bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt, wenn er schreibt: Ich weiss nicht ob Du auch dabei warst (im Bruno-Walter-Chor, Anm. va) bin aber sicher, dass Du an den Gesprächen über Musik und dortige Erfahrungen Anteil genommen hast.

Dieser Eindruck wird auch verstärkt durch die von Sven Hanuschek entdeckte frühe Bekanntschaft – eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis – zwischen Elias Canetti und Franz Werfel, der ab 1918 mit Alma Mahler liiert war: „Und er muss sehr früh schon Franz Werfel kennengelernt haben, lange vor der Verbindung mit seiner Stieftochter Anna Mahler; Canetti scheint von Anfang an mit ihm im Dissens gelebt haben. In den frühen Entwürfen findet sich eine ästhetische Debatte mit Werfel, der ihm ‚Dialog-Übungen‘ empfohlen hatte: ‚Dialogübungen, mein Freund! Deine Sprache ist ein immerwährender Monolog! Monologe sind so langweilig wie Predigten, weil sie sich faktisch doch immer an den zweiten richten, der hört oder liest.‘ Und Werfel muss ihm die Devise vorgeschlagen haben: ‚Lächeln – Ahnen – Schreiben!‘ Canettis Gegenvorschlag lautet: ‚Grüssen – Spucken – Glotzen, das sind wir, nicht obiges, verdammter überschwänglicher Priesterschmock Werfel.‘“277 Dieser Disput muss deutlich vor dem Jahr 1928 stattgefunden haben.

Möglicherweise ist diese Bekanntschaft aber auch über die Übersetzertätigkeit Veza Taubners bei Dr. Richard Hoffmann, der in erster Linie für den Zsolnay-Verlag tätig war, zustande gekommen. Als erstes Buch des neu gegründeten Paul-Zsolnay-Verlags war Franz Werfels Künstlerroman Verdi ein Grosserfolg. Die 60‘000 verkauften Exemplare verhalfen dem Verlag zu einem ausgezeichneten Start in die Verlagstätigkeit. Verdi ist der erste Roman Franz Werfels, der zuvor als Lektor gearbeitet hatte und mit Gedichten hervorgetreten war; befreundet mit Ernst Polak, dem ehemaligen Mitschüler aus Prag, war er viel in Wiens Kaffeehäusern unterwegs. Das erst posthum veröffentlichte Theaterstück Veza Canettis Der Tiger ist mit dem Untertitel Ein Lustspiel im Alten Wien dezidiert in der alten Donaumonarchie angesiedelt. Die verarmte Pianistin Andrea Sandoval und ihre Tochter Diana, eine Bildhauerin, stehen im Zentrum des Geschehens; als Salon im alten Stil präsentiert sich die Wohnung der Pasta, einer Opernsängerin, hier treffen sich Künstler und Künstlerinnen, Dichter, Musiker, ein Kafetier und Agenten. Musik spielt in diesem Salon eine grosse Rolle, als Diskursform unter anderen.278

Wie Veza Canetti im Spanischen Korpus mit den Erzählungen Pastora und Der Seher wird sich Franz Werfel während der Zeit des austrofaschistischen Ständestaates mit archaischeren Themen auseinandersetzen. Während die ehemalige Magd Pastora am feudalen System, das bis in die kleinste Liebesbeziehung eingreift, scheitert und ins Kloster geht, um da gegen Entgelt ihren Lebensabend ohne den Geliebten Don Anibal zu verbringen, versucht die Magd Teta Linek in Franz Werfels Roman Der veruntreute Himmel279 mit der entbehrungsreichen Unterstützung des Priesterstudiums des eigenen Neffen Mojmir, sich einen besonders schönen Platz im Himmel zu sichern. Als ihr bereits klar ist, dass der Neffe ihres hohen Einsatzes nicht wert ist und ihr Geld veruntreut hat, überrascht Teta Linek auf der Pilgerfahrt – mit der Gruppe Tätige Mitglieder des Vereins Katholischer Jungfrauen – ein junger Kaplan mit Namen Johannes Seydel mit sehr solidarischem Verhalten und roten Nelken für ihre Vase.280 Während die Nelken Teta Lineks Gesicht rot leuchten lassen, schmücken die Nelken Pastoras in Veza Canettis gleichnamiger Erzählung den Zopf auf ihrem Rücken, während Schulter und die „Linien des Halses“ ein weisses Kreuz bilden, wie der Geliebte Don Anibal lachend vermerkt. (DF170) Während Teta Linek gemeinsam mit Johannes Seydel quasi als Höhepunkt ihres Lebens die Madonna von Bellini betrachtet – „Sehen sie nur liebes Fräulein Linek, diese dort, das ist wirklich die Jungfrau, die unberührte und unberührbare. Solche Hände, so fein, so lang, so spitzfingerig, so durchsichtig, die hat heute keine Lady, keine Gräfin, keine Fürstin, deshalb können solche Hände auch nicht mehr gemalt werden.“281 –, bezeichnet der Geliebte Pastoras, Don Anibal, mit lachendem Blick auf Pastora Madonnen als das Schönste an der Kirche. (DF 156)

Veza Canetti zwischen Leben und Werk

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