Читать книгу Déjà vu eines Versagers - Werner Koschan - Страница 13
8.
ОглавлениеWir verteilten die verschiedenen Zutaten für unseren Salat auf einem großen Glasteller zu einem bunten Gesamtbild. Die Streifen Putenbrust in der braunen Butter verbreiteten einen längst vergessenen Duft in meiner Wohnung.
Zwei magere kleine Steaks hatten wir ergattert. Seit urlange vergangenen Zeiten briet ich Fleisch in Olivenöl. Mensch, Holger, das muss mehr als zwanzig Jahre her sein. Ich wäre alleine nie wieder auf die Idee gekommen, erst durch Sonja war die Erinnerung plötzlich wieder da. Ich wurde das komische Gefühl nicht los, dass sie mein Leben völlig umkrempeln wird – wenn ich sie für mich gewinnen kann. Komisch, so habe ich eine Beziehung nie gesehen.
»Magst du dein Steak medium, Sonja?«
»Bitte nicht blutig, davor ekle ich mich.«
Wir aßen mit Genuss und tranken etwas Wein.
Sonja klebte das Briefchen mit den Pillen aus dem Gymnasium unter eine Milchtüte aus Plastik und legte das Päckchen in den Kühlschrank.
»Man kann nie vorsichtig genug sein«, sagte sie. »Und da wir heute Wein haben, sparen wir uns das Vergnügen für morgen oder übermorgen auf. Alkohol und ... da kommt man manchmal unter die Räder. Heute genügt der Wein vollkommen. Berichte weiter von Holger.«
»Nö, jetzt erzähl du mal. Ich bin eine Neugiernase, mir reicht es einfach nicht, nur mit Leuten über mich zu quatschen. Ich möchte auch gern mehr wissen. Woher, wohin und warum, zum Beispiel. Besonders das Warum finde ich spannend. Nehmen wir dich. Seit wann lebst du auf der Straße?«
Sonja wirkte wie eine Katze auf dem Sprung. Ich trank einen Schluck Rotwein und stellte das Glas ab.
»Es geht mich einen Scheißdreck an, ich weiß. Aber du machst mich neugierig. Von dir möchte ich gern mehr wissen. Du brauchst natürlich überhaupt nichts zu erzählen, wenn es dir stinkt, okay. Wir können ja dann stattdessen über das Wetter reden.«
Sonja wirkte ein wenig sentimental, schien zu überlegen. Nachdem ich die geleerten Gläser gefüllt hatte, trank sie einen großen Schluck und schaute an mir vorbei.
»Seit ich fünfzehn bin. Mit vierzehn bin ich von zu Hause weg. Erst in ein Heim, da bin ich ganz schnell abgehauen. Ich war eine Weile in Holland. Dort lebte ich mit einer Freundin zusammen. Wir haben hier und da was verkauft und waren zufrieden. Dann fing sie an zu spritzen und hing bald darauf richtig an der Nadel. Als ihr Dealer zum ersten Mal mit langhaarigen Muskelprotzen antanzte, um die Schulden einzutreiben, bin ich abgehauen. Ich mag nicht anschaffen gehen. Dann war ich lange in Berlin und bin schließlich hier gelandet.« Sie hob die Augenbrauen. »Das war es. Nicht sehr aufregend, was?«
»Klingt stark gerafft. Du hast vorhin erzählt, dass du Stress mit deinem Stiefvater gehabt hast, weil der dir an die Wäsche ging und du deswegen von zu Hause weggelaufen bist. Okay, mit dem Gedanken ans Abhauen spielt jeder Jugendliche irgendwann, oder zumindest die meisten. Aber Mama kocht und Papa bringt die Knete, das verbindet. Eine Weile jedenfalls.«
»Mich verbindet nichts mit denen. Es geht im Grunde niemanden etwas an, andererseits ist es kein Geheimnis. Seit ich denken kann, war der Bruder meiner Mutter mein Lieblingsonkel. Wann immer es nur ging, habe ich bei ihm und seiner Familie die Ferien verbracht. Er hat zwei Töchter. An jenem Tag waren meine Tante und die Cousinen frühmorgens unterwegs gewesen. Ich schlafe gern lange und war mit ihm allein im Haus. Dabei hätte ich mir nichts weiter gedacht. Doch diesmal war ich wirklich allein und er stand an meinem Bett. Ich hatte keine Chance. Nachdem er fertig war, drohte er mir und ging duschen. Da bin ich losgelaufen. Zuerst nach Hause. Ich habe meiner Mutter alles erzählt. Sie nannte mich ein billiges Flittchen. Mein Stiefvater hat mich geschlagen, weil ich den guten Ruf der Familie ruinieren würde. Dann hat er sich selber an mir bedient. Da bin ich eben ganz weg. Reicht das oder willst du es ganz genau wissen?«
Sie wirkte während dieser Schilderung eher unbeteiligt und undurchsichtig. Wie kann ein Mensch nur so kühl bleiben?, dachte ich. Sie lachte aus den für mich so faszinierenden Augen, die je nach Lichteinfall im Schwarz schattenhaft grün oder grau schimmerten.
