Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 19
A2.3.2.1 Olga Hirsch
ОглавлениеOlga Hirsch, die um zwei Jahre ältere Schwester von Rahel Calderon, wird in den Entwürfen zu den Lebenserinnerungen von Elias Canetti folgendermassen beschrieben.
„Ihre Tante war eine feurige, schöne Frau, mit dem kühnen Gesicht einer Römerin, stattlich und stolz, die älteste (glaube ich) der sechs Calderon-Töchter, in Wien aufgewachsen, nach Zemlin (?) zuständig (?) (gegenüber von Belgrad), das noch zur alten Monarchie gehörte.“70 Sie ist die einzige Schwester Rahel Calderons, die von Elias Canetti näher beschrieben wird. Wie ihre Schwester Rahel hat Olga Calderon früh geheiratet und sich bald wieder scheiden lassen. Im Jahr 1893 – nur vier Jahre vor der Schwester Rahel – heiratet sie den Ungaren Max/Moritz Hirsch, einen Kaufmann. Rahel und Olga wohnen bereits in den 1880er Jahren während ihrer beiden ersten Ehen, die dann beide fast gleichzeitig geschieden wurden, in unmittelbarer Nähe an der Schmelzgasse 6 und 9 in der Leopoldstadt. Nach dem Tod von Hermann Taubner und vor der Heirat mit Menachem Alkaley – somit bis ins 14. Lebensjahr von Veza Taubner – wohnen die beiden Schwestern Calderon wiederum in grosser Nähe zueinander – nämlich am Radetzkyplatz (Radetzkyplatz 3 und Matthäusgasse 5). Zufall oder nicht, die neuen Ehemänner der beiden Calderon-Schwestern sind Ungarn und im Handel tätig, der eine als Reisender und der andere als Kaufmann. Auch sind die Kinder von Rahel und Olga im gleichen Alter. Der fast schon legendäre71 Sohn von Tante Olga, Charlie Hirsch, ist nur vier Jahre älter als Veza und Olgas Tochter Katharina, genannt Kitty (in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde so eingetragen), zwei Jahre älter. Auf einem Foto von 1915 ist Veza mit ihrer Tante Olga und deren Mann Max Hirsch im Eingang zu einer Alphütte in Alt-Aussee zu sehen.72 Ob Veza Taubner regelmässig mit der Familie Hirsch Ferien in Alt-Aussee verbracht hat, kann vorerst nicht mit weiteren Quellen belegt werden. Einen interessanten Einblick in die wienerisch geprägte Kulturszene am Ferienort Alt-Aussee, betreffend den Sommer 1916, gibt Auguste Mayer (geboren 1892), eine Bankierstochter aus Wien, in ihren unter dem Pseudonym Gusti Stridsberg verfassten Lebenserinnerungen Menschen, Mächte und ich. „Ende Mai verliessen wir Wien. Mama hatte eine Villa in Alt-Aussee gemietet, das allmählich ein Sammelpunkt vieler Wiener wurde, die das schwerkranke Österreich nicht verlassen wollten (…) Hans von Kaltenegger (…) Hermynia von zur Mühlen (…). Im Parkhotel wohnte Arthur Schnitzler mit Frau Olga. Fast täglich traf ich die beiden auf den Waldwegen, die an unserem Hause vorbeiführten, zumeist in Gesellschaft von Jakob Wassermann.“73
Falls Veza Taubner tatsächlich mit ihren Verwandten regelmässig Ferien in Alt-Aussee verbracht hat, würde das viele sehr frühe Bekanntschaften der Autorin in die Dichter- und Künstlerszene Wiens – möglicherweise schon vor dem Ersten Weltkrieg – erklären und akzentuieren, wie zum Exempel eine Bekanntschaft mit Jakob Wassermann und Marta Karlweis, die in Alt-Aussee lebten, oder mit Hugo von Hofmannsthal, Hermann Broch, Robert Neumann und Friedrich Thorberg, die alle oft ihren Sommer da verbrachten.74
Zur Bedeutung der Familie von Olga Hirsch für Veza Canetti gibt es aus dem Jahr 1946 in einem Brief an Georges Canetti eine sehr eindrückliche Passage. „Immer wenn ich lese, wie sie hungern (die Österreicher nach dem Zweiten Weltkrieg, Anm. va), geh ich in die Küche und esse ein Ei, manchmal geh ich in unser vornehmes Restaurant und denk daran, wie sie hungern, und esse Brathuhn. Ja, es schaudert einen, aber meine liebe Tante Olga wurde in die Gaskammer gebracht mit ihren Kindern und Enkeln, acht an der Zahl, sie wurden vor ihren Augen ermordet, und damit ist die Sache klar … gibt es in Châteaubriant übrigens Kinos, denn ich muss jeden zweiten Tag einen Film sehen, sonst werd ich verrückt.“ (BaG 211)
Charlie Hirsch, der Cousin von Veza Canetti, wird von Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen als Barpianist bezeichnet; seine Familie hätte ihn für einen Schubert gehalten, dabei sei er ein abgefeimter Schmeichler gewesen, er sei für eine Frau gehalten worden und mit Geld habe er gar nicht umgehen können. Deshalb habe Veza bei ihnen die Miete für Olga einziehen müssen. Charles Hirsch ist gemäss Wiens historischem Adressbuch Adolph Lehmann’s nur ein einziges Mal, im Jahr 1923, an der linken Wienzeile 14 mit einem Theatergeschichtlichen Büro eingetragen. Ob dies möglicherweise wegen des temporären Charakters in Zusammenhang mit dem Musik- und Theaterfest von 1924 in Wien75 steht, ist nicht bekannt. Zu seiner Tätigkeit als Pianist schreibt Elias Canetti: „Es war, als habe die alte Monarchie noch bestanden, besonders der ungarische Teil war in der Bar, wo Charlie Hirsch spielte, gut vertreten.“76 In mehreren Durchgängen versucht Elias Canetti 1977 der Figur von Karl Hirsch oder eben Charlie gerecht zu werden. Einerseits entwirft er ihn als erfolglosen, alten, dicken und verfetteten Schwulen – Hirsch war da Ende 20 –, andererseits wird Charlies Interesse für die Lektüre des Studenten Elias Canetti dargestellt. Die Verachtung von Elias’ Mutter gegenüber dessen homosexuellen Kontakten habe ins Gegenteil umschlagen können, wenn es sich bei dessen Geliebten um einen Grafen, wie zum Beispiel den Ungarn Graf Tisza, gehandelt habe.
