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C2. Die Felonen: junge Intellektuelle im Hause Asriel
ОглавлениеVon grossem Interesse ist neben Fredl Waldinger die Gruppe von jungen Intellektuellen, die im Hause Asriel verkehrt haben, gerade auch, weil Veza Taubner mit diesem Kreis assoziiert war.218
Elias Canetti schreibt in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen: „Eine Gruppe von jungen Leuten, die im Hause Asriel eine grosse Rolle spielte, nannte sich die Felonen, nach einem ihrer Mitglieder, Felo Kohn. Es mochten 6 oder 7 Burschen sein, meist mit ihren Mädchen, die sonntags zusammen in die Kuchelau baden gingen.“219 In den Aufzeichnungen von 1968 hatte Elias Canetti rückblickend notiert, dass er mit den Felonen zwei bis drei Jahre nach Franz Kafkas Tod, also nach 1924, baden gegangen sei, er hätte mit ihnen eine sogenannte Schwimmbeziehung gehabt.220
Der Name der Gruppe sei eine Erfindung des Dichters Alfred Grünewald, der tatsächlich den Spitznamen von Felix Kohn, nämlich Felo, zum Namen für die ganze Gruppe bestimmt habe, so Eva Barilich, die Fritz-Jerusalem-Biografin.221 Zum innersten Kern dieser Gruppe zählten neben Felix Kohn und Fritz Jerusalem Theo Waldinger, Karl Spitz und Alfred Gold.222 Die Felonen engagierten sich im Verband Jugendlicher Arbeiter (VJA) und hielten später Kontakt zur Josefstädter Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ).223
Die Felonen galten als privater „Intellektuellenzirkel“, der sogar Dichterlesungen veranstaltete. Zum Zirkel soll selbst Hermann Broch gehört haben. Umstritten ist aber, ob Elias Canetti und Hermann Broch zu den engsten Freunden von Fritz Jerusalem gehörten.224 Ernst Fischer hingegen wird als Freund von Fritz Jerusalem bezeichnet.225
Egon Lederer – einer der Felonen – meint, dass Karl Kraus auf die Gruppe wie ein Katalysator gewirkt habe. „Er hat uns zur Kommunistischen Partei gebracht, seine Vorlesungen waren eine phantastische Vorbereitung, sich in eine politische Bewegung einzugliedern, die einen Ausweg zeigt und eine Vision hat.“226 „Nach den Vorlesungen von Karl Kraus begaben sich die ‚Felonen‘ in das Café Museum und diskutierten das Gehörte.“227
1929 gründete Fritz Jerusalem mit einigen Felonen die Stosstruppe, eine Agitpropgruppe nach sowjetischem Vorbild, die sich durch besonderen Arbeitseinsatz auszeichnete. Neben Jerusalem gehörten Theo André Drucker, Georg Dollinger und Walter Hollitscher dazu, ausserdem Eduard März. Er und Fritz Jerusalem hätten Texte verfasst, die von André Drucker und Alexander Vogel vertont wurden.228 Es handelt sich um Sprechchöre, Sketches, Spottlieder, zum Beispiel den „Fünfjahresplan-Chor“, im Sinne von Kultur als Kampfmittel.229 Anfangs 1931 muss es bereits in jedem Wiener Kreis eine solche Gruppe der KPÖ gegeben haben. Im 1930 gegründeten Bund der proletarisch-revolutionären Schriftsteller Österreichs sei aber kein einziger als Schriftsteller anerkannter Kulturschaffender Mitglied gewesen.230
Obwohl auch einige junge Frauen bei den Felonen mitmachten – wie Grete Leist, Claire Kossmann, Else Schweiger und Anni Reiniger –, ist in der Fritz-Jerusalem-Biografie von Eva Barilich nie die Rede von einer Veza Taubner.231 Das hat allenfalls damit zu tun, dass bei der Niederschrift der Biografie zu Fritz Jerusalem – Publikation 1991 – Veza Canetti noch nicht breitenwirksam wiederentdeckt worden war. Auch andere mit den Felonen assoziierte Personen werden nicht erwähnt, beispielsweise die mit den Felonen assoziierten Brüder von dem zum innersten Kreis der Felonen gehörenden Theo Waldinger, nämlich der Landschaftsgestalter Fredl Waldinger und der Literaturwissenschaftler und Dichter Ernst Waldinger.
