Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 25
ZWISCHEN: Der linke Unterarm – ein Tabu?
ОглавлениеAn der Schnittstelle vom Familienkosmos, in dem Veza Canetti aufgewachsen ist, und den nachfolgenden Netzwerken, in denen sich die Dichterin bewegt hat, drängt sich die Konstante einer Thematik besonders auf – nämlich die des fehlenden linken Unterarms der Dichterin. Ein Tabu, wie mehrfach gezeigt werden kann. Dieses Tabu kann als Metapher für den ebenfalls nicht thematisierten Hiatus, der sich zwischen dem Leben und dem Werk von Veza Canetti öffnet, angesehen werden.
Nichts ist bekannt darüber, wie Veza Canetti mit dem fehlenden linken Unterarm als Kind klargekommen ist, wie ihr Umfeld darauf reagiert hat, welche besonderen Therapien nötig waren und so weiter. Allenfalls diente der Tanzunterricht bei Grete Wiesenthal dazu, trotz des fehlenden Unterarms zu einer guten, ausgeglichenen Körperhaltung zu kommen. Da man aber auch sonst sehr wenig Informationen zur Kindheit Veza Canettis hat, fällt das Manko an Information in diesem Bereich nicht einmal besonders auf. Einzig ein Nebensatz Veza Canettis in den Briefen an Georges aus dem Jahr 1945 lässt aufhorchen. Veza Canetti schreibt an Georges am 6. Juni 1945: „Da ich selbst in meinem Leben ein Dutzend Operationen durchgemacht hab, bin ich nicht besorgt, aber ich hoff doch Edith schickt ein Telegramm.“ (BaG 125) Die Passage „ein Dutzend Operationen“ weist allenfalls darauf hin, dass Veza Canetti nicht nur mit einem fehlenden Arm geboren wurde, wie bis anhin hauptsächlich angenommen wurde. Mit dem Hinweis auf „ein Dutzend Operationen“ gerät überdies die Theorie wieder in den Blick, dass Veza Canetti der Arm gar als Folge eines Unfalls amputiert worden sein könnte.
In den Notizen Elias Canettis aus dem Jahre 1930 gibt es eine unfertige Erzählung mit dem Titel Die Diebin. Darin wird ein junges Mädchen beschrieben, das sein äusserst hässliches Gesicht durch einen Schönheitskünstler verändern lassen will, damit es von seinen Mitmenschen und vor allem den Kameraden nicht mehr verspottet, nicht mehr Krüppel genannt werden kann. Das Kind bettelt und stiehlt sich das Geld zusammen für die sehr teure Gummiunterlage, mit der der Schönheitskünstler die unschönen, nach innen gewachsenen Lippen unterfüttern kann. Das Geld versteckt die Diebin in einer rostigen Büchse hinter dem schönen Madonnenbild, das in der Wohnung der Eltern vor dem Altar hängt.
„Die Diebin
‚Nicht wahr, ich bin hässlich!‘ Sie sah ihn fragend an. Sie wusste, was sein Blick zu bedeuten hatte. Jedermann war über ihre Hässlichkeit betroffen; empfindlichere Leute erschraken sogar heftig, weil sie statt der Wangen zwei tiefe Höhlen, verkehrte, nämlich nach oben geschwungene Brauen, eine ungeheuerliche, entzweigespaltene Stirn und überhaupt keine Lippen besass. Früher, als kleines Mädchen, hatte sie lange Stunden vor dem Spiegel verbracht und durch die unmöglichsten Verzerrungen ihre Lippen, die infolge eines Geburtsfehlers nach innen gewachsen waren, hinauszustülpen gesucht. Mit sechzehn Jahren war sie zu einem Schönheitskünstler gegangen und bat ihn um eine Einlage aus Gummi. Er hatte sofort eine zur Hand, streichelte ihr den sonderbar geformten Kopf und nannte einen ungeheuren Preis. ‚Tragen Sie das die ganze Nacht und so viele Stunden am Tag, als Sie nur können. In einem Monat haben Sie die schönsten Lippen, garantiert.‘ ‚Aber woher soll ich denn so viel Geld nehmen?‘ rief sie verzweifelt. ‚Sie werden doch irgendeinen guten Onkel haben oder eine liebe Tante. Sehr schön bitten, die rücken schon heraus, wenns um dem Nichterl sein Zuckergschorl geht.‘ – ‚Ja, ich werd’s versuchen‘, sagte sie kleinlaut und rannte mit Tränen in den Augen fort.