„Wenn er sie auf den häufigen Gängen von seinem Kabinett in die Toilette und zurück traf, grüsste er nicht nur, sondern pflegte gleich etwas anzufügen, was sich auf einen Grafen bezog. ‚Ein nobler Mensch, der junge Tisza‘, sagte er dann, ‚ich war gestern wieder mit ihm zusammen. Der lässt gerne was springen. Sparen ist ein Wort, das es in seiner Sprache nicht gibt. Er kommt mich bald besuchen. Er würde Sie interessieren, gnädige Frau, darf ich ihn vorstellen, wenn er kommt?‘ Eine boshafte Frage. Sie hätte es gewiss nicht verabscheut, einen Grafen Tisza kennen zu lernen, aber durch den Charlie Hirsch, nein, das schien ihr dann doch zu verächtlich. ‚Wenn ich gerade da bin, vielleicht‘, sagte sie. ‚Aber Sie können ihn doch schwer im Kabinett empfangen!‘ ‚Warum nicht? Das ist er gewohnt. Er macht keine Umstände. Die feinsten Herren sind immer am nettesten. Er pflegt nur ganz überraschend zu kommen, ohne sich anzusagen. Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn er plötzlich da ist.‘
Die Mutter blieb unschlüssig und versprach nichts, aber der Gedanke beschäftigte sie, dass Graf Tisza plötzlich vor der Türe stehen und – was noch viel schlimmer wäre – sich zu erkennen geben könnte, wenn er läutete und sie ihm öffnete, könnte sie nicht mehr ausweichen. Dann hätte sie ihn kennengelernt, und zwar durch den Charlie Hirsch (als seinen Freund). Sie sprach oft davon, die Vorstellung quälte sie. Trotzdem war es ihr lieber, sie erlitt diese Demütigung, – denn als suche sie eine Bekanntschaft über Charlie Hirsch. Was auf jeden Fall zu vermeiden war, war dass ich in die Sache hineingezogen wurde, das fand sie viel schlimmer. Ich war schon von der allgemeinen Verachtung angesteckt, mit der man über den Adel sprach und kam ihren Wünschen mehr als ihr lieb war entgegen. In meinen Augen gehörte es zu den bedenklichsten Punkten des Ch. H., dass er soviel von Aristokraten sprach und sie als seine Freunde bezeichnete. Mir schien jede Gesellschaft besser als seine.“77
Zu Karl Hirsch schreibt Veza Canetti in einem Brief von 1946, indem sie den Heiratswunsch von Maud Arditti ironisiert: „Ein Gentleman und das Muster der guten Kinderstube, feine Manieren – ist der Karl Hirsch … “ (BaG 224)
Zu Vezas Cousine Kitty/Katharina Hirsch gibt es noch weniger Informationen. Laut den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien muss sie 1920 einen Bernhard Reich geheiratet haben. Ob es sich dabei um den später in der Sowjetunion berühmt gewordenen Dramaturgen Bernhard Reich (den späteren Ehemann von Asja Lacis) handelt, der tatsächlich 1915 in Wien zum Dr. iur. promoviert wurde und sich bis anfangs der 20er Jahre in Wien als Regisseur betätigt hat, ist unsicher.78
Veza Taubner selbst verwendet in der Erzählung Der Kanal den Namen Kitty als Chiffre für eine Prostituierte. Ein Mädchen namens Emma wird von der Schwester der Dienstbotenvermittlerin, der Bordellbesitzerin Vass, gegen ihren Willen mit ein paar äusserlichen Kunstgriffen zur Prostituierten zurechtgestutzt: „Wie heisst Du mein Kind?“ „Emma Adenberger.“ „Das geht hier nicht. Hier wirst du Kitty heissen. Zieh das an!“ (GSt 109)