Читать книгу Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan - Страница 10
5.
Оглавление»Wir sind da, Sonja. Hier wohne ich. Allerdings müssen wir vier Etagen hinauf Treppen steigen. Einen Fahrstuhl gibt es leider nicht.«
Meine Wohnung lag direkt unter dem Dach und war nicht groß. Wegen der Dachschrägen besaß ich nur niedrige Möbel. Bett, Tisch und Regale. In der Küche stand die Spüle, ein Kühlschrank und ein Herd.
»Möchtest du lieber im Bett oder auf einer Luftmatratze schlafen, Sonja?«
»Ich kann auch auf blankem Boden schlafen. Wenn man mich nur lässt. Das ist egal. Wenn ich aber bitte eine Decke oder einen Mantel haben könnte.«
»Auf dem blanken Boden kommt ja gar nicht infrage. Setz dich an den Tisch, ich suche die Luftmatratze. Muss hier irgendwo sein, können wir dann gemeinsam aufpusten. Möchtest du was trinken?«
»Nein, im Moment nicht. Ich würde gerne die Geschichte von Holger weiter hören. Habt ihr öfter über ein zweites Leben gesprochen?«
»Worüber? Ach so, nein, das war bloß so eine verrückte Idee von mir gewesen, purer Blödsinn. Ich wollte ihn lediglich ein wenig ablenken. Wo zum Teufel ist denn nur diese verfluchte Drecksluftmatratze? Ich weiß, dass hier eine sein muss. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Holger und ich wollten in die Trattoria in der Berliner Straße. Langsam, immer wieder eine kurze Verschnaufpause einlegend, wanderten wir in Richtung Berliner Straße. Die meisten Menschen liefen hastig an uns vorüber, beachteten uns kaum. Nur wenige warfen Holger einen kurzen Blick zu, betrachteten mich abschätzend und schauten sofort weg. Mir missfielen die Blicke, Holger wohl weniger.
›Wie fühlst du dich?‹, fragte er schmunzelnd.
›Das peinlich berührte Wegsehen geht mir auf den Senkel. Was würdest du tun, wenn dich jemand anspricht und fragt, was mit dir los ist?‹
›Wird schon niemand tun.‹
Holger hatte sich bei mir untergehakt und blieb stehen, um Atem zu holen, obwohl wir wirklich langsam schlenderten.
›Wie kannst du dir da so sicher sein?‹
Er winkte hustend ab. ›Meine Blicke sind gefährlich. Mein Atem ist ansteckend. Mein Schweiß ist tödlich.‹
Ich knuffte ihn mit der Schulter. ›Hast du noch alle beisammen? Nun mach mal halblang. Diesen Stuss glaubt dir kein Mensch.‹
Holger schniefte. ›Hast du eine Ahnung. Die Leute haben Angst, sie wissen bloß nicht so genau, wovor eigentlich. Sie wissen, dass es AIDS heißt und von Schwulen und Negern ausgeht – laut BLÖD – Zeitung und Fernsehen. Wenn man uns aus dem Weg geht, ist alles unter Kontrolle. Besteht keine Gefahr. Wie bei den wunderbaren Atomkraftwerken, die sind so was von todsicher, keine Gefahr – der Tod ist allerdings sicher, das stimmt! Es hieß, bei der Atomkraft könnte einmal in zehntausend Jahren – vielleicht – etwas passieren. Am 28. März vor zehn Jahren war der Atomunfall in Harrisburg und vor zwei Monaten, am 26 April ist Tschernobyl hochgegangen – das waren in der Tat kurze 10.000 Jahre. Harrisburg wirst du nicht kennen, da warst du gerade mal sieben. Habt ihr in Physik drüber gesprochen? Na also. Tschernobyl ist doch noch schön frisch. Dürfen die Kinder nicht mehr auf der Wiese spielen wegen der Atomwolke. Es bestehe keine wirkliche Gefahr, ach nee, ist alles in bester Ordnung. Die strahlendsten Pilze gibt es massenweise zu kaufen – wo gerade Pilze besonders gut Strahlung speichern. Aber dies entspringt nur meinem kranken Hirn, muss wohl zu oft Pasta con i funghi gefuttert haben. Und der Strom kommt sowieso aus der Steckdose. Ich bin hingegen eine Gefahr. Vor 20 Jahren hätte man mich für meine Neigung in den Knast gesteckt. Paragraf 175 hieß das beim Adenauer. Und