Sie ging zu keiner Tante und keinem Onkel, sondern stahl mit grösster Vorsicht kleine Summen aus der Börse der Mutter, die nicht ganz so genau war wie der Vater und sparte das Geld in einer alten verrosteten Büchse, die neben anderem Gerümpel in der Nische hinterm Madonnenbild stand. Früher war das ein kleiner Hausaltar gewesen; dann hatte der Vater, ein Herrenschneider, von einem Maler an Zahlungsstatt ein schönes Madonnenbild bekommen; dieses wurde der Stolz der Familie und war in der ganzen Nachbarschaft bekannt. Die Muttergottes war in ein dunkelblaues Gewand gehüllt, hatte die schmalen, rosigen Hände fromm gefaltet und warf die Augen zum lichtblauen Himmel hinauf. Die rosigen Wangen hatten so etwas Gepflegtes, das an die Hände erinnerte und die Spuren keiner Arbeit verriet. Nichts gefiel den Bewunderern so gut als die Art dieser Haut, die allen unähnlich war, von denen sie bisher was wussten. Das Bild wurde vor den Altar gehängt, – den brauchte man jetzt nicht, und nie herausgenommen, weil es am Ende noch Schaden leiden könnte. Bei der fanatischen Reinlichkeit der Mutter war im ganzen Hause kein anderes Versteck so sicher. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie das Geld beisammen hatte. Sie rührte nie einen Groschen davon an; hie und da gaben ihr Kunden des Vaters, denen sie die Anzüge ins Haus trug, ein kleines Trinkgeld. Früher war das auf Naschereien abgegangen, mit denen sie sich die Freundschaft ihrer Gespielinnen erkaufte; das hatte sie bitter nötig. Alle Kinder scheuten sie (wegen) ihrer Hässlichkeit. Mit ihren Lippen war es so arg, dass man sie nicht einmal zu verhöhnen wagte; jedes der Kinder war davon fest überzeugt, dass sie ausgewachsen zu einer richtigen Märchenhexe werden würde.
Da diese Scheine aber für ihre Freundinnen so einträglich waren, erhielt sie sich bis in die märchenlosen Zeiten hinein. Sobald sie zu sparen begann, hörte das mit einem Schlage auf. Die Stimmung schlug gegen sie um, als sie wochenlang nichts zum Besten gab. Sie jammerte, dass sie kein Geld habe. Sie sei jetzt schon zu erwachsen und darum geben ihr die Herren kein Geld mehr. Sie würde es jetzt auch gar nicht annehmen. Man glaubte ihr aber nicht – welcher Mann nahm sie voll? Solchen Geschöpfen kann man immer Geld geben. Die Krüppel auf der Strasse sind doch auch erwachsene Leute und die Zwerge im Zirkus auch; niemand schämt sich, ihnen ein Trinkgeld zu geben. Man sagte ihr das ruhig ins Gesicht. Sie stampfte auf, schrie zornig: ‚Ich bin doch kein Zwerg.‘ ‚Aber ein Krüppel!‘ ‚Das ist eine Lüge!‘ Sie begann zu weinen, was die Mädchen gar nicht rührte. Sie weinte auch, wenn es einem grad passte. Einmal packte eine, die sieben fette Jahre lang ihre beste Freundin gewesen war, ihren Arm und schlug ihr ganz sachlich vor, während sie wütend schluchzte: ‚Komm, wir gehen zu den Herren da an der Ecke und fragen die, was du bist.‘ Die anderen waren von dieser Idee begeistert und zerrten sie hin. Sie selbst bekam es mit der Neugierde zu tun und hoffte, der Herr werde sich so schön zu ihr benehmen wie er aussah. Die Mädchen stiessen sie in ihn hinein und riefen alle durcheinander: ‚Bitte, ist sie kein Krüppel?‘ Er, ganz verblüfft über diese Dreistigkeit, blickte auf seine Bügelfalten hinunter und brummte: ‚Warum nicht?‘ Sie waren nicht mehr beschädigt worden, sonst hätte er sich die Schuldige schon näher angesehen. So begnügte er sich mit einer einfachen Erledigung und hatte keine Ahnung, wem diese galt. Die Mädchen rissen den ‚Krüppel‘ weg und stimmten – erst in einer Entfernung von fünf, sechs Schritten, da sie sich nachträglich vor dem Herrn fürchteten – ein Triumphgeheul an. ‚Der muss es doch wissen!