Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 8
A1. Familienkosmos am Kanal: Radetzkyplatz – Praterstern
ОглавлениеAuch die Grosseltern Vezas mütterlicherseits – der türkische Grosshändler Josef M. Calderon und seine Frau Veneziana, geborene Elias –, die ursprünglich ihre Wohnung in der Leopoldstadt, in der Unteren Donaustrasse 29 (ebenfalls in der Nähe der Synagoge in der Tempelgasse), hatten, wechselten die Kanalseite und wohnten spätestens ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Nähe des Radetzkyplatzes, und zwar in der Radetzkystrasse 13, bis zum Tod der Grossmutter anfangs der 20er Jahre.
Vor ihrer Ehe mit Hermann Taubner muss die Mutter Vezas mit ihrem halbwüchsigen Sohn Morris ebenfalls in der Radetzkystrasse 13 gewohnt haben, womöglich in der gleichen Wohnung wie die Grosseltern Vezas.
Auch der jüngere Bruder von Rahel Calderon mit Namen Morris/Maurizio J. Calderon, geboren 12.05.187012, lebte gemäss dem Adressbuch der Stadt Wien bis 1910 in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Oberen Weissgerberstrasse 11.
Von besonderem Interesse ist das Haus Radetzkystrasse Nummer 3. Hier, wo Veza als Kleinkind im Jahr 1900 gewohnt hatte, wird im Jahr 1924 Elias Canetti mit Mutter und Brüdern für ein Jahr wohnen.
Nach dem Auszug der Familie von Veza Taubner im Jahre 1900 wird Josef J. Calderon, der Bruder von Rahel Calderon, bei der Geburt seines ersten Kindes 1900 ebenfalls als in der Radetzkystrasse 3 wohnhaft gemeldet, bereits im Jahre 1903 aber schon nicht mehr. In dieser Wohnung, „möbliert, auf übliche, etwas schwere bürgerliche Weise“13, wie Elias Canetti schreibt, von „den gelben Ehebetten im Schlafzimmer bis zum dunkelblauen Buffet im Speisezimmer stand alles solid und wie für die Ewigkeit da“14, lebte nun bis zum Jahr 1920 eine Schwester von Vezas Mutter, nämlich Olga Levy, geborene Calderon, mit ihrem Mann Max Hirsch und mit den Kindern Charles (geboren 1893) und Katharina, genannt Kitty (geboren 1895). Olga Hirsch – die in Elias Canettis Lebenserinnerungen Olga Ring15 genannt wird – lebte nach dem Tod ihres Mannes den grössten Teil des Jahres bei einer Tochter in Belgrad16, sodass die Wohnung weitervermietet werden konnte, einzig ihr Sohn Charles alias Johnnie, der Barpianist, bewohnte das in Elias Canettis Lebenserinnerungen beschriebene legendäre Kabinett in der Radetzkystrasse 3. Dass ausgerechnet Veza bei der Familie von Elias Canetti die Miete für ihre Tante einkassieren ging, wird von Elias Canetti mit Johnnies Unfähigkeit im Umgang mit Geld erklärt: „Eine Zeitlang war es sein Amt gewesen, die Miete für seine Mutter einzuziehen und sie mit einigen Abzügen nach Belgrad zu überweisen. So lautete sein Auftrag, doch faktisch frassen die Abzüge die ganze Miete auf und für die Mutter blieb nichts. Alles, was sie bekam, waren unbezahlte Rechnungen, und da sie nicht wusste, wie sie bestreiten – von der glücklichen Ehe war nichts als die Wohnung übrig –, musste eine bessere Regelung getroffen werden. Ihre Nichte, Veza, übernahm es sich um die Vermietung der Wohnung und monatlich um die Einziehung der Miete zu kümmern.“17
Noch in den Entwürfen zur Fackel im Ohr hatte es geheissen: „Von Veza hatte man erfahren, dass die Wohnung zu mieten sei, sie selbst kam monatlich, die Miete einkassieren.“18
Elias Canetti hatte schon ein paar Monate vor der Radetzkystrasse 3 alleine mit Georges an der Praterstrasse 22 bei den Sussins (ein Häuserblock entfernt von der Ferdinandstrasse 29) gewohnt.19 Was die Vermittlung der Wohnung durch Veza Taubner, wie in den Entwürfen Elias Canettis notiert, wahrscheinlicher macht.
Tatsächlich war Elias Canetti in seiner ersten Wiener Zeit von 1913 bis 1916 ebenfalls in der Leopoldstadt wohnhaft gewesen. Das heisst, in der Josef-Gall-Gasse 5, wie er in den Lebenserinnerungen schreibt. Oft übernachtete er bei seinem Grossvater väterlicherseits in der Praterstrasse 72 im Hotel Austria, damit er frühzeitig am Sonntagmorgen in die Talmud-Thora-Schule in der Novaragasse gehen konnte, um Hebräisch zu lernen.20 Ganz in der Nähe, am Praterstern, wohnte die „interessanteste Freundin“21 von Elias Canettis Mutter, Alice Asriel.22 Elias Canetti freundet sich mit deren Sohn Hans Asriel an. Gemäss Die Fackel im Ohr wird er 1924 bei der „Wiederbegegnung“ im Haus der ebenfalls sephardischen Familie Asriel häufig den Namen Vezas hören.23 Auch die Herkunftsfamilie von Elias Canetti hat sich zwischen Radetzkyplatz und Praterstern bewegt wie Veza Taubners Mutter Rahel Calderon und die Grosseltern Calderon-Elias. Kleiner Exkurs: Reine Spekulation bleibt vorerst, ob das Kindermädchen aus dem Jahre 1913 mit dem Namen Fanny – das Elias Canetti und seine sehr kleinen Brüder in den Prater begleitete – möglicherweise die Freundin Veza Taubners war. In den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis wird eine Freundin Vezas als Fanny bezeichnet.24