Читать книгу Veza Canetti zwischen Leben und Werk - Vreni Amsler - Страница 20
A2.3.2.2 Camilla Spitz
ОглавлениеDie zweite Calderon-Schwester, die nachweislich eine Rolle im Leben von Veza Canetti gespielt hat, ist die jüngste Schwester der Mutter mit dem Namen Camilla. Mit Jahrgang 1884 ist sie nur um 13 Jahre älter als Veza. Aus den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti geht hervor, dass sie eine Art Salon in der Seilerstätte, gerade gegenüber dem Ronacher-Theater, geführt haben muss. Sie war verheiratet mit dem um 20 Jahre älteren Alfred Spitz, einem Juwelier. Er war Teilhaber der Firma Alfred und Hugo Spitz, Kammerjuweliere. Bei der 1907 geborenen Tochter von Camilla Spitz mit dem Namen Veneziana (!) handelt es sich nicht um die spätere Veneziana Cansino, die 1946 in einem Brief von Veza Canetti an Georges Canetti als „am liebsten“ (BaG 207) bezeichnet wird; diese sogenannte Lieblingscousine Veza Canettis ist eine Tochter von Morris J. Calderon, Veza Canettis Onkel mütterlicherseits, und lebt – was die 20er Jahre betrifft – in England. Über eine Beziehung Veza Canettis zu Veneziana Spitz hingegen ist nichts bekannt. Mit Elise (genannt Lily) Spitz, der zweiten Tochter von Camilla Spitz, geboren 1911, bleibt hingegen eine Freundschaft über das Exil hinaus bestehen. Lily Spitz ist Tänzerin und Assistentin von Grete Wiesenthal. Von 1929 bis 1933 veranstaltet Lily Spitz als Lily Calderon, wie sie sich als Künstlerin nennt, vier Tanzabende in der Volkshochschule Urania, im Winter 1932/33 drei Tanzspiele im Volksheim Ottakring: Haltet den Dieb, Der Reiter von Flandern und Die kleine Dreigroschenmusik (Musik von Kurt Weill).79 Lily Spitz startet Ende der 20er Jahre eine internationale Karriere als Tänzerin und geht 1940 nach Amerika ins Exil. In einer Kurzbiografie notiert ihr späterer Ehemann Ted Stone: „She was born 22 March 1911 in Wien as Elise Spitz. But as a dancer, she was known as Lily Calderon which was her parent’s family name.“80 Lily Stone starb 1990 in New York. Grete Wiesenthal schreibt an ihre ehemalige Assistentin und Schülerin Lily Spitz nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1947, wie sie beim Vorübergehen am Haus an der Seilerstätte hinaufschaue zum Balkon und sich der Besuche bei ihnen erinnere.81 Lily Spitz hatte ihr ein Paket mit Kaffee, Kleidern und Weiterem geschickt. Ted Stone schreibt: „In Vienna she was Erste Assistentin bei der Tanzschule Grete Wiesenthal. (…) She danced with many other groups in Europe, including Italy, Spain and England. (…) She never lost touch with Frau Wiesenthal and they constantly wrote each other.“82 Diese Erklärung Ted Stones wird gut dokumentiert durch den regen Briefwechsel zwischen Grete Wiesenthal und Lily Spitz nach dem Zweiten Weltkrieg, das ehemalige Arbeitsverhältnis der beiden Frauen mündete in eine lebenslange Freundschaft über die Kontinente hinweg.83 Eine undatierte, bestimmt aber vor dem Zweiten Weltkrieg geschriebene Karte der Grete Wiesenthal aus Stockholm an Camilla Spitz an der Seilerstätte in Wien offenbart nachdrückliches Interesse an Veza Canettis Tante Camilla und dem gemeinsamen Freundeskreis in Wien: „Liebe Frau Spitz! Wie geht es Ihnen denn? Schreiben Sie mir doch einmal ich würde mich sehr darüber freuen. Ich denke oft an die guten Freunde in Wien.“84
Elias Canetti schreibt nach dem Tod von Veza Canetti am 20. Mai 1963 an Lily Spitz: „Wir dachten daran, im kommenden Jahr nach U.S.A zu gehen, und da hoffte sie (Veza, Anm. va) sehr, Dich zu besuchen.“85 Von Lily Spitz ist bekannt, dass sie die Schwarzwaldschule86 besuchte. Ob sie durch diese Schule ein erstes Mal in Kontakt mit den Schwestern Wiesenthal, die am dortigen Mädchen-Realgymnasium Tanz unterrichteten, kam oder ob es genau umgekehrt war, dass Grete Wiesenthal zuvor schon im Salon Spitz verkehrt hat, ist nach heutiger Quellenlage nicht definitiv zu entscheiden.87 Veza Canetti selbst hat nach Auskunft Elias Canettis in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen ebenfalls Tanzkurse bei Grete Wiesenthal besucht: „Veza, die immer schon für ihre Lehrerinnen geschwärmt hatte, liebte und verehrte die Wiesental, ihren Namen sprach sie auf unnachahmlich gehobene Weise, er blieb ihr sozusagen in der Nase stecken, die lang und gebogen zu einer Hülse wurde, solche Kostbarkeiten barg sie gern und gab sie nicht leicht her.“88 Nach Auskunft des Stadt- und Landesarchivs Wien war Veza Taubner hingegen nicht Schülerin der Schwarzwaldschule gewesen.89 Da Grete Wiesenthal nicht nur an der Schwarzwaldschule unterrichtet hat und 1917 ausserdem eine eigene Tanzschule gründete, ist der Tanzunterricht von Veza Taubner bei ihr durchaus plausibel.
