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A2.2 Die Grosseltern mütterlicherseits

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Der Grossvater Josef M. Kalderon ist spätestens seit 1877 in Wien wohnhaft und ab 1881 mit eigener Firma. Am Anfang mit wechselnden Geschäftspartnern wie mit den Brüdern Jacques M. Kalderon53 und Heinrich M. Kalderon, den Schwiegersöhnen Josef Cohen und Isaac Farchy, ab Ende der 80er Jahre führt Josef M. Kalderon das Geschäft in eigener Regie. Die Familie Josef M. und Veneziana Kalderon lebt nach Lehmann’s Adressbuch seit 1878 in Wien. Denkbar ist aber auch ein früherer Wohnsitz, da ein Kalderon M. oder Men. schon 1860 und 1861 mit einer Firma am Hafnersteig verzeichnet ist. Hier gibt es dann allerdings eine Lücke von 16 Jahren bis zum Jahr 1877, in der keine Kalderons mehr in Wien vermerkt werden.

Ab 1900 wird die Firma Josef M. Kalderon zu Josef M. Calderon & Söhne. Von den Söhnen ist allerdings nur noch Jacques J. Calderon in Wien wohnhaft.

Nach dem Tod des Grossvaters 1908 gibt es die Firma noch ein Jahr lang, aber bereits 1910 existiert sie nicht mehr.

1911 wandert der Sohn Jacques J. Calderon nach England aus und ab 1911 ist gleicherweise der zweite Sohn Morris J. Calderon in Wien nicht mehr registriert.54

Veza Taubners Grossmutter Veneziana Calderon, geborene Elias, lebt bis zu ihrem Tod im Jahr 1922 weiter an der Radetzkystrasse 13.55 In den Unpublizierten Lebenserinnerungen schreibt Elias Canetti über die Grosseltern von Veza: „Der alte Calderon, der eine Frau namens Veneziana Elias geheiratet hatte, war ein sehr wohlhabender und hochgeachteter Mann, der in der spaniolischen oder wie man sie offiziell nannte türkisch-israelitischen Gemeinde Wiens als grossherziger Wohltäter galt. Er hatte den ‚türkischen‘ Tempel in der Zirkusgasse gestiftet, auf zwei grossen Marmortafeln vor dem Eingang prangte rechts sein Name, links der seiner Frau.“56

Womöglich hatten diese Donatorentafeln etwas mit dem Neubau des türkisch-jüdischen Tempels in der Zirkusgasse 22 (1885–1887) zu tun. Es ist gut vorstellbar, dass der türkische Grosshändler Josef M. Calderon, der bereits seit zehn Jahren in Wien ein Geschäft führte, sich als Donator oder Sponsor für die Synagoge engagierte und damit auch profilierte. Der Neubau des erst 1868 errichteten Bethauses an der Zirkusgasse 22 war nötig geworden, da dieses „gleich zu Beginn grosse Mängel in der Planung“57 aufgewiesen hatte.

Konkreter zur Bedeutung der Donatorentafeln wird Elias Canetti in den Entwürfen zum Augenspiel, indem er bezogen auf seine Heirat in ebendiesem Tempel erwähnt, dass an diesem Ort ja schon seit Beginn eine Tafel mit dem Namen Veneziana Elias gestanden habe, der prophetische oder gleichsam visionäre Gehalt der Tafel offenbare sich nun bei der Hochzeit des Dichterpaares: „Wir heirateten Ende Februar 1934 im Tempel in der Zirkusgasse. Er war von Vezas Grossvater Rafael Calderon (Josef M. Calderon, Anm. va) für die spaniolische Gemeinde in Wien erbaut worden. In einer Mauer rechts vom Eingang waren zwei grosse Tafeln eingelassen worden, die den Namen des Stifters und seiner Frau trugen. Vezas Grossmutter, nach der sie genannt worden war, hiess mit Vornamen Veneziana. Mit ihrem Familiennamen hiess sie Elias. So stand auf der einen Tafel in grossen Goldbuchstaben VENEZIANA ELIAS. Seit der Erbauung dieses Tempels – ich denke, nicht lange vor der Jahrhundertwende – waren unsere Namen hier nebeneinander gestanden. (Sie finden sich heute nicht mehr dort. Im November 1938 wurde dieser Tempel wie alle andern in der Leopoldstadt in Brand gesteckt und die Tafeln herausgeschlagen.)“58

