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Carbon

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Das Erste, was Bérénice Savoy bemerkte, war eine Veränderung der Geräuschkulisse. Sie hatte sich an das ständige tiefe Wummern des Antriebes, das Zischen der Belüftungsanlage und das Knacken sich an- und entspannenden Materials so gewöhnt, dass der erste neue Ton ihr Ohr sofort erreichte und in helle Aufregung versetzte. Sie erhob sich aus der Liegestützposition und blieb mit geschlossenen Augen stehen.

Ja, da war es wieder. Ein entferntes Krachen, gedämpft, aber immer wieder auftretend, dabei langsam näherkommend. Die Abstände waren unregelmäßig, also wahrscheinlich nicht maschinell, sondern von Lebewesen erzeugt. Sie hörte fast fünf Minuten zu, wie das Geräusch aus weiter Ferne heranrückte. Fast befürchtete sie, man hätte sie nun doch aufgespürt, als sie noch rechtzeitig bemerkte, dass der Lärm nicht direkt auf sie zukam, sondern schräg an ihr vorbeilaufen würde, sollte sich an der Richtung nichts ändern. Das allerdings konnte immer noch der Fall sein, schließlich verzweigten sich Frachtrampen, Zufahrtswege, Containerschienen, Mannschaftsgänge, Lifte und Räumlichkeiten jeder Art zu einem Labyrinth, welche es schwer machten, nur aufgrund eines Geräusches die exakte Quelle des Lärms zu lokalisieren. Aber wenn man wie Bérénice Jahre an Bord verschiedener Raumschiffe gedient hatte, entwickelte man allein aus Überlebensgründen ein Gespür für jegliche Art von Geräusch im Weltraum.

Bérénice war sich sicher, dass das Geräusch nur eines bedeuten konnte: Endlich hatte der Frachter sein nächstes Ziel erreicht. Ob Raumstation, Planet oder Mond, konnte sie natürlich nicht vorhersagen, aber sie würde das Schiff verlassen, so viel war klar. Sie wollte, wenn möglich, keinen einzigen weiteren Tag an Bord dieser Sackgasse verbringen. Sie musste weiter!

Bérénice verharrte in angespannter Haltung zwischen einer Hydrauliksäule der Verladerampe und einem baumdicken Bündel aus Kabeln und Leitungen. Trotz Beleuchtung herrschte in dem engen Zwischenraum, in dem sie sich duckte, dämmrige Dunkelheit. Sie beobachtete die Ausladung des vielleicht dreißigsten oder vierzigsten Frachtcontainers. Sie hatte längst aufgehört zu zählen, aber immer noch tauchten aus den Tiefen des Schiffes neue Container auf. Alle fuhren auf den in den Boden eingelassenen Transportschienen, kein einziger Behälter hatte eine Besatzung oder begleitendes Frachtpersonal. Im Gegensatz zu dem Monster-Container waren diese alle absolut gleichförmig, jedes Detail schrie ihre Normierung förmlich hinaus. Einzig der Zustand der Außenhüllen ließ auf unterschiedliches Alter und differenzierte Beanspruchung schließen. Die haitianische Frau erkannte auf jeder Fläche der Container handflächengroße Displays mit extrem kontrastierenden Markierungen darauf. Sicher handelte es sich dabei um Identifizierungs- und Inhaltsdaten.

Wären nicht die Verlade- und Empfängertrupps aus zwei Dutzend Lebewesen direkt vor der Rampe gewesen, hätte sie schon längst ihr Glück versucht. So kauerte sie lautlos vor sich hin fluchend im Halbdunkel und wartete nur darauf, dass sich die Verladetätigkeit in ihre Richtung umkehrte. Sie hoffte auf einen Zeitraum, in dem die planetaren Empfänger mit ihrer Ware verschwanden und Platz machten für die Versender neuer Güter. Wenn dann keine Gelegenheit zur Flucht bestand, würde Bérénice sich etwas Neues einfallen lassen müssen. Sie würde auf keinen Fall noch weitere Wochen oder gar Monate auf dem Sambolli-Frachter verbringen wollen. Leider sah sie keine Chance, eine ähnliche Verwirrung wie bei ihrem Boarding zu veranstalten. Aber auch wenn sie einen Vorfall hätte provozieren können, hätte sie es nicht gewagt. Die Sambolli waren nicht dumm. Es würde irgendjemand sicher misstrauisch werden, wenn jedes Mal ein Chaos entstand.

Sie spielte schon mit dem Gedanken, sich einfach an einen der Container anzuhängen, als sich die Größe und Form der Behälter von einem zum nächsten unvermittelt änderte. Die neuen Gefäße waren erheblich kleiner und maßen vielleicht drei Meter in der Länge, etwa zwei Meter im Durchmesser und glichen anstelle von Quadern eher rundlichen Kokons. Für einige Sekunden hing ihr Blick wie gebannt an den in dichter Folge herangleitenden Gegenständen. Vorsichtig erhob sie sich aus ihrer Kauerstellung und stieg an Stabilisierungsflanschen etwa zwei Meter weiter in die Höhe. Erneut sah sie auf die Kokons. Jetzt erkannte sie, was da vorbeifuhr.