‘ ‚Ist doch ein feiner Herr.‘ ‚Aber er hat mich ja gar nicht angesehen.‘ ‚Weggesehen hat er.‘ ‚Er hat eben gleich genug gehabt.‘ ‚Hast du gesehen, wie er die Hand in die Tasche gesteckt hat.‘ ‚Ja natürlich, er wollte ihr sicher was geben.‘ ‚Lasst sie in Ruh, sie ist ein armes Kind.‘ ‚Warum ist sie so frech?‘ ‚Sie kann doch nichts dafür, dass sie ein Krüppel ist.‘ ‚Ihre Mutter sieht aus wie eine Putzfrau.‘ ‚Bitte, ich hab’s immer gesagt.‘ ‚Na ja du, weil du nie Zuckerln gekriegt hast.‘ ‚Aber ich hab’s doch immer gesagt.‘ ‚Wisst ihr was, die kriegt nie einen Mann.‘ ‚Ja, ich krieg einen Mann.‘ Bei dieser Drohung fand sie ihre Sprache wieder. Lange dauert es nicht mehr und das Geld ist beieinander. ‚So eine nimmt doch keiner!‘ ‚Der müsst aber dumm sein.‘ ‚Sie muss eben einen Bettler heiraten.‘ ‚Ja! Ja! Einen Bettler‘, alle lachten laut durcheinander. Das wär das Richtige. Sie wird so einen blinden Mann heiraten, mit einem Täfelchen ‚Familienvater, völlig erblindet‘. ‚Jeden Abend muss sie ihn abholen.‘ ‚Und jeden Morgen hinfahren.‘ ‚Sie kann ihm doch einen Hund kaufen. Ich habe einen mit einem Hund gesehen.‘ ‚Ich auch.‘ ‚Ich auch.‘ ‚Ich habe selbst einen Hund.‘ ‚Oh, Du hast einen Affenpinscher.‘ ‚Das ist auch ein Hund.‘ ‚Ein Schosshund ist kein richtiger Hund.‘ ‚Woher weisst du das, sagt mein Vater immer.‘ ‚Na ja, dein Vater ist ja nur ein Förster.‘ ‚Und deiner ist ein Jud, der schwindelt mit Stoffen.‘ ‚Das ist nicht wahr.‘ ‚Mein Vater hat’s selbst gesagt.‘ ‚Was hat er gesagt.‘ ‚Bei dem Juden soll man nichts kaufen, das Zeug fällt gleich auseinander.‘ ‚Weil er so dick ist.‘ ‚Meiner ist noch dicker.‘ ‚Lügnerin!‘ ‚Aber Kinder, streitet euch nicht, die kriegt doch keinen Mann!’ ‚Darauf habe ich jetzt ganz vergessen.‘ Die künftige Bettlersfrau überlegte sich noch, ob sie ihnen was von der baldigen Änderung ausplaudern soll. Ihr Geheimnis brannte ihr auf der Zunge, aber sie traute sich doch nicht zu reden. Da kann sie einfach fragen: ‚Woher nimmst Du denn das Geld dazu?‘ Was soll sie da sagen! Wenn eine zu ihrer Frau läuft und der was sagt; die hat kürzlich im ganzen Hause nach einem verlorenen Schilling gesucht. ‚Da muss ich ein Loch in der Tasche haben.‘ Das Loch fand sich, der Schilling nicht; das Loch machte ihr die Kleine später hinein. Die Mutter bat sie noch: ‚Sag dem Vater nichts, der flucht sonst was zusammen.‘ ‚Ich sage sicher nichts, darauf kannst du dich verlassen, Mutter.‘ Sie muss jetzt rasch weglaufen, bevor sie was ausplaudert; die Mutter merkt nie was, aber wenn jetzt so eine nach Haus geht und was erzählt, dann weiss sie gleich alles. Nur ungern reisst sie sich von ihren Quälgeistern los. Weinen muss sie schon, weil die ihr so gemeine Sachen sagen. Aber zu Hause ist sie ganz aus dem Häuschen vor Freude. Wenn niemand da ist, steigt sie auf den Stuhl, hebt das Bild vorsichtig herunter, nimmt die verrostete Büchse heraus, hängt das Bild gleich wieder hin – es könnte zufällig doch jemand kommen – und stellt den Stuhl an seinen Platz. Dann kriecht sie bis unter die Mitte der Ehebetten, schüttet den Inhalt der Büchse auf ihre Hand und zählt ganz langsam das Geld. Eine Münze wird neben der andern hingelegt. Sind alle schön ausgebreitet, so bildet sie eine besondere Figur daraus, jedes Mal eine andere. Manchmal ist es ein gewöhnliches Rechteck, ein anderes Mal ein Herz, dann wieder ein Auge, ein Kreis, ein schönes, regelmässiges Gesicht. Gelingt eines besonders gut, so küsst sie es auf den kalten Metallmund und ruft vor Begeisterung laut aus: ‚Du bist aber schön geworden. Willst Du einen Spiegel?