»Du musst mir nicht glauben, aber du hast mich gefragt.« Sie reckte sich.
»Warum hast du die beiden Scheißer nicht angezeigt?«
»Du Schaf, wer glaubt denn schon einer Vierzehnjährigen! Entweder wir zeigen unsere Titten zu sehr oder zu wenig. Oder wir geben uns zu offen oder zu verschlossen – wir sind auf jeden Fall schuld. Mein Onkel war ein ehrbarer Mann, Ernährer der Familie und ein so genannter treusorgender Vater noch dazu. Ich war nicht mehr als ein kleines, hübsches Miststück ohne Sinn für Anstand oder Ehre. Hat zumindest mein Stiefvater so zu mir gesagt. Alle Männer sind doch gleich.«
Viel zu schweres Geschütz für mich. »Ich bin auch ein Mann!«
Sie grinste und betrachtete mich abschätzend. »Sieht so aus, aber es gibt solche und solche.«
»Was heißt das jetzt wieder?«
»Du bist komisch.«
»Ach. Ich war bisher davon überzeugt, ein ernsthafter Mensch zu sein. Komisch finde ich meist nur andere.«
»Ich bin hier in deiner Bude. Du hättest also – nach üblicher Männerauffassung – das Recht auf deiner Seite. Ich würde auch tun, was du willst, Mann. Es wäre mir vielleicht nicht einmal unangenehm. Ich täte es allerdings nicht freiwillig, das ist der springende Punkt. Musst ja nicht gleich rot werden, Achim. Komm, erzähl weiter von Holger, der interessiert mich mehr als du. Kein Verstorbener ist nämlich wirklich tot, solange wenigstens ein einziger Lebender an ihn denkt. Das hat Käthchen mal erwähnt, der Spruch ist irgendetwas Jüdisches, sagte sie. Ich denke zum Beispiel oft an Käthchen. Hieß eigentlich Katharina. Diese altertümliche Koseform liebte sie – der Grund spielt keine Rolle. War ein Geheimnis zwischen uns. Ich habe sie sehr geliebt – nicht wie du denkst. Sie war meine beste Freundin. Leider konnte sie dem Zeug nicht widerstehen. Das habe ich befürchtet, als sie sich die erste Spritze setzen ließ. War ein Dreckskerl wie sonst keiner, aber sie hat ihn zum Leben gebraucht – behauptete die blöde Ziege. Beschissene Scheiße! Käthchen ist in Holland erst an Gelbsucht erkrankt und dann sozusagen im eigenen Dreck verreckt. Gespritzt habe ich nie, geraucht und gekokst schon. Du?«
»Nein, ich habe meist gesoffen – in der Reminiszenz wird das Ergebnis auch nicht viel prickelnder sein. Hauptsache, man hat Spaß dabei. Dass wir leben, ist Zufall, dass wir sterben, ist absolut gewiss. Sterben okay, erzähle ich weiter von Holger. Ich glaube, ich habe ihn geliebt – nicht so, wie du meinst, eben wie du dein Käthchen. Lach nicht! Nun gut, Marion hatte die Bestellung aufgenommen. Wir waren immer noch die einzigen Gäste. Den Prosecco trank Holger mit geschlossenen Augen. Den Rotwein, dessen Herkunft Holger irrtümlich mit Seveso verwechselte, hatten wir bestellt. Er erzählte mir, jenes Weingut früher jährlich zu den exquisiten Weinproben besucht zu haben, um sich persönlich von der herausragenden Qualität zu überzeugen. Holger nippte mit geschlossenen Augen. Es funktionierte. Engländer drücken es prosaisch aus: Make love to your drink. Holger erweckte den Anschein, als ließe er jede einzelne Reise in diese Weingegend an der Seite seiner verschiedenen Intimfreunde in Gedanken Revue passieren. Manchmal öffnete er die Augen und lächelte mit gequält wirkenden Lippen.
Den Salatteller teilten wir uns. Na, Salatteller ist gut, sehr gut sogar. Ein Mordsbrummer war das, und die Soße ein Gedicht. Holger nahm zwei, drei Hummerkrabben, ein wenig frisch geraspeltes Gemüse, einige Oliven. Dann legte er die Gabel beiseite.