unter dessem Vorbild hätte man mich im KZ vergast. Mit demselben Gas, made in Germany, das Deutschland inzwischen in alle Welt exportiert, weil deutsche Herrenmenschen schon wieder und nach wie vor das beste Gas herstellen, um Untermenschen weltweit umzubringen und damit Hitlers Vermächtnis erfüllen. Jeder nur erreichbare Nazifunktionär wurde doch vom Bundeskasper in die Regierung befohlen, damit der sich ungestraft aufführen konnte wie der letzte Deutsche Kaiser. Glotz nicht so dämlich, Achim. Was glaubst denn du, aus welchen Rattenlöchern die rheinischen Kanaillen ihre Ganovenfreunde an den Wurstkessel geholt haben, damit die endlich belohnt wurden? Nazimassenmörder kamen spät oder am besten erst gar nicht vor Gericht. Nazirichter sprachen noch Recht mit Pensionsanspruch. Nazilehrer führten die Jugend im alten Sinne. Was hat der liebe Konrad sich gefreut, wenn kleine Mädchen vor ihm knicksten wie vor Hitler. Muss ja auch ein feines Gefühl sein. Gestapo und SS-Leute sorgten für Recht und Ordnung und deren Söhne tun das bis heute. Auf schamloseste Nazis wie Lübke, Filbinger und Globke konnte unser Kanzler der Wiederbewaffnung keinesfalls verzichten. Und auch jetzt kann das einfache Volk sich nicht gegen die neuen Nazis wehren, denn die sitzen längst ganz weit oben und müssten sich ja selber abschaffen. Ich sage dir, Achim, bevor das Jahr 2000 beginnt, sitzen in den Parlamenten mehr Nazis als zu Hitlers Zeiten. Deutschland wird garantiert wieder eine führende Kriegsnation sein auf der Welt. Deutsche Soldaten an sämtlichen Fronten vorneweg mit den mörderischsten Waffen, die bei uns zu kaufen sind. Es ist nun mal einfacher, bei der Bundesregierung eine Lieferung Kampfpanzer samt Giftgasgranaten in Krisengebiete durchzudrücken, als eine einzige Woche Rüstungsverzicht zu erreichen. Jedem Diktator das beste Gas, um die Leute, die gegen ihn sind auszumerzen, wie es heißt. Dazu kommt die Hauptsache, dass die Rüstungskonzerne blühen. Deutsche Waffen sind die besten – todsicher. Und alle schneiden sich ein dickes Stück vom Waffengeschäft an Diktaturen ab – Hitler hat es doch grandios begonnen – MAN, Siemens, Degussa, MBB und so weiter, nur ein kleiner Auszug von Namen die für die deutsche Industrie stehen. Ach so, ja, die Arbeitsplätze. Muss man als guter Deutscher großes Verständnis haben, dass an deutschen Arbeitsplätzen gute Herrenmenschen Mordwerkzeuge gegen Untermenschen der Diktaturen in aller Welt bauen. Her mit dem Krempel made in Germany – the best of the world und dem dranhängenden Reibach, dem Geldadel zum Vergnügen – ach, ich schweife ab. Was wollte ich sagen? Ja, für euch da draußen bin ich schon tot. Ich meine nicht dich persönlich, schau mich nicht gleich so pikiert an, Achim. Aber für die Normalen, wie du so schön gesagt hast, bin ich nur eine schwule Sau, die man ausrotten sollte, und die den Steuerzahler viel Geld kostet. So ein Blödsinn, ich bezahle alles selber und ich muss mich bei niemandem entschuldigen.‹
›Bei mir erst recht nicht. Komm mal wieder auf den Boden.‹
›Tja ... okay, ich bin selbst schuld an meinem Zustand. Glaub mir, ich habe die Welt beobachtet. Ich scheiß auf die Welt, nehmen wir nur diese Stadt. Nehmen wir zum Beispiel dieses Haus!‹
Holger zog den Arm aus meinem und blieb stehen. Ein schlichtes Mehrfamilienhaus mit sechs Briefschlitzen, Namensschildern und ebenso vielen Klingelknöpfen neben der Hauseingangstür, einfache Bürgerlichkeit. Holger fuhr mit den Fingerspitzen über die Tasten, ohne Druck auf eine einzige auszuüben. Er schaute mich an. Mit einer Kraft im Blick, die ich seit Langem nicht mehr an ihm bemerkt hatte.