‘ An die unbequeme Lage unterm Bett hat sie sich so gewöhnt, dass sie spielend ihr Spiegelchen aus der Schürzentasche herauszieht und über ihrem neuen Gesicht damit in allen möglichen Stellungen herumhantiert. Beim Einsammeln der Münzen wird jede zweimal geküsst, einmal auf der Vorder-, dann auf der Rückseite. Wenn sie unterm Bett hervorkriecht, hat sie so ein angenehmes Gefühl. Die Madonna zittert in ihrer Hand und sie fürchtet sich sehr, dass sie sie fallen lassen könnte. Vor der Zählung hat sie nie Angst. Da macht sie alles klug, sicher und geschickt. Sie merkt selbst, dass das Bild immer erst nachher schwankt. Vielleicht hält es die Madonna nicht aus ohne das Geld und wird ungeduldig, weil sie es so lange vermissen muss. Das ist aber sehr ungerecht, denn sie hat es doch viel länger als ich. Es fällt ihr nicht im Traum ein, dass die Madonna das Geld nicht braucht, weil sie schon eine Schönheit ist.“112
Biografisch interessant ist hier, dass mit der Erzählung Die Diebin, die kein Krüppel mehr sein will, einige Dinge aufgenommen werden, die im Leben und Werk von Veza Canetti nachweislich eine wichtige Rolle gespielt haben, nämlich Madonnen, blinde Seher und intelligente Hunde. Gut möglich, dass zudem Erlebnisse des Mädchens Veza mit dem fehlenden linken Arm in die Notizen zu Die Diebin eingeflossen sind. Beispielsweise die Geschenke an die Kinder, damit sie die Angriffe auf das Mädchen mit dem verkrüppelten Gesicht stoppen, vielleicht ebenso Aspekte des mühsamen Zusammensparens von Geld für eine Armprothese – ob mit oder ohne Diebstahl. Diese literarisch verarbeiteten desolaten Zustände, ja Fallen, in die ein körperbehindertes Kind hineingeraten kann, würden auf jeden Fall sehr gut zum legendären Geiz des Stiefvaters Menachem Alkaley passen. Weiter passt gegebenenfalls biografisch auch der Aspekt mit dem Trinkgeld, das die Diebin bei Auslieferungen für den Vater, den Herrenschneider, erhalten hat. Dies könnte ein Pendant in einer Tätigkeit Veza Taubners innerhalb des Familienkosmos gehabt haben, zum Beispiel im Einziehen von Wohnungsmieten, wie das in der von der Familie Canetti bewohnten Wohnung, die eigentlich Olga Hirsch gehört hat, der Fall gewesen sein muss.
Wie sich ein körperlicher Mangel auf die Betroffenen auswirken kann, beschreibt Alfred Adler – einer der führenden Wiener Psychologen – Mitte der 20er Jahre:
„Eine wichtige Rolle spielen körperliche Mängel, die bewirken, dass die normale Art des Lebens für ein solches Kind nicht taugt, dass ihm Privilegien zuerkannt und besondere Massregeln ergriffen werden müssen, um seine Existenz zu erhalten. Selbst wenn wir das alles vermögen, das könnten wir nicht verhindern, dass solche Kinder das Leben doch als etwas Schwieriges empfinden, wodurch ihnen die Gefahr droht, an ihrem Gemeinschaftsgefühl schweren Abbruch zu erleiden.“113
Dazu passt nun sehr gut, dass Veza 1921 an den Rand der Tagebücher von Friedrich Hebbel, neben den Satz „(…) wer sich für überflüssig in der Welt hält, der kann nicht überflüssig sein“ das Wort Danke geschrieben hat.114 Ob das nun in Zusammenhang mit ihrer körperlichen Behinderung steht, wie Hanuschek schon interpretiert hat, wäre zu diskutieren.