Eine total andere Bedeutung – ganz im Sinne des dialektischen Materialismus – erhalten Donatoren und ihre Tafeln in den literarischen Werken Veza Canettis. Der als sehr geizig geltende, Ehefrau und Kinder prügelnde Iger aus dem Roman Die Gelbe Strasse und dem Drama Der Oger erhält eine goldene Ehrentafel wegen seinen Spenden für das Kinderheim. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass es bei den grosszügigen Spenden von Iger nur um den Eintrag auf der Ehrentafel und die damit einhergehende Selbsterhöhung gegangen sei und nicht um das Wohlergehen der Kinder im Kinderheim. Noch sarkastischer ist diese Sachlage dargestellt in der nach 1933 nie mehr separat publizierten Erzählung Der Zwinger: „(…) in dem über jedem Bett eine grosse Marmortafel mit dem Namen des Spenders hing“.59 Diese Erzählung, in der tatsächlich im Zentrum ein Zwinger steht, mit dem im Volksmund eine Kinderbewahranstalt bezeichnet wird, wurde von der Autorin später zusammen mit der prämierten Erzählung Ein Kind rollt Gold zu einem Kapitel mit dem Titel Der Zwinger in den Roman Die gelbe Strasse eingearbeitet.

Eine sogenannte Kinderbewahranstalt befindet sich an der Unteren Weissgerberstrasse 12 unweit des Radetzkyplatzes, das heisst, des Wohnortes der Grosseltern, und damit nicht allzu weit entfernt von Veza Taubner, die nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter an der Matthäusgasse 5 ebenfalls in der Nähe des Radetzkyplatzes gewohnt hatte (1905–1911). Hier könnte die Autorin im Alter von 8 bis 14 Jahren mit Kindern aus dem Kinderheim – möglicherweise über den gemeinsamen Schulort – in Kontakt gekommen sein.

Bekannt sind die sehr häufigen Aufenthalte der Grossmutter Veneziana Calderon, geborene Elias, in ihrem Herkunftsort Baden bei Wien. Dies ist bezüglich Veza Taubner von Interesse, da sie ihre Grossmutter schon in der Kindheit an diesen Ort begleitet haben könnte. Hier kann sie schon sehr früh mit dem Dichter Alfred Grünewald in Kontakt gekommen sein, war er doch später assoziiert mit den Felonen (Gruppe sozialistischer Jugendlicher), die auch für Veza Taubner Bedeutung erlangen werden. Alfred Grünewald besuchte in Baden bei Wien häufig seine Schwester, die dort ihren Wohnsitz hatte. In der gleichen Strasse wie Grünewalds Schwester wohnte zeitweilig ausserdem Stefan Zweig.60 Exkurs: Vielleicht kann diese Gegebenheit die Existenz eines Gedichtes an Stefan Zweig erklären, das sich in Elias Canettis Nachlass befindet und undatiert ist, aber vor 1928 geschrieben worden sein muss. Es ist ein Hassgedicht oder eine Art Mitteilung an Stefan Zweig, darin dieser als Nebenbuhler in der Liebe oder Literatur aufscheint.61 Ob Elias Canetti mit der „Hur“ jemand aus dem Umfeld der Calderons gemeint haben könnte, geht aus dem Gedicht nicht hervor. Bestimmt ist es hingegen eine Anspielung auf Stefan Zweigs stadtbekannte Vorliebe für ganz junge Frauen. Gut dokumentiert ist jedoch, dass Elias Canetti Stefan Zweig über dessen Tod hinaus gehasst hat, obwohl ihm dieser 1935 seinen ersten Verlag vermittelt hatte.

„An Stefan Zweig

Auf wessen Schoss sie morgen

Ihren Altersschlaf hält

Und ob sie als zahnlose Hur

Dir noch besser gefällt.“62

Eine frühe Bekanntschaft von Veza Taubner mit Stefan Zweig – den Carl Zuckmayer als Katalysator für Talente bezeichnet – könnte viele, sehr frühe Kontakte (vor und nach dem Ersten Weltkrieg) von Veza Taubner in der Dichter- und Kunstszene Wiens erklären. „Stefan Zweig war ein ausgesprochener Katalysator: unerschöpflich seine Freude, Menschen, von denen er etwas hielt, zusammenzubringen. So habe ich erst durch ihn Joseph Roth, den er besonders liebte, auch Bruno Walter und Toscanini kennengelernt.“63

Stefan Zweig und Alfred Grünewald sind aber durchaus nicht die einzigen Kontakte zur Dichterszene, die die Familie Calderon gepflegt haben muss.

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