Ein weiterer Grund für die grosse Verehrung der Grete Wiesenthal durch Veza Taubner könnte überdies im zeittypischen Paradigmenwechsel im künstlerischen Tanz gesucht werden, der von einem Feuilletonisten noch vor dem Ersten Weltkrieg folgendermassen zusammengefasst wurde: „Ich könnte mir eine moderne Tänzerin denken, die auf Krücken tanzt.“90 Veza Taubner fehlte der linke Unterarm.
Ob Veza Taubner an der Schwarzwaldschule als Lehrerin tätig gewesen war, kann ebenfalls nicht belegt werden, gehört aber in den Bereich des Möglichen.91 Zu ihrer Unterrichtstätigkeit schreibt Veza Taubner unter dem Pseudonym Veza Magd im Band Dreissig neue Erzähler des neuen Deutschland 1932 in den Notizen über Leben und Werk: „(…) an einem Privatuntergymnasium fand ich Anstellung als Lehrerin“92.
Interessanterweise gibt es mit Lily Spitz auch später noch Gemeinsamkeiten, hatte die Tänzerin doch schon anfangs der 30er Jahre während eines Engagements in London ihren Wohnsitz in Hampstead, wie auch später wieder, vor ihrer endgültigen Migration nach Amerika im Jahr 1940. In Hampstead werden die Canettis wie viele weitere Wiener Künstler, Dichter und Politiker nach ihrer Flucht im Jahre 1938 Wohnsitz nehmen.
Im erst posthum publizierten Drama Veza Canettis, Der Tiger, erscheint ein kleines Porträt einer international tätigen Tänzerin, vielleicht hat sich die Autorin von Lily Spitz inspirieren lassen:
„ BUFF tanzt herein. Sie ist klein und ihr Kopf wird von ihrer Nase heruntergezogen. Sie kreist um Smith, ihr Blick bleibt gebannt auf seinen Schuhen haften. Sie winkt allen zu, sitzen zu bleiben, dann spricht sie in schadhaftem Englisch. I have changed my mind, I have thought, I must come in, after all.
SMITH Smart. I’m afraid, we’ll have to speak German.
BUFF setzt sich. Wissen Sie, dass ich Sie neulich fasziniert beobachtet habe?
SMITH erstaunt. Mich? Mich haben Sie beobachtet?
BUFF Im Kaffee zum Tiger, Wissen Sie, was mich an Ihnen fasziniert hat?
SMITH Aber nein, das weiss ich nicht.
BUFF Ihre Füsse.
SMITH entsetzt. Meine Füsse.
BUFF Elastisch und doch kräftig. Tanzen Sie?
SMITH Es ist mir sehr leid, ich tanze nicht.
BUFF Schade. Sie sind d e r Tänzer. Sie kommen aus London?
SMITH Amsterdam.
BUFF schleudert den Stuhl weg und saust zum Grammophon. In Amsterdam habe ich grosse Erfolge gehabt, mit diesem Tanz – sie sucht unter den Platten und legt den Türkischen Marsch von Mozart ein. Ich find ihn leider nicht hier, aber das ist auch im ständigen Reportoire – sie beginnt zu tanzen und sinkt nach dem Tanz Smith zu Füssen. Man kann hier nicht gut tanzen, zu wenig Raum. Zigarette, bitte.
SMITH reicht ihr eine Zigarette und Feuer. Ja, natürlich. Man muss fliegen können.
BUFF Wie Sie mich verstehen!
SMITH Danke sehr.
BUFF Wann sind Sie in New York.
SMITH Ich denke im Winter.
BUFF Dann sehen wir uns dort. Sie springt auf, macht eine Pagenverbeugung und geht durch die Mitte ab, von Pasta gefolgt.“ (DF 117 f.)