Veza Canetti selbst scheut sich nun aber durchaus nicht, in ihrem literarischen Werk Menschen mit körperlichen Behinderungen darzustellen; sie gibt dabei einen differenzierten Einblick in die Mechanik der Wechselwirkung zwischen dem, was die Gesellschaft als Norm betrachtet, und dem, was als körperlicher Mangel gilt. Da ist beispielweise die junge Frau namens Maria, mit dem Rücken, „der schief und verwachsen war, als hielte sie einen Knäuel unter der Bluse versteckt“, eine der Hauptfiguren in der erst posthum publizierten Erzählung Drei Viertel. Nichts hasst diese Maria so sehr wie das Mitleid ihrer Mitmenschen und den damit einhergehenden Blick auf ihren Rücken. Jedes Geschenk – wie im Text zum Beispiel ein Blumenstrauss – wird so zur Mildtätigkeit einer zu bemitleidenden Behinderten gegenüber. Besänftigen kann Maria einzig der Blick auf das Handicap der Geberin, hier Annas. (DF 49) Anna hat ein hässliches Gesicht. Maria zählt auf: „zerknitterte Haut, die schütteren Haare, die schon in Farblosigkeit übergingen, die dünnen Züge und die Augen, deren Lider zu dürftig ausgefallen waren (…).“ (DF 56) Zu dieser Einschätzung Annas war Maria gekommen, als sie sich gegen jede Einfühlung gepanzert hatte und sie Befriedigung über Annas Hässlichkeit erfasst hatte. Der Maler Bent wird Marias Gesicht hingegen weiss malen.115
Der Maler Bent spielt in dieser ganz und gar nicht banalen Geschichte um Schönheit und Anerkennung eine wichtige Rolle. Es geht ihm nicht darum zu lieben oder eben zu malen, was schön ist, sondern, das, was ihn fesselt – also das, was statt voll nur dreiviertel ist. Britta, eines der Modelle Bents, das allen Grund gehabt hat, das „Ebenmass ihrer Glieder mit Vergnügen zu betrachten“ (DF 60), war davon ausgegangen, dass Bent nur sie als Modell ins Boot nehmen würde, weil sie bereits einen Preis als schönste Schwimmerin gewonnen hatte. Bent jedoch meint: „Sie irren, Britta. Das Schöne gefällt im Augenblick. Das Seltsame fesselt.“ (DF 71)
Ganz anders ergeht es der körperlich schwerbehinderten Runkel im Roman Die Gelbe Strasse. Sie wird nach einer Kette von Unglücksfällen, ausgelöst durch ihren eigenen Neid auf eine ihrer Angestellten – nämlich die von der Männerwelt sehr begehrte, attraktive Trafikverkäuferin Lina –, unter ihren eigenen Seifen begraben und stirbt in Kürze. Als vollkommen fatal für Runkel hatte sich die Mischung aus Neid und Geiz gestaltet.
Dem blinden Bettler aus der Erzählung Der Seher hingegen verhilft gerade sein Nicht-Sehen-Können zu einem vertieften Einblick und Verständnis für die Gesellschaft. Die Aufklärung eines Diebstahls wird für ihn dadurch zum Kinderspiel.
Schon viel wurde von der literaturwissenschaftlichen Forschung darüber spekuliert, ob Veza Canetti eine Prothese trug oder ob sie einfach ihre Ärmel ausgestopft haben könnte. Leider gibt es keine direkten Äusserungen Veza Canettis selbst zu ihrem fehlenden Unterarm. Elias Canetti spricht in den Unpublizierten Lebenserinnerungen in diesem Zusammenhang vom Geheimnis und von der Kunst des Verbergens.
„Auch ich wollte sie nicht anders und da es bei ihr um etwas Besonderes ging, das anders als bei anderen Menschen war und das sie mit grosser Kunst verbarg, hing alles für sie davon ab, dass ich sie nicht anders wollte.
Ich habe ihr Geheimnis mit ihr gehütet. Zu lange? Hätte es später, viel, viel später einen Augenblick gegeben, an dem sie Befreiung von diesem Geheimnis gebraucht hätte?
Ich muss mich davor hüten, an die späte Zeit zu denken. Ich muss alles versuchen, sie so zu finden, wie sie früh war.
Es kommt mir der verstörende Gedanke, dass ich mit Herbert Patek erlebt habe, was ich ihr ersparen wollte. Von ihm erfuhr ich alles, er hatte kein Geheimnis vor mir, er hätte mir auch das Hässlichste gesagt, vielleicht wusste er nicht immer, wann es um seine Hässlichkeiten ging, aber jedenfalls zeigte er sich mir ganz.
Veza, die acht Jahre meine Geliebte war, hat sich mir nie ganz gezeigt.“116
Herbert Patek wird in den Publizierten Lebenserinnerungen zu Thomas Marek, dem körperlich schwerstbehinderten Philosophen und unersättlichen Leser, mit dem Elias Canetti eine tiefe Freundschaft verband.
„Veza hat von der Literatur gelebt, sie war davon so erfüllt, wie niemand anderer, den ich je gekannt habe. Wie stellt man das dar, ohne von ihrem Geheimnis zu sprechen?
Ich muss ihr etwas geben, was ihr gebührt: meine erste Irritation an Spiegeln entstand mit ihr, wenn sie mitten in einem Gespräch auf der Strasse stehen blieb und sich im Spiegel eines Geschäfts besah.
