Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 6
Einleitung
ОглавлениеAus den Recherchen im Elias-Canetti-Nachlass und in verschiedenen Archiven Wiens, aber auch Deutschlands zum Thema Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus hat sich eine so grosse Fülle von biografischem Material, Veza Canetti betreffend, ergeben, dass sich das Schreiben einer Biografie geradezu aufgedrängt hat.
Bereits die Korrespondenz Veza Canettis sowie verschiedenes Material aus dem Nachlass von Elias Canetti – der auch den Nachlass von Veza Canetti beinhaltet – offenbart, dass die Autorin schon vor ihrer Zeit mit Elias Canetti mit der Künstler- und Dichterszene Wiens eng verknüpft war. Diese Nähe kann aber auch intertextuell nachgewiesen werden, wie unter anderem Veza Canettis gesellschaftskritische Aufarbeitung von Franz Csokors Theaterstück Die rote Strasse im Roman Die Gelbe Strasse zeigt. Veza Canetti hat sich intertextuell zudem mit Texten von Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch sowie Karl Kraus auseinandergesetzt.
Genau diese Art von vorhandenem Material, deren Kern immer auf ein In-Beziehung-Treten Veza Canettis zu anderen Künstlern und ihrem Werk hinweist, hat mich dazu bewogen, eine Netzwerk-Biografie zu schreiben. Überdies hat Veza Canetti mit dem Theaterstück Der Tiger und dem Lustspiel Der Palankin selbst Künstler- und Dichternetzwerke in den Städten Wien und London dargestellt.1
Die vorliegende Arbeit fügt sich in eine Reihe von Forschungsarbeiten ein, die zur Dichterin seit ihrer Wiederentdeckung – knapp dreissig Jahre nach ihrem Tod – anfangs der 90er Jahre erstellt wurden. Eva M. Meidl hat im Band Veza Canettis Sozialkritik der revolutionären Nachkriegszeit schon 1998 darauf aufmerksam gemacht, dass Veza Canetti als Produkt des Roten Wien bezeichnet werden kann. Angelika Schedel verknüpft in ihrer Dissertation von 2002, Sozialismus und Psychoanalyse, bereits ein erstes Mal Leben und Werk der Autorin, ihr gelingt damit ein Quantensprung bezüglich Material und Einordnung. Das Dossier 24 aus dem Verlag Droschl mit dem Titel Veza Canetti versammelt 2005 Aufsätze verschiedener Forscherinnen zur Schriftstellerin, sie wird darin als eine Autorin der Moderne bezeichnet und zwischen Neuer Sachlichkeit und Expressionismus positioniert. Julian Preece geht 2007 in The Rediscovered Writings of Veza Canetti schon von einer literary partnership von Elias und Veza Canetti aus. Meine eigene Dissertation aus dem Jahr 2017, Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, zeigt die verschiedenen Ebenen der Beziehung Veza Canettis zum Roten Wien – vom Empiriokritizismus eines Otto Neurath zu den Sozialwissenschaften Käthe Leichters, zur Individualpsychologie von Alice Rühle-Gerstel und weiter zur austromarxistischen Literaturtheorie Ernst Fischers.
Die Grundstruktur der vorliegenden Netzwerk-Biografie zu Veza Canetti bilden Konvergenzpunkte als soziale Räume oder Felder, deren Akteure sich als Positionen und Disposition dialektisch lesen lassen. Es handelt sich um Räume oder Grossstrukturen, in denen sich die Autorin bewegt hat. Es sind in erster Linie deren zwei, die Vorkriegsräume (vor dem Zweiten Weltkrieg) und die Exilräume, die unterschiedlicher nicht sein können.2
Die beiden Grossräume werden in je kleinere Räume oder Felder nach Massgabe der Quellen unterteilt und in der kontroversen Dialektik der Akteure gelesen, das heisst, die Räume werden aufgrund ihrer Kontroversität diskursiv herausgearbeitet. Differierende Lesarten der Quellen und Polyfokalität sind Programm des Vorgehens. Temporale Vor- und Rückgriffe werden gezielt eingebaut.
Dabei dienen zeittypische Erzählmuster als Folie sowie künstlerische Handlung als Reaktion auf historisch und milieubedingte Mechanismen.3 Im Zentrum steht dabei die Frage, was die Lebenswirklichkeit und die inszenierte Wirklichkeit unterscheidet.4 Schon aufgrund der Komplexität der Quellenlage ist dies keine einfache Frage. Beispielsweise äussert sich Elias Canetti zu verschiedenen bedeutenden Stationen im Leben von Veza Canetti zum Teil ganz divergent. Der grösste Unterschied ergibt sich zwischen den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis, aber auch die Aufzeichnungen, Notizbücher weisen je nach Lebensalter des Autors, in dem sie geschrieben wurden, grosse Differenzen auf. Als diskursives Korrektiv von Lebenswirklichkeit und inszenierter Wirklichkeit bei Elias Canetti dienen die Briefe von und an Veza Canetti aus verschiedenen Archiven sowie das erzählerische Werk Veza Canettis selbst. Mit einer gezielten Montagetechnik von Zitaten – einem Vorgehen, wie Veza Canetti es selbst in ihrem literarischen Werk anwendet – soll das Netzwerk der Autorin im Sinne einer Netzwerk-Biografie sichtbar werden.
Da die Werkgrenzen von Veza Canetti mit den vielen fliessenden Übergängen zu Ghost-Writing noch nicht klar definiert werden können – ein Forschungsdesiderat –, hat sich eine Ironisierung der Forderung „Eine kritische Biographie aber muss zwischen ‚Leben‘ und ‚Werk‘ genauer unterscheiden, als es den Hermeneutikern notwendig erscheinen mag“5 geradezu aufgedrängt. Die schillernde Ambiguität dieses Zwischen wird in der vorliegenden Netzwerk-Biografie als Ort definiert, an dem das gesamte offizielle und nichtoffizielle Werk von Veza Canetti zu entdecken ist – ein Tabu.