Auch Elias Canetti musste sich nach der Publikation der Lebenserinnerungen 2 und 3 den Vorwurf gefallen lassen, dass er verschiedene intensive Freundschaften aus der Wienerzeit einfach weggelassen habe. Dies betrifft einige Mitglieder der Felonen wie Fritz Jerusalem, Walter Hollitscher und Eduard März.
Verworfen wurde von Elias Canetti überdies ein schonungslos negatives Porträt von Ernst Fischer. „Meine erste Begegnung mit Elias Canetti im Wien der frühen dreissiger Jahre verdanke ich dem damaligen Redakteur der Arbeiter-Zeitung und späteren kommunistischen Minister und Abgeordneten Ernst Fischer. Dieser brillante Mann, der leider einen Teil seiner grossartigen Begabung in wenig sinnvollen tagespolitischen Engagements verzettelt hat, war damals allem Anschein nach Elias Canettis engster Freund. Ich habe die beiden jedenfalls immer zusammen gesehen, ja sie waren geradezu unzertrennlich.“232 Eduard März mokiert sich im gleichen Artikel sehr darüber, dass der Kommunistenfreund Ernst Fischer für den späteren Nobelpreisträger Elias Canetti nicht mehr opportun zu sein scheine und deshalb in den Lebenserinnerungen nur noch am Rande auftauche; weit schlimmer sei es anderen Freunden Canettis ergangen: „Ich denke hier vor allem an Fritz Jerusalem, der sich später Fritz Jensen nannte, und an Walter Hollitscher. Wann immer ich Elias Canetti traf, war das in Zirkeln radikal linker Intellektueller, und Fischer, Hollitscher und Jerusalem waren hier Canettis engste Freunde und literarische Anhänger.“233 Eduard März schreibt im gleichen Artikel: „Walter Hollitscher, später Professor an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und philosophischer ‚Guru der KPÖ‘ fand sich stets ‚zu Füssen‘ Canettis, der mit seiner unbestreitbaren dialektischen Begabung zweifellos eine grosse Faszinationskraft ausstrahlte.“234
Mit dem fast vollständigen Weglassen der Kommunistenfreunde in den Publizierten Lebenserinnerungen räumt Elias Canetti diesen einen sehr ähnlich marginalen Platz ein wie seiner Ehefrau. Das ist ein Tatbestand, der nicht nur Eduard März, sondern auch den anderen nahestehenden Zeitzeugen wie Fredl Waldinger oder Anna Mahler aufgefallen war.