›Wahrlich ein Augenschmaus. Und die Soße begeistert mich genauso wie früher. Vor allem des Salates wegen bin ich hergekommen. Wer auch immer hier Koch ist, musste ausnahmslos besondere Salatsoßen bauen können. In vielen Läden wird gespart und man nimmt Salatöl in dem Glauben, dass die Gäste dies nicht bemerken. Salatöl, pfui Deibel. Kurbelwellen sollte man damit behandeln, keinen Salat verderben. Willst du mein Rezept für erstklassige Salatsoßen wissen, Achim? Olivenöl gehört dazu. Bestes Olivenöl, sonst kannst du noch so viel Knoblauch reinpfeffern, es schmeckt nicht halb so gut, wie es aussieht. Kommt auch auf den Salat an. Stell dir bitte mal vor, Walnuss- oder Olivenöl, Senf, Honig, Salz, frischer Zitronensaft und bunter Pfeffer, frisch gemahlen. Und dann nicht irgendein Olivenöl, sondern extra vergine. Kalt gepresst.‹
›Kalte gequetschte Jungfrau klingt irgendwie unanständig‹, meinte ich. ›Hast du schon immer so viel Ahnung vom Kochen gehabt?‹
›Ahnung ist vielleicht zu viel gesagt. Es macht einfach Spaß, gezielt einzukaufen und in der Küche zu experimentieren. Manchmal klappt es, manchmal nicht. Wenn es nicht klappt, befördere ich den Segen unter ständigem Rühren ins Klo. Ist mir durchaus passiert, aber nicht weiter schlimm. Ein Freund von mir arbeitete nebenbei in einer Kneipe und in einem Restaurant, um sich sein Hobby, die Schauspielerei zu finanzieren. Und der Koch in dem Restaurant hat jahrelang in Amerika gearbeitet. Deswegen Senf und Honig. Wenn der für sich selbst kochte, experimentierte er auch, allerdings keinesfalls im Restaurant. In Fresstempeln muss nämlich möglichst alles gleich schmecken, behauptete er. Sonst würden die Gäste skeptisch.
Der hat mir mal erzählt, dass er im Beruf Gutes möglichst günstig kauft, aber für sich selbst ausschließlich nur das Beste. Und wenn das Beste ein wenig zu teuer sein sollte, dann kauft er eben nicht so viel davon. Weniger sei manchmal mehr. Hundert Gramm sauberes, frisches Filet seien auf jeden Fall wesentlich besser als fünfhundert Gramm Bratenfleisch, auch wenn die fünffache Menge Zähfleisch genauso viel kostet – das Gleiche gilt für Gulasch. Außerdem hat er mir mal unter Brüdern, ha, ha, ha, erzählt, wenn ich wüsste, dass genau der Trick so mancher Kollegen darin bestünde, mieses Fleisch bloß lange genug zu braten, damit es zahnfreundlich gerät und einem Filet ähnelt, würde kein Mensch mehr ... aber das würden sowieso nur die wenigsten Gäste merken. Na ja, ich weiß nicht. Warten wir mal ab, wie die Pizza hier heute sein wird.‹«
»Sonja, ich muss sagen, dass deine Soße wirklich Spitzenklasse war. Die hätte Holger sicherlich geschmeckt. Ich muss zugeben, ich habe seit Jahren keinen Salat mehr gegessen. Und ich habe das Dasein schon lange nicht mehr so genossen, wie diesen Tag mit dir. Früher war ich vielleicht sogar ein ganz klein wenig ein Genießer. Jetzt, wo ich von Holger erzähle, fällt mir vieles wieder ein. Bevor das mit meinem Auge passiert ist, hatte ich Hoffnungen und Ziele. Dann war ich hoffnungslos und ziellos. Ich habe das Gefühl, dass du mein Leben vollständig umkrempelst.«
»Du wiederholst dich. Hast du mir nicht versprochen, friedlich zu sein? Na, also. Außerdem weiß ich das, ich kann nämlich zaubern. Vielleicht zeige ich es dir, aber erst will ich wissen, was war nun mit der letzten Ölung?«
»Wie bitte? Ach so, Holger.«
»Ja. Gieß noch mal ein und erzähl weiter.«
»Gerne, wer ertrinkt, kann nicht gehängt werden – ach vergiss es, sollte ein Scherz sein, na ja. Darf ich auch noch ein Glas? Danke, es heißt nämlich, es sei nicht gut allein betrunken zu sein. So ein Schmarren, man muss nur besoffen genug sein, dann klappt das prima. Magst du einen Armagnac, Sonja? Hier probier mal, das Zeug ist älter als ich. Habe ich damals meinem Alten aus dem Keller geklaut und aufgehoben. In der Schule hat man mir beigebracht, dass die Erde ein Krümel unter unzähligen Milliarden anderer Krümel ist. Und wenn ich besoffen genug bin, fühle ich manchmal die Unbegreiflichkeit des Universums. Aber an die Flasche Armagnac habe ich mich dann nicht mehr herangetraut. Einzig, als ich meinen Laden eröffnet hatte, habe ich das bisher einzige Glas davon getrunken. Danach habe ich die Pulle immer nur angeschaut, wenn ich gar nicht mehr weiterwusste. Und als ich im Eimer war, habe ich mir geschworen, ich trinke erst wieder einen Schluck daraus, wenn ... tja wenn. Wenn was? Keine Ahnung, aber mit dir würde ich sehr gerne ein Glas davon trinken – auf Holger vielleicht?!«