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ZWISCHEN: Von Wera Figner zu Kaspar Hauser: „Sie ist nun zur Künstlerin geworden.“

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In den Notizblöcken Elias Canettis von 1930 finden sich in Bezug auf Veza Taubner einige sensationelle Aussagen. Elias Canetti betont, wie Veza Taubner durch die Lektüre der Lebenserinnerungen Wera Figners Nacht über Russland, erschienen im Malik-Verlag 1926, zur wirklichen Dichterin wird. „Sie (Veza, Anm. va) ist zum Künstler geworden.“312 Die russische Ärztin und Anarchistin der ersten Stunde, Wera Figner (1852–1942), hatte aufgrund ihres Engagements für bessere Lebensbedingungen der verarmten Landbevölkerung schon vor der russischen Revolution von 1917 rund 20 Jahre Gefängnis hinter sich. Wera Figner hatte kurz nach ihrem Medizinstudium in Zürich 1875 ein Landkrankenhaus in Saratow übernommen, das sie bereits 1879 wegen Verleumdungen wieder verlassen musste. Durch den erzwungenen Abgang verstärkte sie erneut ihr Engagement in den russischen Anarchistenkreisen – ein Engagement, das seine Wurzeln in der Zürcher Studienzeit hatte –, um wenige Jahre später dann wie viele ihrer Mitkämpfer verhaftet und eingekerkert zu werden. Nicht auszuschliessen ist, dass Veza Taubner Wera Figners Lebenserinnerungen Nacht über Russland nicht nur gelesen hat, sondern die deutsche Ausgabe für den Malik-Verlag auch lektoriert hat. Zudem verfügte der Malik-Verlag präzise in den zwei Jahren (1924–1926) vor dieser Publikation über eine Zweigniederlassung am Bauernmarkt 1 in Wien.

Überrascht hatte Elias Canetti zudem kurze Zeit zuvor Veza Taubners Roman-Manuskript Kaspar Hauser. „Beim Lesen geriet ich in immer grösseres Entzücken. Ich schämte mich der Novelle, an der ich in der letzten Zeit gearbeitet habe. Was ich schreibe, sind dünne, blasse, blutarme Phantasieprodukte; bei ihr hat jedes Wort Hand und Fuss, jeder Gedanke einen Anfang und ein Ende, jede Szene ihren klaren, organischen Zweck. Nichts ist zu viel, nur weniges zu wenig. Welchen Eindruck müsste das auf mich machen, bei dem fast alles zu viel und das Wesentliche zu wenig ist! Ich las noch keine halbe Stunde, – als ich schon so ausgelaugt, erregt, stolz, neidisch verblüfft, wütend und verlegen war, dass ich im Zimmer auf und abging, strengere Vorsätze für meine eigene künstlerischen Arbeit fasste.“313

Veza Taubner wäre nicht Veza Taubner, wenn sie sich eine Lobrede ihrer eigenen Arbeit durch jemand anderen einfach so anhören würde, entsprechend fällt ihre Reaktion auf das Lob des Kaspar-Hauser-Romans aus, wie Elias Canetti dokumentiert: „Ich kam also, von ihr beladen, auf sie gerichtet, durch sie gespannt, hin. Sie schnitt sofort die Rede ab. Sie blickte mit der echtesten, überzeugendsten Verachtung auf ihr eigenes Manuskript, das ich in der Hand hatte.“314 Veza Taubner wird in ihrer Antwort auf das Lob Elias Canettis etwas entwickeln, was für sie als Mensch und Dichterin gilt und genau das Gegenteil davon ist, was Elias Canetti für sich selbst zeit seines Lebens proklamieren wird. Präzise dieses Spannungsfeld nun, das sich mit Veza Taubners Antwort eröffnet, wird einerseits das Zusammenleben des Dichter-Ehepaares prägen und andererseits ihr eigenes Leben, ein prekärer Aufenthalt zwischen Leben und Werk, bestimmen, wie folgender Ausschnitt zeigt: „Sie will von diesem Dreck (Kaspar-Hauser-Roman, Anm. va) nichts wissen. Sie muss ein neues Leben beginnen. Sie muss unter Menschen. Sie muss etwas leisten. Lieber im Gefängnis zugrunde gehen als dieses Leben. Schreiben ist eine verächtliche, eitle, selbstgefällige Sache. Pfui Teufel, was geht sie der Kaspar Hauser an? – Sie sprach eine halbe Stunde lang mit der grössten Leidenschaft gegen sich, ihr Leben, ihren verächtlichen, feigen Charakter. Sie ist nichts weniger als rhetorisch begabt. Wirkliches Pathos geht ihr für gewöhnlich in der Rede völlig ab. Ihre angegriffene Lunge verbiete ihr längeres Sprechen. Umso mehr hatte der leidenschaftliche und auch äusserlich wirksame Erguss zu bedeuten. Eine ungeheuerliche Umwälzung ihrer Natur hat ein Buch bewirkt: die Erinnerungen der Wera Figner. Sie sprach von der Gemeinschaft, die die politischen Gefangenen sich in Schlüsselburg eingerichtet hatten und begann zu weinen. Sie will nach Russland. Als Lehrerin in einem Dorf oder nach Deutschland, um in der kommunistischen Partei zu arbeiten. Sie muss irgendetwas tun. Ihr bisheriges Leben ist eine Gemeinheit. Ich hatte die grösste Mühe, sie zu beruhigen. Es gelang mir nur langsam, die Sprache auf ihren Roman zu bringen. Anfangs setzte sie jedem Versuch heftigen Widerstand entgegen. Ihr sicherer Instinkt sagte ihr, dass eine künstlerische Begabung auf jeden Fall, – sie mag sogar soziale Ziele verfolgen, – ein Verharren, ein Baden, ein Verwurzeln in engster, persönlichster Eitelkeit bedeutet.“315