Fredl Waldinger schreibt bezüglich des Einbezugs von Fritz Jerusalem in einem Brief vom 15. November 1980 an Elias Canetti: „Dass Du gezögert hast, Fritz Jerusalems Kapitel in den Band hineinzunehmen, kann ich wohl verstehen. Trotzdem ich ihm nichts Unrechtes nachsagen kann, zwischen mir und ihm war seit früher Kindheit ein problematisches Verhältnis. Ich habe den intellektuell und athletisch Überlegenen bewundert und ein bisschen unter seiner ‚Arroganz‘ gelitten, die er zwar mir gegenüber in späteren Jahren aufgegeben hat. Noch heute kann ich einen Fall nicht vergessen der sich in unserer Kindheit zugetragen hat (nicht vergessen). Wir waren etwa 10 Jahre alt und haben einen steilen Steinbruch in Sievering bestiegen. Er war schnell oben ich aber bin etwa 1 Meter unterhalb mit zitternden Knien stecken geblieben. Fritz hat mir eine Weile lachend zugeschaut wie ich mich bemüht habe den Gipfel zu erreichen, hat mir aber doch rechtzeitig die Hand heruntergereicht und mich heraufgezogen. Durch ihn habe ich in jungen Jahren den Faust kennengelernt den er fast auswendig kannte, usw. Immer waren jedoch Bubenstreiche und manches andere noch bewunderungswert für mich. In späteren Jahren hat mich sein extremer Marxismus abgestossen und das schlimmste von ihm habe ich nach seinem tragischen Tod bei Carl Spitz in San Francisco gesehen. Dort fand ich zwei Büchlein die er unter dem Namen Jensen in China geschrieben, die den unehrlichsten Journalismus als Inhalt hatten. Subtile Empfindungen habe ich nie bei ihm wahrgenommen. Ich verstehe auch, dass Du das Schicksal der Familie Asriel nicht beschreiben kannst, es nähme wirklich ein ganzes Buch, Alice Hans Walter Nuni und die Väter Grossväter. Die ganze tragische Sippe wäre jedoch einer Meisterdarstellung wert.“235
Komplett anders klingt es zu Fritz Jerusalem bei Eduard März, dem österreichischen Wirtschaftshistoriker: „Ein durchaus beachtenswerter Freund und Bewunderer Canettis aus diesem Kreis war auch der junge Mediziner Fritz Jerusalem. Er hatte später eine relativ hohe Funktion bei den ‚Internationalen Brigaden‘ im Spanischen Bürgerkrieg inne, ging dann als Arzt nach China, wurde Fernostkorrespondent kommunistischer Zeitungen und schrieb unter Schriftstellernamen Fritz Jensen das seinerzeit viel beachtete Buch ‚China siegt‘. Er kam 1955 bei einem geheimnisumwitterten Flugzeugunglück auf dem Flug nach Bandung ums Leben.“236
In den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis findet sich ein gar nicht unähnliches Porträt von Fritz Jerusalem, wobei er dessen Wirken sehr schön im intellektuellen Kleinbürger-Milieu der Asriels verortet. Als Krönung des Porträts lässt er am Schluss Alice Asriel sagen, Fritz Jerusalem sei non plus ultra.
„Der eine, der als der weitaus angesehenste, sportlich tüchtigste, stärkste und auch gescheiteste galt, war Fritz Jerusalem. Er war nicht immer dabei, und vielleicht auch wegen dieser häufigen Abwesenheit ist er schon zu einer Art von Legende geworden. Ich sah ihn erst lange nicht, er kam nicht häufig ins Haus. Über die Male, die er dagewesen war, wurde noch Wochen danach gesprochen. Immer hatte es sich um Diskussionen gehandelt, zwei Burschen messen ihren Geist aneinander und Alice hörte zu. Solche Turniere hatte sie für ihr Leben gern, man könnte sagen, dass sie dafür lebte. Wohl hatte sie auch hie und da unter diesen jungen Menschen einen Freund, sie dachte sehr frei darüber und fand auch nichts dabei, dass ihre Kinder es wussten. Klein waren sie ja nicht mehr und auch sie sollten, das wünschte sie sich besonders, zu freien und vorurteilslosen Menschen werden. Aber so wichtig diese Beziehungen für sie waren, worauf es ihr eigentlich ankam, das waren die Streitgespräche, die sich vor ihr abspielten. Da sass oder stand sie, eine winzige Frau, liess sich kein Wort entgehen, glaubte jedes zu verstehen, zumindest merkte sie sich genau, was gesagt wurde, auch wenn sie’s nicht verstand, worauf sie aber am meisten achtete, das war das Vordringen der einen, das Nachgeben der anderen Seite, das Hin und Her des Kampfes, die Sicherheit, die plötzlich zu Unsicherheit wurde, und wieder der Wechsel, aber am liebsten hatte sie es doch, wenn einer, den sie nun einmal für den Gescheitesten hielt, immer der Überlegene blieb und den Partner leicht und ohne viel Anstrengung abfertigte.