›In diesem Haus wohnte ein Mensch, der war mal ein guter Kunde von mir.‹ Holger las die Namen auf den Klingelschildern. ›Wohnt noch. Ich habe ihm ab und zu einen hübschen Knaben vermittelt und er hat gut gezahlt. Eine Hand wäscht die andere. Manus manum lavat, kapiert? Videos, Gleitcreme, und gelegentlich etwas Besonderes – ein völlig normaler kleinbürgerlicher Chauvinist. Verheiratet, zwei Kinder – ein vorbildlich treusorgendes Familienoberhaupt. Allerdings mit einer heimlichen Vorliebe für dunkelhäutige Knaben in deinem Alter. Gar nicht mehr eingekriegt hat er sich manchmal vor Lust und einen fetten Schein draufgelegt und noch einen. Und wie es so geht im menschlichen Leben, irgendwann wurde seine Kohle knapper. Und da hat ihn einer der Bengel ausgelacht, warum spielt keine Rolle. Oder vielleicht doch. Der respektierte Familienvater wollte gefürchtet sein, liebte es streng zu erziehen. Aber hübsche Jungs, die sich gerne erziehen lassen, sind zum einen recht kostspielig und tun auch nur so als ob – keine Knete, keine Tränen. Wenn du wüsstest, welche Magazine ich heranschaffen musste, um ihm neue Fantasien zu bescheren, dir würden die Augen übergehen. Irgendwann hat ihn einer der Jungs, der mir lachend davon berichtete, auf offener Straße angesprochen ... und mein Kunde befürchtete, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren. Also entschied er sich für gutbürgerliche Küche ... ach was, Biederkeit wollte ich sagen. Seitdem ist er lautstarkes Mitglied einer Zucht und Ordnungspartei! Immerhin ein psychologischer Gewaltakt. Vom Rammler zum Rindvieh. Wegsperren oder töten, was nicht ins Schnittmuster der wiedergewählten bürgerlichen Einfältigkeit passt.‹
›Holger, hör auf. Meinst du nicht, du übertreibst mächtig?‹
›Von wegen, außerdem darf ich so reden, ich bin bald tot. Aber wenn es dir nicht passt. Bitte.‹
Wir zogen weiter und Holger schwieg tatsächlich eine Weile. Dann blieb er erneut stehen und schaute mich an.
›Was glaubst du? Hatten Adam und Eva einen Nabel?‹
›Was ist los? Biste meschugge geworden? Was soll jetzt der Blödsinn?‹
›Gar kein Blödsinn, Achim, bloß eine sachliche Frage. Und, nur weil sie diese Frage gestellt haben, sind schon ein Haufen Menschen vom katholischen Klerus gefoltert und verbrannt worden. Nun stell dir mal vor, wie viele Menschen erst verbrannt werden würden, wenn die Schwulenseuche sich wie eine Pandemie verbreiten würde? Noch trifft es ja angeblich nur uns und ein paar Nutten, nicht wahr? Auch so ein Ding. Nehmen wir mal an, nur jede hundertste Nutte wäre infiziert. Das wären allein in Deutschland rund hunderttausend schwer schuftende Horizontalarbeiterinnen. Ein paar mehr oder weniger spielen bei dem Gedankenspiel keine große Rolle. Nicht, dass du mich missverstehst, ich kenne zahlreiche Frauen und Männer, die sich für Geld hergeben – möchte gerne mal wissen, wie viele Vergewaltigungen und Sexualmorde nicht passieren, weil sie sich hergeben. Prophylaktisch sozusagen, aber ich schweife ab. Also, je nachdem hat jede von diesen herrlichen Frauen und Jungs, oder nennen wir sie mal an Ehrenmännern arbeitenden Frauen und Jungs, durchschnittlich drei, vier oder mehr Kunden am Tag. Mal so, mal so. Und mir haben einige von Kunden erzählt, die doppelt und dreifach zahlen, damit ohne Gummi gevögelt wird. Ja, genauso wie ich, bloß habe ich nicht dafür zahlen müssen, hahaha. Guck nicht so bescheuert, meinst du, ich hätte mich beim Wichsen infiziert? Morituri te salutant. Schließlich stehe ich bald bei Petrus vor der Tür. Wer weiß, vielleicht kann ich im Himmel endlich mal wieder ... oder in der Hölle – soll ja da wesentlich wärmer sein. Wo war ich gerade stehen geblieben? Ach ja, manche Herren zahlen also, um endlich mal wieder einen oder eine Knackige nach Schwanzeslust vollspritzen zu können. Gehen dann zur Arbeit. Und nach des Tages mühsamer Last, legen sie – noch aufgegeilt vom Morgen – die Ehefrau flach. Die wundert sich natürlich nicht schlecht – mein Reinhold oder Oskar ist heute aber feurig. Damit der Herr des Hauses sich wohlfühlt und Ruhe gibt, gewährt sie ihm sein Recht. Wozu Gummi?, argumentiert er. Er ist ja in seinem Revier und seine Frau treu wie Gold. Überhaupt alle sind treu und ... was wollte ich jetzt eigentlich damit sagen?‹