Dieser Text, der mir für meine Dissertation noch nicht zur Verfügung stand, beweist den damals nur textimmanent nachgewiesenen autobiografischen Gehalt der Erzählung Flucht vor der Erde.

Der Roman Kaspar Hauser selbst gilt als verschollen. Vieles muss Veza Canetti Mitte der 50er Jahre in einem Ansturm von Schwermut vernichtet haben, wie die biografischen Angaben ohne Quellenvermerk im Roman Die Schildkröten verzeichnen. (Sch 287) Möglicherweise war auch der Kaspar-Hauser-Roman darunter. Im Selbstporträt von Veza Magd im Band Dreissig Neue Erzähler des neuen Deutschland von 1932 hält Veza Taubner fest: „Mein erstes Buch war ein Kaspar Hauser-Roman, und ich schickte ihn begeistert einem grossen Schriftsteller. Der war so klug, mich so lange auf die Antwort warten zu lassen, bis ich sie mir selber gab.“316 Viel wurde in der Forschung zu Veza Canetti darüber spekuliert, wer der grosse Schriftsteller gewesen sein könnte, dem sie den Text geschickt haben könnte – beispielsweise Thomas Mann oder Hermann Kesten – leider gibt es weder für den einen noch den anderen Beweise. Von beiden Autoren ist bekannt, dass sie den ersten Roman von Elias Canetti Die Blendung zur Beurteilung erhalten haben – Thomas Mann muss Die Blendung als Manuskript gar nicht erst gelesen haben, sondern erst nach der Publikation von 1936. Von Hermann Kesten hat Elias Canetti nach der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 bereits am 25. Mai 1933 die Rückgabe des Roman-Manuskripts verlangt.317 Ein halbes Jahr zuvor, am 30. November 1932, hatte er sich für die Beurteilung eines Textes, wahrscheinlich eines Theaterstücks bedankt und hoffte nun, dass Hermann Kesten den 580-seitigen Roman ebenfalls irgendwann rezensieren würde. „Um beim Thema zu bleiben: Auch der Roman dessen Länge Sie abschreckt, behandelt die Geschichte eines verlorenen Verstandes. Der Träger ist interessant, sein Verstand noch mehr, wichtig war mir nur die Konsequenz, mit der er ihn verliert.“318 Aus dem Hause Canetti/Taubner müssten somit in den Jahren 1931 und 1932 mindestens zwei Romane und ein Theaterstück an einen oder mehrere berühmte Schriftsteller gegangen sein. Zu Veza Canettis Kaspar-Hauser-Roman hat sich bis heute keine Korrespondenz finden lassen.319

Warum Elias Canetti ausgerechnet an Hermann Kesten im Jahre 1963 geschrieben hat,320 dass Veza Canettis geistiger Anteil an Masse und Macht ebenso gross sei wie sein eigener, bleibt in diesem Zusammenhang Geheimnis.