Särge.

Dutzende, fünfzig, sechzig, immer mehr. Einer nach dem anderen. Wenn der Abstand so bliebe und sich die Geschwindigkeit nicht änderte, würden innerhalb einer Stunde mehrere hundert, wenn nicht gar Tausende Leichen an ihr vorbeiziehen. Dass es sich tatsächlich um Särge handelte, erschloss sich ihr ziemlich klar aus dem Umstand, dass auf der oberen Wölbung der Kokons – Särge! – transparente Scheiben die Gesichter von toten Sambolli erkennen ließen. Alle zeigten das graue Fleisch toter Lebewesen. Auch Sambolli hatten Blut, zwar nougatbraunes, nichtsdestotrotz eben Blut. Und ein toter Sambolli sah genauso wächsern aus wie ein toter Mensch. Viele, sehr viele zeigten Verletzungen. Ein schrecklich großer Anteil davon mit entsetzlichen Verunstaltungen. Manch ein Gesicht war als solches gar nicht mehr erkennbar. Mit einigem Grauen beobachtete Bérénice die Prozedur und mochte sich gar nicht ausmalen, in welchem Zustand sich der Rest eines im Gesicht entstellten Sambolli befinden mochte.

Mitgefühl mit den Toten kämpfte in ihr auf einmal mit aufkommender Wut. Ihre Augen sahen keine verunstalteten und getöteten Sambolli mehr, sondern plötzlich ebenso hässliche Bilder von gefallenen Menschen. Spacetroopern. Kameraden. Vielleicht ersetzte ihr Unterbewusstsein das reale Bild der vernichteten Feinde durch Bilder von vermissten, höchstwahrscheinlich im Kampf gefallenen Troopern ihrer eigenen Einheit.

Bérénices Blick füllte sich mit Tränen. Und niemandem hätte sie erklären können, was sie mehr entsetzte. Der Anblick vor ihr oder die Bilder in ihr. Sie zollte fast jedem Sarg einige Tränen, bis sich ihr Blick wieder etwas klärte und einem neuen Gefühl Platz machte.

Eiseskälte.

Ice.

Mit verächtlicher Geste wischte sie die Tränen aus ihrem Gesicht und rannte ohne Rücksicht auf mögliche Beobachter in das Raumschiff hinein, dicht entlang der Reihe der Särge. Nach ungefähr einhundert Metern machte der Schienentransport eine leichte Krümmung. Sie spurtete dort hin, hantierte mit aller Kraft an den Verschlüssen eines Sarges und schaffte es, innerhalb einer halben Minute den Deckel zu öffnen und hochzuwuchten. Nur eine Schrecksekunde hielt sie inne, als sie die entstellte Leiche sah, dann packte sie entschlossen zu und rollte den Toten aus dem Kokon. Sie dankte dem Schicksal, dass die Sambolli den Behältern niedrige Kantenhöhen verliehen hatten, denn sonst hätte sie es niemals geschafft, den großen, schweren Körper zu bewegen. Mit entschlossenem Griff zog sie den Sambolli an einem Bein über den glatten Boden. Hastig riss sie das Katana vom Rücken und schlug brutal zu. Einer der allgegenwärtigen Müllschächte nahm die Leiche ohne Proteste auf, den abgeschlagenen Kopf des Sambolli hielt sie an den Blätterhaaren in der Linken.

Bérénice rannte dem davongleitenden offenen Sarg nach, stopfte ihre Habseligkeiten in den Fußraum, hechtete hinein und schloss den Deckel. Die Verschlüsse schnappten hörbar ein. Später! Sie legte sich einen Fetzen Leichentuch über ihr Gesicht, danach mit beiden Händen den Sambollikopf darüber. Sie hoffte, dass ihre Hände im Dickicht der haselnussbraunen Haarpracht des Toten niemandem auffallen würden. Ein naher Blick konnte sie aber dennoch verraten. Dazu kam ihr rasender Puls und sich heftig hebender Brustkorb. Sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoss und sie zum x-ten Male schweißgebadet war. So langsam wurde das zu einem Dauerzustand. Sie schloss die Augen, um sich auf die Beruhigung ihres Körpers konzentrieren zu können. Vor sich selbst gab sie zu, dies auch deswegen zu tun, um keinen klaustrophobischen Anfall zu erleiden, den sie jetzt als Allerletztes gebrauchen konnte. Es war eine Verzweiflungstat, sicher. Aber war dies nicht alles, was sie in den vergangenen Monaten getan hatte? Der Leichengeruch brachte sie wieder in die Realität zurück.

Ausatmen, anhalten, entspannen. Atmen, halten, entspannen.

Der Container fuhr zwar recht ruhig und anscheinend aus Respekt vor den Toten deutlich langsamer als die Behälter mit irgendwelchen Waren, aber trotzdem spürte sie den Wechsel von der Transportschiene auf ein unbekanntes Fahrzeug. Sie betete, dass niemand einen genaueren Blick durch das Sichtfenster machte. In dem Moment, als der Behälter heftig ruckte, öffnete sie die Augen und sah helles Licht hereinfallen.

Odyssee

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