›Keine Ahnung, du hast mit Politik angefangen und danach was von Treue und Bumsen ohne Gummi erzählt. Meines Erachtens ist bei dir eine Schraube locker. Mindestens eine!‹
Holger holte Atem. ›Weil ich ausspreche, was vor sich geht und dann den Faden verliere? Mein Gedächtnis ist ein Sieb – Moment, mir fällt es wieder ein. Ich wüsste zu gern, wie viele Ehemänner sich zum Beispiel beim Rammeln mit kleinen Mädchen auf dem Junkiestrich infiziert haben – den Mädchen ist es wurscht, woran sie verrecken, Hauptsache Geld für den nächsten Schuss. Und der Herr gibt den Segen zu Hause weiter – es handelt sich ja schließlich nur um eine Schwulenseuche. Und die Leute haben deswegen nicht nur vor mir Angst, sondern ebenso vor dir.‹
Mir sträubten sich die Nackenhaare. ›Vor mir? Wiesoherdenn?‹
›Siehst du, das ist so. Mir sehen die Leute an, was los ist und alle ekeln sich. Solltest du ebenfalls besser tun, glauben ganz besonders die, die wegschielen. Denn du hast das ihrer Vermutung nach wahrscheinlich auch.‹
›Bekommt dir die frische Luft nicht?‹
›Doch, Achim, doch. Genau darum geht es. Die Menschen glauben dem Fernsehen zum Beispiel, wenn gesagt wird, alles sei nur halb so schlimm. Alles unter Kontrolle. Sie wollen glauben, weil man dann nicht denken muss. Somit kann AIDS gar nicht so schlimm sein, wenn man nur brav wegsieht und so einen wie mich nicht beachtet. Du hingegen bist der Teufel in Person. Denn obwohl du ja Bescheid wissen müsstest, lässt du dich von mir sogar unterhaken. Also sollte man dich genauso töten oder wegsperren wie mich. Du bist für die Weg- und Fernsehgucker genauso entartet wie die Ärzte, die sich – Gott sei Dank im Himmel – um uns kümmern. Ebenso wie die Einrichtungen, die uns aufnehmen, wenn sonst niemand sich mehr zu unserer Pflege herablässt. Ein Raucher, dem beide Beine abgenommen werden oder ein Säufer, dem die Leber platzt – alles nicht so schlimm. Alles im Griff. Saufen ist außerdem fast so etwas wie Bürgerpflicht, denk allein an die Steuereinnahmen. Wenn die wegfielen! Ein Gläschen in Ehren, kann ja wohl so schlimm nicht sein. Aber richtig guten Sex haben, das ist immer noch Bäh-Kram. Darüber redet man bestenfalls hinter vorgehaltener Hand. Den haben nur wenige – für Geld. Frag mal ein paar Nutten, was die Kerle ihnen so alles erzählen, wie es zu Hause abläuft. Samstag, Sportschau, Tagesschau, Volksmusik und wenn Vati genug intus hat, die normale allwöchentliche 08/15 Pflichtübung. Das Weib sei dem Manne untertan. Pünktlich das Essen auf den Tisch und Klappe halten. Es darf einfach keine hemmungslose Lust an der Lust geben. Daher darf diese Krankheit ja eigentlich auch nur uns entartete Lustsklaven treffen, das ist schon gerecht. Und dich trifft der Volkszorn, weil du mich begleitest. Denn das ist unnormal! Oder entartet, wie es bei Schicki hieß.‹
›Von wem redest du? Wer ist Schicki?‹
›Na, der Kerl soll doch mal Schickelhuber geheißen haben oder so. Das Mistvieh mit dem Bärtchen, der Hitlinger! Meine Güte, bist du schwer von Begriff!‹
›Der hätte besser frühzeitig ins Gras gebissen!‹
›Ausgezeichnete Idee. Was dann wohl gewesen wäre?‹
Ich zwinkerte Holger zu. ›Keine Ahnung, was dann gewesen wäre. Aber wenn meine Oma einen Pimmel gehabt hätte, wäre sie mein Opa gewesen. Das hat mein Zahnarzt mal gesagt.‹
Holger lehnte sich mit tränenden Augen an einen Stromkasten am Bürgersteig.
›Ich habe schon die drolligsten Zitate von den sonderbarsten Leuten gehört, aber dass jemand seinen Zahnarzt zitiert, ist der Gipfel der Krönung.‹«