Dieser Eine war Fritz Jerusalem und obwohl er nie zu ihrem nahen Freunde wurde, stellte sie ihn zuhöchst und gab mir deutlich zu verstehen, schon lange, bevor ich ihn kennen lernte, dass er unübertrefflich sei. Sie fasste es kurz und entschieden zusammen, wobei sie mich etwas ironisch ansah: ‚(Er ist) non plus ultra.‘“237
Dieses doch eigentlich sehr positive Bild von Fritz Jerusalem, das hier Elias Canetti zeichnet, weist bestimmt nicht auf eine absolute Abgrenzung hin, wie das vom Dichter Alfred Grünewald kolportiert wird, der anscheinend mit Fritz Jerusalem gebrochen hatte, sobald der sich der Kommunistischen Partei anschloss.238
Die „Reproduktion eines Grünewald“ 239 schickt Veza Canetti dann allerdings nicht an Broch, wie sie am 25. Dezember 1950 schreibt. Meint sie eine Aufnahme des Altars von Matthias Grünewald, den auch Elias Canetti sehr häufig erwähnt, oder ist das ein Schibboleth für etwas ganz anderes? Zum Beispiel könnte mit Grünewald ebenso ein Aphorismus oder ein Einakter des Dichters Alfred Grünewald gemeint sein. Der mit den Felonen assoziierte Dichter war im Exil in Frankreich bis kurz vor seinem Tod schriftstellerisch weiterhin sehr produktiv gewesen,240 bis er – da homosexuell und Jude – im KZ Auschwitz 1942 ermordet wurde.241 Die kryptische Antwort Hermann Brochs vom 7. Februar 1951 als Post-Scriptum deutet eher auf den Dichter hin: „Was macht eigentlich Ihr eigenes Dichten? Nein, der Grünewald würde mich nicht traurig stimmen, aber Sonne traure ich nach. Ich will gelegentlich einen Abschiedsaufsatz über ihn schreiben.“ 242
Das Verorten von Personen der Vergangenheit in ihrem sozialen Umfeld, um sie als literarische Figuren besser darstellen zu können, hat Elias Canetti sehr oft angewendet, nicht zuletzt auch auf Veza Canetti. Bei ihr hat er gleich mehrfach in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen das tatkräftige soziale Engagement im unmittelbaren Bereich der Ferdinandstrasse dargestellt. Auch die Biografin von Fritz Jerusalem wendet dieses Verfahren an, wenn sie erzählt, Fritz Jerusalem hätte Mitte 30er Jahre bei Arbeiterfrauen Abtreibungen durchgeführt, wenn sie aus ökonomischen Gründen keine Kinder kriegen wollten oder konnten.243 Möglicherweise hat sich Veza Canetti vom Engagement Fritz Jerusalems als Arzt im Spanischen Bürgerkrieg zu den Texten im spanischen Korpus244 – Pastora, Der Seher und Der Palankin – inspirieren lassen, unter Umständen war es aber auch nur der spaniolische Anteil der eigenen Herkunft. Pastora, die historisch gesehen mythenumrankte Freiheitsheldin, wird bei Veza Canetti zur Magd Pastora, die weniger am nicht erfolgten Aufstieg im feudalen Herrschaftshaus zerbricht denn an enttäuschter Liebe. Pastora stösst mit ihrer letzten Frage, „Habe ich denn recht und alle haben Unrecht?“, mitten in den Diskurs der Marxisten und Individualpsychologen der Zeit vor. In der Erzählung zerbricht die Liebe Pastoras und Don Anibals an der feudalen Praxis der Gegenwart, in der Ehen unter ökonomischen Gesichtspunkten geschlossen werden oder geschlossen werden müssen.245