Diese Verfallenheit an Spiegel hing aber keineswegs mit Eitelkeit zusammen, sie fürchtete immer, dass an ihren Haaren etwas nicht in Ordnung war, und das hing mit ihrer Behinderung zusammen (sie konnte den linken Arm nicht gebrauchen). Ich sah also etwas als Eitelkeit und hielt mich darüber auf, was gar nicht Eitelkeit war.“117
Im Kapitel Schwermut der Unpublizierten Lebenserinnerungen sinniert Elias Canetti darüber, was dieses Schweigen oder gar dieser Panzer des Schweigens rund um den fehlenden Unterarm für Veza Canetti bedeutet haben könnte. Er kommt zum Schluss, dass dies die Wurzel für ihre Schwermut gewesen sein müsse.
„Ich habe ihr Geheimnis für sie gehütet. Sosehr habe ich es gehütet, dass ich nie davon sprach. Ich hätte in sie dringen müssen, um von ihr etwas darüber zu erfahren. Aber ich scheute mich davor, sie zum Sprechen zu bringen und es war mir sehr lieb, dass sie nicht von selber davon sprach. 38 Jahre war sie mir nah. Sollte es etwas geben, worüber wir nicht gesprochen haben? Eines gab es, ja, nur eines, und es hätte darüber von allen Dingen auf der Welt am meisten zu sprechen gegeben. Aber eben darüber schwiegen wir beide unverbrüchlich. Es hatte von früh die Art ihres Umgangs mit Menschen bestimmt. Ihr Stolz gebot ihr, zu verbergen, was sie von andern unterschied. Es war aber schwer zu verbergen und es bedurfte grosser Anstrengung, einer bis ins Letzte ausgebildeten Kunst des Verhaltens, um vor der Welt nie anders als andere zu erscheinen. Bedauern oder gar Mitleid hätte sie nicht ertragen. Sie selber strömte über von Mitgefühl und verstand sich auf hundert Finten, durch die es für die Empfänger annehmbar und sachlich wurde, aber Mitleid, das ihr gegolten hätte, hätte sie nie hingenommen. Es hätte sie beleidigt, es hätte sie verjagt, sie wäre davor geflohen wie vor einer tödlichen Bedrohung.
Neugierig wie ich immer war, kostete es mich doch nicht die geringste Mühe, ihr gegenüber auf Neugier zu verzichten. Es ist möglich, dass es Augenblicke gab, in denen sie sich Neugier bei mir gewünscht hätte, um den Panzer ihres Schweigens wenigstens einmal ablegen zu können. Aber die Wirkung eines solchen Augenblicks wäre nie wieder gutzumachen gewesen. Sie hätte an der Intaktheit ihres Bildes in mir zu zweifeln begonnen. Obwohl nichts mir das Bewusstsein von ihrer Schönheit hätte nehmen können, für sie hätte es anders ausgesehen und nichts mehr hätte sie je davon abbringen können, für Mitleid zu halten, was unveränderlich Anbetung war.
Ihre Abhängigkeit bestand darin, dass es etwas gab, das ich nie von ihr wissen wollte. Es war etwas, das sie vor anderen wohl, doch vor sich nie verbergen konnte. Sie dachte nicht mehr und nicht weniger daran als an den Mantel, in den sie schlüpfen musste, wenn sie ausging. Sie hatte sich solche Geschicklichkeit erworben, dass es ein Leichtes für sie war, in diesen Mantel oder wofür immer er steht, zu schlüpfen.