Elias Canetti notiert 1981 zur Entstehung des Romans Die Blendung: „Diese Einbildung von mir, dass ich zum ersten Mal den Irrsinn erschöpfend dargestellt habe. Ob das nicht im ‚Lenz‘ auch schon da sei, und einem da nicht viel näher ginge? Gespräch mit Veza über den Roman, gegen den sie einen Groll hatte. (Die Leichtigkeit später, mit der sie das stenografische Original-Manuskript wegwarf, nachdem der Roman als Schreibmaschinen-Manuskript bestand. Wie ich in der Kohlenkiste drauf kam und einen Teil rettete.) Für sie seien die dramatischen Elemente des Romans das Beste daran. Das Verhör auf der Wachstube, ‚Privat-Eigentum‘ betitelt, hielt sie für das Beste des Buches.“321

Spekulation muss bleiben, ob allenfalls der Kaspar-Hauser-Roman in den Roman Die Blendung eingearbeitet wurde. Peter Kien, der sprachlose und lebensunpraktische Akademiker, wäre in seiner Umkehrung eine Relektüre oder Akzentuierung der Kaspar-Hauser-Figur.

Ein besonderes Detail der intensiven Zusammenarbeit von Veza Taubner und Elias Canetti notiert dieser im Jahr 1990 in den Aufzeichnungen zu Vezas Schreiben. Das Schreiben habe sie auf einer kleinen Schreibmaschine, „von der sie sich nie mehr trennte“322, besorgt. „Da schrieb sie mit einer Hand rascher als die meisten mit zwei. Sie bestand darauf, dass ich ihr diktiere und wenn ich den Versuch machte, durch Arbeit mit einer Sekretärin ihr diese Mühe zu ersparen, stellte sie sich gekränkt. Ich hätte kein Vertrauen zu ihr, ich wolle nicht, dass sie wisse, was ich schreibe, – sie stellte sich so hartnäckig an, dass ich jede Sekretärin nach einigen Wochen aufgab und wieder ihr diktierte. Sie war so glücklich darüber, dass ich mir keine Vorwürfe machte, aber ausserdem war es eine Freude, weil sie an allem teilnahm, ohne sich in die Arbeit einzumischen und mir immer das Gefühl gab, man schreibe etwas Wichtiges, das niemand anderer auf solche Art fertigbrächte.“323

Was nun allerdings einer kleinen Sensation gleichkommt, ist, dass Veza Taubner schon vor 1930 erfolgreich Texte verfasst haben muss. Wo und unter welchem allfälligen Pseudonym diese Texte publiziert wurden, ist bis anhin unbekannt. Elias Canetti notiert dazu am 22. August 1930: „(…) ihr früherer Erfolg, der zweifellos sei, rühre nur daher, dass ihre Schreibweise dem Zeitgeschmack entgegenkomme (…)“.324 Die früheste Publikation, die Veza Taubner zuzuordnen ist, datiert aber auf den 29. Juni 1932 mit der Erzählung Der Sieger in der Arbeiter-Zeitung. Die früheren Erfolge, wie Elias Canetti das Schreiben Vezas vor dem Jahre 1930 bezeichnet, bedeutet eine schriftstellerische, allenfalls journalistische Produktion von Texten – vor den bis anhin bekannten Publikationen in der Arbeiter-Zeitung –, und weist durch die Formulierung ihre Schreibweise dem Zeitgeschmack entgegenkomme auf ein eher populäres Medium325 hin. Die früheren Erfolge werfen eine ganz zentrale Frage auf: Was war vor Kaspar Hauser?

Elias Canetti stellt sich noch 1990 die Frage, ob Veza Canetti sich als Dichterin gesehen hat oder nicht. Er notiert dazu in Abgrenzung zur literaturwissenschaftlichen Forschung, die Vezas Behinderung hin und wieder gleichgesetzt hatte mit den unterfüllten Wünschen der Autorin: „Goethes Prometheus, ein Gedicht, das sie über alles liebte, schien ihr angemessen für einen Dichter. Sie war, wie sie dachte, kein Dichter, auch als sie sich nach einigen Jahren zum Schreiben gedrängt fand, hätte sie sich (nicht) als Dichter bezeichnet. Das war, wie sie dachte, mein Teil und sie empfand eine Verpflichtung dafür zu sorgen, dass es mein Teil blieb. Sie ärgerte sich, wenn ich das Wort, das für sie das höchste Denkbare enthielt, auf sie bezog und sagte häufig: ‚Ich bin ein kleiner Schreiber.‘

In allem war aber nichts von der Verkürzung eines Arms zu spüren. Diesen Irrtum hatte sie durch eigene Kraft richtig gestellt und es wäre eine dummdreiste Verfälschung gewesen, irgendetwas, was sich in ihr abspielte, darauf zu beziehen. In dieser Disziplin – man kann es nicht anders nennen – hat sich zeitlebens nie etwas bei ihr geändert. Sie fühlte sich intakt und war es aus innerer Kraft geworden. Ich fühlte solchen Respekt vor ihrer nie nachlassenden Kraft, die sich ohne jedes äusserliche Auftrumpfen ganz im Stillen abspielte, dass ich ihre Haltung übernahm.“326 Diese Passage entspricht auch der Einschätzung, die Elias Canetti zu Veza Canettis Behinderung präsentiert: „(…) statt des fehlenden linken Unterarms trug sie eine Prothese. Ich schreibe es jetzt nieder, worüber ich ein Leben lang schwieg. Von 1924, als wir uns kennen lernten, bis zu ihrem Tode 1963, 39 Jahre später, haben wir nie, kein einziges Mal davon gesprochen. Ich habe die Stelle des Arms, an die die Prothese sich fügte, nie gesehen, auch nicht die Prothese von innen, die sie sich Morgen für Morgen anschnallte. Der Ärmel hing nicht etwa lose herab, wie von augenlosen Bekannten behauptet wurde, sondern war von etwas Hartem erfüllt, über den er sich spannte. Die Finger der Prothese steckten in einem Handschuh, den sie immer trug. Damit das nicht zu sehr auffiel, steckte auch die rechte natürliche Hand (wenn sie nicht gerade bei sich zuhause unter nahen Freunden war) in einem Handschuh. Sie hatte es gelernt, sich mit vollkommener Natürlichkeit zu bewegen. Es gab Menschen, die sie während Jahren kannten und nichts von einer Prothese bemerkten. Allen fiel auf, dass sie immer Handschuhe trug, und so wenig vermutete man den wahren Grund dafür, dass ich manchmal später in England danach befragt wurde. (…) Sie war in allen manuellen Dingen äusserster Geschicklichkeit, sie nähte, sie schrieb, sie malte, als wäre es nichts.“327

Diese Einschätzungen Elias Canettis hinsichtlich der Stärke, die aus einer Schwäche erwächst, machen die grosse Nähe der beiden Autoren im Urteil über die Wechselwirkung zwischen Behinderung und Lebenstüchtigkeit deutlich. Denn auch Veza Canetti schätzt in der autobiographisch konnotierten Erzählung Drei Viertel die Behinderung von Menschen gerade im künstlerischen Bereich als einen Mehrwert oder eine Stärke ein.

Beim Urteil darüber, wer nun ein Dichter oder eine Dichterin sei, hat sich Elias Canetti womöglich vom viel dokumentierten Understatement Veza Canettis zu sehr leiten lassen und ihre Tätigkeit zu wenig explizit als die einer Dichterin benannt. Noch in den 30er Jahren hat sich Veza Canetti ohne Scheu als Schriftstellerin bezeichnet. In der Beglaubigung der Staatsbürgerschaft durch die Stadt Belgrad aus dem Jahr 1934 steht für Venetiana Taubner unter Beruf Schriftstellerin und drei Jahre später, 1937, schreibt Veza Canetti an Elias’ Bruder Georges: „Und dennoch darf ich nicht auf die Redaktion hinauf, dabei geh ich nur gern hin, weil man mich dort wie eine Schriftstellerin behandelt, ganz Respekt und Konvention.“ (BaG 91)

Völlig anders als in den 30er Jahren äussert sich Elias Canetti 1968 – die Zeiten hatten sich auch geändert – im Schweizer Radio in einem Interview: „Sie (Veza Canetti, Anm. va) war selbst Schriftstellerin, sie verstand etwas vom Metier.“328

In den unpublizierten Kapiteln aus Die Fackel im Ohr wird Veza Canettis diesbezügliche Professionalität noch ein wenig präziser erörtert und akzentuiert: „Alles was sie gebraucht hätte (Elias Canetti meint hier den Erfolg als Dichterin, Anm. va), hat sie mir vorausgesagt. Wer bin ich, dass ich dieses Leben angenommen habe. Wer hat ein Recht auf etwas, das auf alle Fälle mehr ist, als er je sein kann? Wenn eine Spur von Wahrheit sich in meinen Worten findet, so entstammt sie ihr.“329 Ein eigentlicher Höhepunkt im Urteil über Veza Canetti findet sich in den Jahre später entstandenen unpublizierten Kapiteln aus Das Augenspiel, hier notiert Elias Canetti beim Start ins Kapitel Der Zwerg: „Mein eigentlicher, mein intimster literarischer Freund war Veza.“330 Wer sich über viele Jahre immer wieder in grosser Selbstverständlichkeit nach dem Schreiben von Veza Canetti erkundigt, ist Hermann Broch. Er schreibt beispielweise 1934: „Ich bin betrübt, von Ihnen und Canetti überhaupt nichts zu hören. Was machen die Stücke – Alles Herzliche Ihres H. B.“331

Veza Canetti zwischen Leben und Werk

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