Ich habe nie zu ergründen versucht, ob die Wurzel zu ihrer Schwermut in diesem Geheimnis lag. Aber ich glaube nicht, dass es möglich gewesen wäre, ihr die Schwermut zu nehmen. Es war eine Schwermut besonderer Art, anders als alles was man sonst davon kennt, es war eine Schwermut, die leuchtete. Es ist nicht möglich, eine Beschreibung davon zu geben, ich beschränke mich auf den Namen, den ich ihr dafür gab, unter unzähligen Namen den einzigen, der damit zusammenhing/der sich darauf bezog, ich nannte sie das schwarze Licht.“118
Entsprechend zu diesen Aussagen Elias Canettis über Vezas Behinderung gibt es tatsächlich in keinem Brief von und an Veza Canetti auch nur die leiseste Andeutung über ihr Handicap. Auf sämtlichen bekannten Fotos aus dem Nachlass ist ihre Behinderung erst auf den zweiten Blick ersichtlich. Dies trifft selbst auf Fotos zu, die sie als ganz junge Frau zeigen, beispielsweise auf der Aufnahme in Alt-Aussee, wo sie mit ihrer Tante Olga und deren Mann Max Hirsch zu sehen ist, mit offenem Blick in die Kamera, die linke Seite des Körpers leicht abdrehend verdeckt.119
Zu Prothesen oder künstlichen Körperteilen hingegen gibt es in verschiedenen Erzählungen Veza Canettis Beispiele, sie sind immer aus Wachs. Am auffälligsten erscheinen die zwei Wachshände in der bereits 1937 publizierten Erzählung Der Hellseher: „Die abgehackten Hände! Krampfhaft ausgestreckt in Totenstarre. Von dem grausigen Anblick der abgehackten Hände, die vor mir ausgebreitet lagen, an den Wurzeln noch rosig von frischem Blut, hier in Minnas Zimmer (…) Ein Engländer hat sie geformt, er arbeitet für Wachfigurenkabinette. (…) der Besitzer dieser Hände. Ein Magnetiseur.“ (DF 23) „(…) die Hände aus Wachs, die mich erst so erschreckt hatten. Es war symbolisch für alles, was später kam, erst lähmender Schreck, der zu Wachs wurde.“ (DF 28) Menschen, die sogar als Wachsfiguren gefährlich wirken können, werden in der Erzählung London. Der Zoo thematisiert. Raubtiere hingegen, die weniger gefährlich sind als Raubmenschen, treten in der Erzählung Herr Hoe im Zoo auf. Das gefährlichste Raubtier, der Löwe, allerdings wird nur durch Herrn Hoe bezwungen, da dieser den Geruch der Zivilisation verströmt. Warum Veza Canetti Jean Hoepffner120 mit der Figur des Herrn Hoe ein Denkmal gesetzt hat, muss vorerst offen bleiben. Jean Hoepffner wird derjenige sein, der Elias Canetti 1936 zum Durchbruch als Dichter verhilft, indem er die Erstpublikation des Romans Die Blendung mit einer grossen Geldspende ermöglicht. Der schützende Zivilisationsgeruch Herrn Hoes in der Erzählung war entstanden, weil er sich täglich mit Lavendelseife wusch und seine Magd ihm Lavendelblüten in die Kleider gestreut hatte. (DF 36 f.)
Der Besitzer der blutenden Wachshände in der Erzählung Der Hellseher hat als Magnetiseur eine Erklärung für das Kopfweh der Ich-Erzählerin, er sagt zu ihr: „Sie haben es im Kopf! (…) Im Kopf! Es ist schmerzhaft. Ein Geschwür!“ (DF 25) Das Schmerzhafte entpuppt sich als ein Voraussehen der Ich-Erzählerin selbst, die erkennt, dass in Zeiten des aufziehenden Faschismus ihr Blatt logischerweise weiss bleiben muss, da sie links besser sieht. Ein Sachverhalt, den ihr zudem – gleichsam verstärkend – der Hellseher später voraussagen wird. Seine Prophezeiungen wird er mit einer langen weissen feingliedrigen Hand verstärken.
Auch in den Unpublizierten Lebenserinnerungen spielen Hände oder eben die eine Hand eines Gelehrten eine Rolle. Elias Canetti notiert 1981, indem er die alten Notizhefte aus den 30er Jahren hinzuzieht: „Im gleichen Heft findet sich ein grosser Teil des Gesprächs gegen die Frauen, das die beiden Brüder am Ende der ‚Blendung‘ haben. Man kann es nicht eigentlich ein Gespräch nennen, denn ‚Georges‘ ist noch gar nicht da, wohl aber finden sich die Anklagen Peters, besonders die, die sich auf die Odyssee und andere griechische Dinge stützen. Die Attacke endet mit dem Lob des Oktavian, weil er es verstand, der Kleopatra zu widerstehen.
Gleich danach findet sich ein Stück aus dem ‚Spaziergang‘, dem ersten Kapitel des Romans, das mit gutem Grund später nicht verwendet wurde: Besuch in einer Buchhandlung und Ärger über ein Buch mit Fotos von Händen: die Hand eines Gelehrten erregt Brands Zorn und er zerreisst die Seiten aus dem Buch. – Dann folgt gleich eine erste Fassung des ‚Geheimnisses‘, die Neugier der Therese, die ihn vor dem Spaziergang beim Zusammenstellen der Bücher belauert, die er mitnimmt.“121
Dieser Ausschnitt ist in mehrfacher Hinsicht höchst aufschlussreich, insbesondere die Stelle: „(..) die Hand eines Gelehrten erregt Brands Zorn und er zerreisst die Seiten aus dem Buch“. Gerne wüsste man nun, weshalb diese Stelle für die Endfassung des Romans Die Blendung „mit gutem Grund“ weggelassen wurde und vor allem warum es hier um „eine erste Fassung des Geheimnisses“ geht. Was ist an der Hand eines Gelehrten für Brand anstössig und was hat das damit zu tun, der Kleopatra zu widerstehen?
Elias Canetti schreibt weiter, von da an sei es ihm nicht mehr nur um die Masse allein gegangen, sondern sein Interesse für Machthaber sei geweckt worden. Er notiert weiter: „Zur selben Zeit, im September 1930, findet sich folgende Eintragung: ‚Die Erfindung des Spiegels und ihr Einfluss auf die Herausbildung des Individuums‘ (wohl der erste Keim zur ‚Komödie der Eitelkeit‘)“.122
Genau der Umgang mit Spiegeln ist für Anna und Maria, die beiden sogenannt handicapierten Frauen aus Veza Canettis Erzählung Drei Viertel, jeden Morgen eine Art Härteprobe. Die Maria mit dem Buckel hat es für sich so gelöst, dass sie sich in einem Spiegel betrachtet, der nur ihren Kopf zeigt. Das Frühstück genehmigt sie sich in einem Stuhl mit einem würdigen Rücken. „Als sie darin sass, schien es, als wäre sie jetzt ganz sie selbst. Sie hatte ihren Raum, sie hatte keine Seite, keine Rückseite. Sie steckte im Schutz der hohen Lehne wie eine Puppe in einer Schachtel.“ (DF 55) Anna hingegen hat es schwerer. Sie muss beim Blick in den Spiegel ihr Gesicht verdecken, damit ihr dessen Hässlichkeit entgeht. „Sie hob das Handtuch und versteckte das Gesicht. Jetzt hatte sie kein Gesicht, und das erlöste sie. Ihre Haut atmete jetzt, ihre Glieder waren befreit. Wie schön sie war – ohne Gesicht.“ (DF 48)
Als der Maler Bent eine Figur – Anna, Britta oder Maria – wie eine Wachspuppe malt, allerdings mit feinem Staub darüber, wird er dafür von einer der Frauen kritisiert: „Staub ist hässlich, Bent.“ Er rechtfertigt sich in Abänderung des Shakespeare-Zitates damit: „Es gibt seltsamen Staub. Der Staub auf Wachsfiguren hinter Vitrinen ist schön. Uralter Staub.“ (DF 68)
In den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti erhält beides – die Körperbehinderung Vezas sowie ihr universales Wissen – die Aura des Geheimnisses, wie man im folgenden Textausschnitt sehen kann. „Ich mochte nicht zugeben, dass die Universalität ihrer Lektüren mir grossen Eindruck machte. (…) Sie war beschlagen in der deutschen, englischen, französischen und russischen Literatur, soweit sie in deutschen Übersetzungen vorlag. (…). Was sie aber auf der Universitätsbibliothek trieb, war ihr Geheimnis. Durch Andeutungen vermochte sie meine Neugier zu reizen, aber sie war auch imstande, wochenlang über ihr augenblickliches Studium zu schweigen. Sie habe etwas begonnen, das sie noch gar nicht beherrsche, unmöglich könne sie schon etwas darüber sagen, für halbgebackene Kenntnisse habe sie nur Verachtung. Ich hatte meine Methoden, in sie zu dringen, auf diese und jene Weise versuchte ich zu erraten, womit sie sich eben befasse, ich kam nie drauf, im Verschweigen ihrer Geheimnisse war sie ein Meister (ich habe sie 38 Jahre gekannt und bin überzeugt davon, dass ich sehr Vieles nie von ihr erfahren habe.)“123
Sehr treffend beschreibt nun Elias Canetti weiter in den Unpublizierten Lebenserinnerungen, wie das zuerst als Oberfläche Wahrnehmbare – das Preziöse – bei Veza Canetti ihn zu einer falschen Annahme verleitet habe und wie er sich dadurch eine Blösse gegeben habe: „So suchte sie mein Vorurteil von einer ‚Preziösen‘, der <dem> ich noch eine Weile anhing, durch die Lektüre Lenins als eines extrem Politischen und durch die Aristophanes’ als eines extrem Derben zu erschüttern. Ich gab es keineswegs gleich auf, aber ich war mehr auf der Hut vor ihr als früher und begann zu begreifen, dass ich mir grosse Blössen gegeben hatte. Schliesslich wollte ich nicht weniger vor ihr bestehen als sie vor mir und dass sie über Manches, das ich ihr brachte, die Nase rümpfte, gab mir arg zu schaffen.“124